1000 Jahre jüdische Geschichte in einer ägyptischen Abstellkammer
Der Fund von mehr als 350.000 Schriftfragmenten in der Ben-Ezra-Synagoge in Kairo um das Jahr 1900 rückte das jüdische Leben […]
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Der Fund von mehr als 350.000 Schriftfragmenten in der Ben-Ezra-Synagoge in Kairo um das Jahr 1900 rückte das jüdische Leben im islamisch geprägten Raum in ein neues Licht und revolutionierte den Forschungsstand zu dem Thema. Der Großteil dieser Schriften befindet sich heute in der Bibliothek der Universität Cambridge.
Solomon Schechter, Dozent für Talmud-Studien an der Universität Cambridge, staunte im Jahr 1896 nicht schlecht über das, was die beiden Damen aus Schottland ihm da vorlegten: zwei mit hebräischen Buchstaben beschriebene Fragmente, das eine aus Pergament, das andere aus Papier. Wie Schechter schnell erkannte, handelte es sich bei den Pergamentblättern um eine Handschrift aus dem palästinischen Talmud. Die Papierfragmente waren im 11. oder 12. Jahrhundert n. Chr. entstanden und entpuppten sich als Ausschnitt aus einer hebräischen Abschrift der Weisheitsschrift von Jesus Sirach. Die Entdeckung war nicht nur wegen ihres Alters so aufregend, sondern auch, weil der hebräische Urtext als verschollen galt – bekannt waren bis dahin nur griechische, lateinische und aramäische Übersetzungen.
Die Fragmente hatten die beiden Frauen, die Zwillingsschwestern Agnes Smith Lewis und Margaret Dunlop Gibson, während einer Reise durch das damals britisch besetzte Ägypten erworben. Sie stammten aus der Geniza der Ben-Ezra-Synagoge in Kairo, dem Aufbewahrungsort für aussortierte Schriftstücke einer Synagoge. Jüdische Religionsgesetze schreiben vor, dass jeder Gegenstand, der einen Gottesnamen oder etwas Vergleichbares trägt, aufbewahrt werden muss, um ihn vor Vernichtung, Schändung oder Entweihung zu schützen. Dazu wird ein Extraraum in der Synagoge eingerichtet, manchmal wird auch der Dachboden verwendet. Trotzdem sollte man eine Geniza nicht mit einem Archiv verwechseln: Ist der Stauraum einer Geniza erschöpft, begräbt man ihren Inhalt auf dem Friedhof der Synagogengemeinde.
Aus bislang unbekannten Gründen wurde die Kairoer Geniza, ein fensterloser Raum, der sich über zwei Stockwerke erstreckte und nur mithilfe einer Leiter durch ein kleines Loch zu erreichen, jedoch nie geleert. Sie blieb auch verschont, als die baufällig gewordene Ben-Ezra-Synagoge 1889 abgerissen und in den folgenden drei Jahren wieder aufgebaut wurde. Zur Freude von Historikern konnten sich auf diese Weise über ein Jahrtausend lang Gegenstände und Schriftstücke in einem enormen Ausmaß ansammeln. Im Grunde genommen enthielt die Geniza damit fast alles seit dem Bau der Synagoge um 800 n. Chr. in der antiken Stadt Fusṭāṭ durch aus Palästina emigrierte Juden. Durch die Gründung der heutigen Millionenstadt Kairo im Jahr 969 n. Chr. wurde Fusṭāṭ als Handels- und Verwaltungszentrum abgelöst. Die Synagoge mit Geniza musste bereits zwei Jahrhunderte nach ihrer Errichtung wieder aufgebaut werden, da im Jahr 1012 n. Chr. auf Anordnung des muslimischen Herrschers al-Ḥākim aus der Dynastie der Fatimiden sämtliche Synagogen und Kirchen der Stadt zerstört worden waren.
Die Erforschung der Geniza von Kairo durch Solomon Schechter
Die Begegnung mit den beiden Schwestern hatte Solomon Schechter ungemein motiviert, wenige Monate später selbst nach Kairo aufzubrechen. Finanziell unterstützt von Charles Taylor, dem damaligen Direktor des St. John’s College in Cambridge, reiste er im Dezember 1896 los. Dort durfte Schechter den noch vorhandenen Inhalt der Geniza nach eigenem Ermessen untersuchen und so viel Material für die Überführung in die Cambridger Universitätsbibliothek vorbereiten, wie er wollte. Er gelangte gerade noch rechtzeitig nach Kairo, denn es hatte sich bereits ein wachsender Verkauf von Fragmenten aus der Kairoer Geniza an Händler und ausländische Privatsammler sowie an namhafte Universitäten in Europa und den Vereinigten Staaten entwickelt.
Spätere Rekonstruktionen ergaben, dass sich bis Mitte des 19. Jahrhunderts mehr als 350.000 Objekte in der Geniza der Kairoer Synagoge angesammelt haben mussten. Neben überwiegend religiösen Texten tauchten auch profane Dokumente auf: geschäftliche und private Briefe, Handels- oder Kaufverträge, Rechnungen, gerichtliche Protokolle oder Seefrachtbriefe – 12.000 bis 18.000 an der Zahl. Letztere sind gerade deshalb für die Forschung so wertvoll, weil sie tiefe Einblicke in die Sozial- und Kulturgeschichte jüdischer Gemeinschaften erlauben, die jahrhundertelang in islamisch geprägten Ländern neben der einheimischen Bevölkerung lebten. Zugleich sind sie auch eine bedeutsame Informationsquelle zur Erforschung islamischer Zivilisationen.
