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“Mach den Ja-Sager” – Im Interview mit Urs Ingolf Werner

Hast du Angst davor eine falsche Entscheidung zu treffen, was du nach dem Abitur machst? Keine Angst! Es gibt keine falschen Entscheidungen!
| Amelie Haupt |

Geschätzte Lesezeit: 9 Minuten

Urs Werner

„Wie treffe ich nur die richtige Entscheidung?“, hast du dich vielleicht schon mal gefragt, wenn du darüber nachdenkst, was du nach dem Abitur machen sollst. Du und viele andere junge Menschen haben Angst, eine falsche Entscheidung für ihr zukünftiges Leben zu treffen und unglücklich zu werden. Über diese Angst habe ich mit Urs Ingolf Werner gesprochen, dessen Lebenslauf einem Flickenteppich gleicht, wie er selbst sagt. Mit 36 Jahren hat er sich entschieden, seinen Beruf als Grafiker aufzugeben und eine Umschulung zum Steuerfachangestellten zu machen. Warum ihn das glücklich macht, erfahrt ihr im Interview.

Warum hast du dich dazu entschieden mit 36 Jahren eine Umschulung zum Steuerfachangestellten, einem komplett anderen Beruf, zu machen?

Für mich war klar, ich will nicht mehr zurück in den alten Beruf als Grafiker. Ich kann nicht mehr als Grafiker arbeiten, weil ich einfach nicht mehr kreativ bin und nicht mehr effizient arbeiten kann. Mein Sachbearbeiter schlug mir vor, dass es eine einzelbetriebliche Umschulung gibt. Ich habe bei diesem Begriff erstmal an eine Fortbildung oder Weiterbildung gedacht, das ist es aber nicht, sondern es ist eine Ausbildung unter bestimmten Voraussetzungen, die staatlich finanziert wird. Dazu mache ich jetzt erst einmal einen Vorbereitungskurs. Einen Platz in einer Steuerkanzlei habe ich schon und zum 1. August geht es los.

Was macht man in diesem Vorbereitungskurs?

In diesen Kurs sitzen ganz unterschiedliche Menschen aus allen Ecken des Lebens und die muss man alle erstmal wieder auf ein Niveau holen. Wenn du 42 bist, dann bist du ganz lange schon aus dem Schulleben raus und musst erst wieder alles neu lernen. Wenn du Defizite in Deutsch oder Mathe hast, dann musst du das wieder auffrischen. Ich bin da gerade unterfordert, aber nicht unglücklich – ich nehme die Geschichten der anderen mit. Diesen sozialen Aspekt finde ich ganz großartig, zu sehen, wie sich die Leute bemühen. Man kriegt auch einen ganz anderen Blick auf unser Bildungssystem und fragt sich, ob das alles so richtig ist: Ob zum Beispiel jemand aus Köln-Chorweiler die gleichen Bildungschancen hat, wie jemand aus dem Stadtteil Sülz.

Wie fühlt es sich an, mit Mitte 30 noch mal einen komplett neuen Beruf zu erlernen?

Um die Frage zu beantworten, muss man erstmal noch fragen, wie es sich kurz vorher angefühlt hat, also bevor die Entscheidung kam. Die Ausgangssituation war eine sehr starke Unzufriedenheit, das Gefühl festgefahren zu sein. Ich bin nun 36 und unsere Generation geht vermutlich ja erst mit 70 in Rente und da dachte ich mir: „Noch mal über 30 Jahre Grafikdesign? Ne, da dreh ich durch. Das kann ich nicht.“ Ich habe jetzt knapp 10 Jahre in diesem Job hinter mir und brauchte einen Perspektivwechsel.

Und wie fühlt es sich jetzt an? Ich habe eine Perspektive und das fühlt sich wahnsinnig gut an. Perspektive schmeckt so extremst gut. Ich persönlich fühle mich auch nicht schlecht oder minderwertig, dass ich jetzt nach 10 Jahren den Wechsel suche. Ganz im Gegenteil: Ich bin ein bisschen stolz auf mich, dass ich den Mut dazu hatte. Ich möchte nicht einer dieser Menschen sein, der mit 50 immer noch im gleichen Beruf sitzt und schon seit 15 Jahren total unglücklich ist. Das ist für mich keine gültige Option.

Finanziell ist es natürlich ein Rückschritt, nun zwei Jahre von Hartz 4 zu leben und staatlich finanziert zu werden. Ich persönlich komme damit klar, weil die Perspektive so gut schmeckt. Auf der persönlichen Ebene habe ich gemerkt, dass ich mehr lache, ich bin ausgeglichener und fröhlicher. Ich freue mich wie Bolle, wieder die Schulbank zu drücken und zu lernen. Das hat viel damit zu tun, dass es mir gerade einfach gut geht. Deswegen kann ich jetzt im Vorfeld schon sagen, dass es die richtige Entscheidung ist. Aber frag mich nochmal in ein oder zwei Jahren. (lacht)

Wenn du heute zur Schule gehen würdest, was würdest du nach dem Abitur machen?

Ich würde gar kein Abi machen. Ich habe schon in der 10. Klasse zu meinen Eltern gesagt: „Lasst mich bitte abgehen.“ Ich hätte damals gerne eine Ausbildung gemacht, etwas mit Praxisbezug. Aber meine Eltern wollten, dass ich einmal für ein Studium befähigt bin. Deswegen haben sie darauf gepocht, dass ich weiter zum Gymnasium gehe.

