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Erste Male in Vietnam

Von Komfortzonen und Kakerlaken
| Amelie Haupt |

Geschätzte Lesezeit: 5 Minuten

Amelie Haupt

Als ich meinen Freunden verkündet habe, dass ich nach meinem Semester in Istanbul kurzerhand nach Vietnam wechsle, um dort ein Praktikum zu machen, habe ich nicht so ganz die Reaktionen bekommen, die ich erwartet habe. “Boah, da hätte ich ja irgendwie kein Bock drauf”. „Hä?“, dachte ich mir, „wie kann man denn bitte keinen Bock darauf haben für ein paar Wochen in einem fernen Land zu leben, in dem man noch nie war?“

Das hat mich zu der Frage gebracht, was ich eigentlich am Reisen so toll finde. Und damit meine ich nicht so etwas wie die atemberaubenden Landschaften oder die coolen Parties, sondern ganz runter gebrochen auf den kleinsten gemeinsamen Nenner, der meine Freude daran ausmacht.
Dieser kleinste gemeinsame Nenner ist etwas ganz simples: Neugierde. Ich bin neugierig auf Erfahrungen, die ich noch nicht gemacht habe. In den vier Wochen, die ich in Vietnam bin, habe ich sehr viele „Erste Male“ erlebt. Ich sage nicht, dass diese neuen Erfahrungen immer gut sind – auf gar keinen Fall (siehe Nr. 4 und Nr. 8) – aber neben den ersten Malen, die einfach nur schön sind, gibt es eben auch jede Menge erste Male, die einen eine gute Lehre sind und mich auf die eine oder andere Weise bereichern.

1. Roller fahren – Beste Erfahrung bisher! Ich liebe es einfach, dass ich zu jeder Zeit fahren kann, wohin ich will. Ich war in meiner Fortbewegung noch nie so unabhängig! Auch wenn die erste Rollerfahrt etwas gruselig war und ich während der Rushhour immer noch regelmäßig einen Herzaussetzer bekomme. Tatsächlich habe ich mich seit meiner schrecklichen Fahrschulstunden als schlechte Autofahrerin eingeschätzt. Aber jetzt wo ich Hanois Verkehrswahnsinn gemeistert habe, erscheinen mir deutsche Straßen wie ein Kinderspiel.

2. Angetrunken Roller fahren – Keine Sorge, war nur ein Bier, aber in Deutschland würde ich das niemals machen! Bin schließlich noch in der Probezeit ;)

3. Ein Praktikum machen – Wenn man das Schülerpraktikum in der 9. Klasse mal nicht zählt, ist es das erste Praktikum, das ich absolviere. Junge, junge.. Wie viel ich hier schon gelernt habe über die mir fremde Arbeitskultur und einen miesen Chef. Dazu wird es am Ende sicherlich noch einen eigenen Artikel geben!

4. Eine Kakerlake töten – Ekligste Viecher überhaupt. Dennoch bin ich immer wieder im Zwiespalt, wenn eine Schabe durch das Badezimmer krabbelt: Das arme Ding hat mir nichts getan und vermutlich finde ich es nur eklig, weil amerikanische Filme mich darauf klassisch konditioniert haben. Dann siegt jedoch die Vorsicht und ich möchte keine Krankheiten riskieren oder das Ding in meinem Bett wieder finden.

5. Nicht allein sein – Ich mache das Praktikum zusammen mit einer Kommilitonin aus Köln. Wir teilen uns eine kleine Wohnung und sind auch sonst 24/7 zusammen unterwegs. Ich hatte noch nicht mal eine Beziehung in der ich so viel Zeit mit jemandem verbracht habe! Und auch sonst mache ich vieles allein. Aber zu meiner Überraschung klappte das bisher sehr gut. Obwohl oder vielleicht gerade weil wir so unterschiedlich sind.

6. Einen Spieleabend veranstalten – Gesellschaftsspiele haben sich für mich als ideales Mittel herausgestellt, um Leute kennen lernen: Spiele machen es viel leichter in Kontakt mit Menschen zu kommen. Mit einem Spiel in der Mitte lacht man zusammen und lernt sich langsam kennen. Das macht es leichter vom immer gleichem Small Talk Skript abzuweichen. Plus: Wenn die Leute doof sind (was selten passiert), kann man immer noch Spass an den Spielen haben.
Daher war ich erschüttert als ich keinen Spieleabend in Hanoi fand! Nicht in Facebook, nicht auf Couchsurfing, nicht bei MeetUp. Da habe ich mich kurzerhand entschlossen, zusammen mit der Gruppe Girls Gone International meinen ersten eigenen Spieleabend zu veranstalten!