Einblicke in ein komplexes Handelssystem
Die Geschäftsbriefe, die von überall her ihren Weg in die Geniza der Ben-Ezra-Synagoge fanden, machten es Wissenschaftlern möglich, den damaligen internationalen Handel im Mittelmeerraum und nach Indien zu verstehen und die Komplexität und Vernetzung dieser frühen Handelsbeziehungen weit vor der heutigen Globalisierung nachzuvollziehen. Verfasst sind die meisten geschäftlichen Schriftstücke auf Judäo-Arabisch, einer Sprache, die die arabisch-jüdische Gemeinde von Fusṭāṭ für ihre tägliche Verständigung verwendete. Niedergeschrieben wurde sie mit dem hebräischen Alphabet anstelle des arabischen. Für Geschäftsbriefe und Handelsverträge beispielsweise war es Vorschrift, sie in zweifacher Ausführung anzufertigen: auf Arabisch für offizielle Zwecke und auf Judäo-Arabisch, da nur wenige nicht jüdische Kaufleute des hebräischen Alphabets mächtig waren. Schriften religiösen Charakters oder Schreiben, die nur das Leben innerhalb der jüdischen Gemeinde betrafen, wurden meist auf Hebräisch verfasst.
Shlomo Dov Goitein, Erforscher früher Handelsbeziehungen
Eine weitere herausragende Persönlichkeit, die neben Solomon Schechter maßgeblich zur Erforschung des Kairoer Geniza-Inhalts beitrug, war Shlomo Dov Goitein. Er gilt über seinen Tod im Jahr 1985 hinaus noch immer als bedeutendste Autorität auf dem Gebiet der Judäo-Arabistik und deckte in jahrzehntelanger Forschung das System der Ṣuḥba auf. Ṣuḥba, arabisch für Freundschaft oder Kameradschaft, steht für eine informelle geschäftliche Zusammenarbeit zwischen Kaufleuten. Diese Partnerschaften, deren Grundlage in erster Linie Vertrauen war, konnten ein Leben lang oder sogar über mehrere Generationen bestehen. Ein Verbund innerhalb der Ṣuḥba konnte nur zwischen zwei Vertragspartnern abgeschlossen werden und auch erst, nachdem sich diese persönlich kennengelernt hatten. Ziel der Kooperation waren wechselseitige Dienstleistungen zu beiderseitigem Nutzen, etwa eine Fracht an Bord eines Schiffes zu beaufsichtigen oder Geld bzw. Briefe zu überbringen.
Jede Seite investierte also viel Zeit und Mühe in der Erwartung, dass sich das Gegenüber bei nächster Gelegenheit revanchieren würde – ohne dass ein gültiger Vertrag aufgesetzt wurde, Dienste entlohnt wurden oder die eigene Selbstständigkeit aufgegeben werden musste. Aufträge waren lediglich in schriftlicher Form an den Partner zu übergeben, mündliche Absprachen über die Zusammenarbeit wurden in der Regel durch andere Händler bezeugt. Das dafür nötige Maß an Vertrauen und Ehrlichkeit zwischen beiden Parteien trug entscheidend dazu bei, dass der Ṣuḥba-Kreislauf über lange Zeit hinweg Bestand hatte. Kam es zu Streitigkeiten, weil etwa ein Vertragspartner sein Vertrauen missbraucht sah, konnte ein jüdisches oder islamisches Gericht eingeschaltet werden. Neben der Ṣuḥba bestanden weitere Handelssysteme, die allerdings auf formeller Ebene per Vertrag geregelt wurden.
Cambridge als Zentrum der Erforschung der Kairoer Geniza – damals und heute
Die Schriftstücke, die Solomon Schechter aus der Geniza aus Kairo mitbrachte, schenkte er 1898 der Universität Cambridge, die später die Taylor-Schechter Cairo Genizah Collection gründete. Die Universitätsbibliothek von Cambridge ist mit etwa 225.000 Einzelfragmenten mittelalterlicher jüdischer Handschriften aus der Kairoer Geniza heute die weltweit größte und zugleich bedeutsamste Sammlung ihresgleichen und noch immer magischer Anziehungspunkt für Wissenschaftler aus aller Welt. Interessierten Privatpersonen steht die Sammlung ebenfalls offen: Gruppen bis zu sechs Personen können die Taylor-Schechter Genizah Research Unit jeweils am ersten Werktag im Monat besuchen.
Weitere Informationen unter: www.lib.cam.ac.uk/collections/departments/taylor-schechter-genizah-research-unit/how-can-i-visit-collection.
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Ruth Schmedes
Ich studiere Arabistik, Islamwissenschaft und Judaistik an der Universität Münster. In Ostfriesland aufgewachsen, hat es mich später in die jordanische Hauptstadt Amman und nach Leipzig verschlagen. Inzwischen lebe ich seit September 2018 in Münster. Meistens bin ich beim Durchstöbern von Secondhandläden, im Kino oder irgendwo bei einer Tasse Tee anzutreffen.
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Tags: ägyptenArchäologieCambridgeGeschichteHandschriftIslamJudejudentumjüdischKairoMittelalterSynagoge