„Im Menschen muss alles herrlich sein“: Wenn die Welt vor den eigenen Augen zusammenfällt
Wie findet man Halt in einer Welt, die vor den eigenen Augen zusammenfällt? Mit bildlicher und metaphernreicher Sprache erweckt die aus Russland stammende Autor*in Sasha Marianna Salzmann ihren neuen Roman „Im Menschen muss alles herrlich sein“ zum Leben. Die für den Buchpreis 2021 nominierte Geschichte nimmt die Leser*innen mit in eine Welt voller Schmerz, Hoffnung und einer zerrissenen Familie, indem sie die Schicksale vier junger Frauen porträtiert.
Geschätzte Lesezeit: 3 Minuten
„Natürlich wollte ich wissen, was passiert ist. Was überhaupt passiert ist, bevor Edi im Hof zusammengeschlagen wurde. Sie lag auf der Wiese, ihre Haare ganz bleich und schmutzig. Meine Mutter kniete neben ihr, Tante Lena brüllte die beiden zusammen. Alle drei gestikulierten, als vertrieben sie Geister. Als sie mich sahen, fingen sie an zu weinen, eine nach der anderen, wie eine Matroschka: aus den Tränen der einen wurden die Tränen der Nächsten und so weiter. Zuerst legte meine Mutter los, dann stimmten die anderen mit ein, ein Kanon an Jammerlauten, ich konnte das, was sie von sich gaben, überhaupt nicht auseinanderhalten.“
Sasha Marianna Salzmann: Im Menschen muss alles herrlich sein (2021)
Lena und Tatjana wachsen beide in der Ukraine während des Zerfalls der Sowjetunion auf. Dort erfahren sie nicht nur Korruption und Kriminalität, sondern auch, wie es ist, von den Männern in ihrem Leben im Stich gelassen zu werden. Beide versuchen, sich in der Stadt Jena ein neues Leben aufzubauen, wo auch (der Roman springt ab der Hälfte in das Jahr 2015) ihre Töchter Nina und Edi, aufwachsen. Edi will sich in Berlin als Journalistin einen Namen machen, während Nina, die unter dem Asperger-Syndrom leidet, Schwierigkeiten hat, beruflich Fuß zu fassen. Das Einzige, was die beiden miteinander verbindet, ist, dass sie von ihrer Familie nichts wissen wollen. In das, was die Mütter von Nina und Edi erlebt haben, werden sie sich niemals hineinversetzen können, was im Roman durch das Bild von Pirosmanis Giraffe ausgedrückt wird. So wie der Maler nur eine Vorstellung von einer Giraffe hatte, so haben die Töchter auch nur ein Bild, wie das Leben der Mütter gewesen sein könnte.
Die Nähe zu den Charakteren
Erzählt wird aus der Innenperspektive der Frauen, sodass man sich den Charakteren nahe fühlt – hineinversetzt in eine kalte, triste Zeit, die besonders bei Lenas Geschichte eine unglaubliche Bitterkeit mit sich trägt. Trotz Medizinstudium kann sie ihre schwerkranke Mutter nicht retten und auch den Beruf als Ärztin muss sie in Deutschland aufgeben. Tatjana hatte ebenfalls kein einfaches Leben. Als junge Frau wurde sie nicht nur Zeugin einer Schießerei, sondern auch hochschwanger von ihrem Freund verlassen.
„Die Tränen kamen Lena so unvermittelt, dass sie keine Zeit hatte, sie hinunterzuschlucken, also senkte sie den Kopf, schüttelte ihn ein paar Mal, befahl sich, sofort damit aufzuhören, ihr Gesicht brannte. Sie hätte in diesem Augenblick alles dafür gegeben, wenn ihre Mutter ihr mit eiserner Stimme befohlen hätte, sofort Ärztin zu werden, ein Mittel gegen ihre Erkrankung zu finden, eine große sozialistische Wissenschaftlerin zu werden, der Stolz der ganzen Familie, wenn sie so streng und unerbittlich gewesen wäre wie früher.“
Sasha Marianna Salzmann: Im Menschen muss alles herrlich sein (2021)
Die Familie als Kernthema
Familie: Das ist das Kernelement des Romans und das, was alle Charaktere miteinander verbindet. Familie und der scheiternde Versuch, mit dieser ein Band aufrechtzuerhalten. Die schwierige Mutter-Tochter Beziehung wird bereits bei Lena und ihrer Mutter deutlich und auch bei ihrem schweigsamen Vater, der lieber im Wald Pilze sammeln geht, als sich für das Leben seiner Tochter zu interessieren. Durch ihr Gespür fürs Detail liest sich Salzmanns Roman stellenweise wie Filmszenen, sodass man direkt in die Geschichte eingesogen wird. Eine Erzählung im ständigen Wechsel von Szene zu Szene: So hält Salzmann ihre Geschichte am Leben. Die Autorin gibt jeder ihrer Charaktere eine eigene Stimme, sodass sie unverwechselbar werden. So kontrastiert sich Lenas poetischer Erzählstil von der forschen, jugendlichen Stimme ihrer Tochter Edi, bei der man sich im Jetzt wiederfindet. Salzmanns lebendiger Erzählstil macht süchtig und Lust aufs Weiterlesen – detailliert schildert sie die Sinneswahrnehmungen ihrer Charaktere, wenn beispielsweise Lena beschreibt, dass sie sich fühle, als „hätte man sie mit heißem Öl übergossen“ oder die „Dunkelheit [ihr] rau auf der Haut [rieb]“.
Fazit
Eines ist der Autorin besonders gelungen: die Zeit, in der sich die Erzählenden befinden, noch stärker nachzuempfinden. Im Menschen muss alles herrlich sein erzählt nicht nur von dem verzweifelten Versuch, ein Familienband aufrechtzuerhalten, sondern auch der ständigen Suche nach der eigenen Identität. Themen, die in unserer Zeit nicht aktueller sein könnten und damit den Roman zu einem gelungenen Werk der Gegenwart machen.
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Laura Klöppinger
… liebt die englische Sprache und Kultur, weshalb sie sich auch für das Anglistik (und Germanistik) Studium entschieden hat. Wenn sie nicht gerade liest oder Musik macht, diskutiert sie gerne über Doctor Who oder die neusten Indie-Rock Alben.
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