7. Einem vietnamesischem Ahnenritual beiwohnen – Verschiedene Quellen sind sich nicht so recht einig, was für eine Religion in Vietnam vorherrscht oder ob nicht die Mehrheit Atheisten sind. Allerdings ist es am ersten Tag des Monats und am 15. Tag des Mondkalenders üblich ein Ritual der Ahnenverehrung durchzuführen. Wer meinen “Liebesgrüße aus Hanoi” Artikel gelesen hat, erinnert sich vielleicht noch an das Huhn. Das Huhn, also ein neues Huhn, spielte auch diesmal wieder eine Rolle. Dem Ritual zu Folge soll man seinen Vorfahren danken und Ihnen ein gutes Leben in der Nachwelt sichern. Dazu verbrennt man Spielgeld in einem Ofen und schmückt den Ahnenaltar mit Opfergaben. Diese Gaben bestehen häufig aus Früchten und eben gekochten Tieren. Zusätzlich werden noch Weihrauchstäbchen angezündet, deren Duft den Verstorbenen Ruhe und Frieden bringen soll. Anschließend haben wir zusammen im Büro das Huhn und die Früchte gegessen.

8. Einen Karaokeabend mitmachen – Auszug aus meinem Reisetagebuch:

“Was in Deutschland der Kneipenabend ist, ist in Vietnam der Karaokeabend. Die nette Einladung der Kollegen zum feierabendlichen Treffen in der Karaokebar stellte sich jedoch als mein persönliches kulturelles Armageddon heraus. Wir betreten gemeinsam das übermodern gestaltete Gebäude und auf der Stahltür vor uns steht im kantigen Schriftzug das Wort “enter”. Kein Befehl, wie ich später feststelle, sondern der Name der “Bar”. Statt einer Bar mit Stühlen, Theke und anderen Menschen, betreten wir einen Raum, der nur von grellen Diskolichtern in schummriges Flackern getaucht wird. Der Raum ist an drei Seiten mit einer schwarzen Sitzlounge verkleidet, an der vierten Seite ist eine Kinoleinwand angebracht, die von einem Beamer angestrahlt wird. Aber nicht nur die Netzhaut wird vom irritierendem Geflimmer im tiefschwarzem Raum gereizt, vielmehr noch leiden die Ohren, die mit einem ohrenbetäubenden Geplärre aus den Lautsprechern umgehend jegliche Hörfähigkeit für alle anderen Geräusche im Umfeld verlieren. Mit zwei völlig überforderten Sinnesorganen lasse ich mich auf das Sofa fallen.Sofort schnappt sich jemand das Mikrofon und singt die projizierten Liedtexte auf der Leinwand nach. Nach wenigen Zeilen schreit er etwas in das Mikrofon, die Rückkopplung fiept unerträglich in meinen Ohren und das Lied auf der Leinwand wechselt. “Welch Hexerei?!”, denke ich mir und Frage mich wie das unwissende Kind vom Lande, ob nun das Mikrofon mit einer Sprachfunktion ausgestattet ist oder ob jemand von einer Art Schaltzentrale uns beobachtet, um die gewünschten Lieder umgehend zu servieren. Nach einer halben Stunde flüchte ich. “Nie wieder!”, denke ich mir.”

Manche dieser ersten Erfahrungen bringen eine hohe Hemmschwelle mit sich (Kakerlaken töten gibt mir auch jetzt immer noch Schweißausbrüche), andere sind einfach nur erstaunlich. Aber wann immer ich davor zurückscheue etwas zu wagen oder noch nicht so ganz überzeugt bin, denke ich an einen Spruch, der mich in den letzten Jahren geprägt hat. “Life begins at the end of your comfort zone”. Spring raus aus deiner bequemen Alltagswelt und erweitere deinen Horizont!


Quelle: https://vietmok.de/interkulturelle-kommunikation-die-rolle-der-ahnenverehrung-im-vietnam-des-21-jahrhunderts/

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