Welchen Tipp kannst du Schüler und Schülerinnen geben, die noch nicht wissen, was sie nach ihrem Abitur machen sollen?

Wenn ich eine Empfehlung für jemand anderes aussprechen soll, sage ich: Nimm dir als erstes die Zeit um zu arbeiten und verdiene ein bisschen eigenes Geld. So altbacken das klingt: Das ist so förderlich für die Orientierung und die Persönlichkeitsentwicklung, einfach mal eigenes Geld verdient zu haben. Entweder nimmst du das Geld und ziehst von zu Hause aus oder du nimmst das Geld und reist. Das wäre meine zweite Empfehlung: Schau dir mal ein bisschen die Welt an. Schnupper mal in andere Ecken des Lebens. Mach das ein, zwei oder drei Jahre und ich verspreche dir, du wirst mit ganz anderen Augen studieren gehen. Dann bist du immer noch erst 22 oder so und jung genug, um zu studieren. Ich habe eine ganze Reihe Freunde, die gereist sind. Egal ob 3 Monate, 6 Monate oder 12 Monate. Nicht ein einziger, wirklich ausnahmslos nicht ein einziger, hat das bereut. Jeder ist zurückgekommen, reifer, erwachsener und ein kleines Stückchen glücklicher.

Die Meisten aus meinem Umfeld sind erst mit 27 bis 30 Jahren in den ersten Beruf gekommen. Das finde ich persönlich zu spät. Geh erst einmal arbeiten und mach dann dein Studium. So nimmst du dein Studium ganz anders wahr und gehst anders in deinen Beruf. Das ist dann nicht das erste Mal, dass du ins Berufsleben kommst, das Büroklima spürst, einen Chef hast oder ein bisschen Leistungsdruck spürst, wie das im Job halt so ist. Ich spreche diese Empfehlung definitiv aus.

(Zu mir) Witzig, dass du das gemacht hast, mit dem Reisen auf jeden Fall. Das finde ich total bewundernswert.

Also, komm nach dem Abi mal aus deiner Komfortzone raus! Mach irgendwas, was du vorher nicht gemacht hast und trau dich was. Gerade auch vor dem Studium. Die Krux ist, dass das Studium auch gerne wieder als Komfortzone genutzt wird, sozusagen als Schule 2.0. Das ist nicht cool, weil du spätestens für dein Berufsleben aus dieser Komfortzone raus musst. Wenn es dann soweit ist, kann das sehr taff und hart werden.

Ich kann auch total verstehen, dass Menschen davor Angst haben. Wir haben alle Angst vor dem Unbekannten. Aber ich glaube, dann ist es gut, sich dieser Angst mal gestellt zu haben, persönlich gewachsen zu sein und eine gewisse Form von Mut entwickelt zu haben. Denn es braucht ja Mut, aus dem eigenen Komfort rauszukommen.

Was möchtest du jungen Schülern und Schülerinnen mit auf den Weg geben, die Angst davor haben, eine falsche Entscheidung zu treffen?

Bullshit. Du kannst keine falschen Entscheidungen treffen. (lacht) Jetzt sind wir in der philosophischen Ecke gelandet. Eine falsche Entscheidung zu treffen heißt ja nichts anderes, als Angst vor einem Fehler zu haben. Aber man muss erstmal begreifen, wie wichtig es ist, sich Raum für die eigenen Fehler zu geben. Das klingt jetzt nach einem Kalenderspruch, aber man wächst eben an den Misserfolgen noch stärker als an den Erfolgen. Zugegeben: Das ist jetzt leicht gesagt von jemandem wie mir, der okay damit ist, schon genug Fehler gemacht zu haben (lacht).

Warum bist du denn okay damit, Fehler zu machen?

Weil ich nicht perfekt sein muss. Weil ich aus der Erfahrung des Fehlermachens gelernt habe, wie wichtig es ist, Fehler zu machen. Aber vielleicht, um das zu begreifen, muss man erstmal ein paar Fehler gemacht haben. Ich finde, das ist gerade ein bisschen wie die Henne und das Ei. Man kann sich da im Kreis drehen (lacht). Also: Mach‘ Fehler!

Was ist denn das Problem daran einen Fehler zu machen? Warum wollen wir keine Fehler machen? Abermals wegen des Erwartungsdrucks von außen, weil wir irgendwem nicht genügen. Manchmal uns selbst, manchmal der Familie, manchmal dem Freundeskreis. Aber das ist doch eigentlich Blödsinn, weil wir ja auch bei unserem Bruder oder unserer Schwester Fehler akzeptieren würden, oder? Aber wenn es um uns geht, können wir das auf einmal nicht mehr.

Wie will man wissen, wie einem ein Studienfach schmeckt, ohne es ausprobiert zu haben? Wenn wir es schon „ausprobieren“ nennen, dann ist es auch voll okay, es nicht durchzuziehen. Kann ja auch in Form eines Praktikums sein oder dass man eine Ausbildung anfängt und schaut, ob es einem gefällt. Das ist schon okay. Ich habe selbst viel ausprobiert, bevor ich meinen eigentlichen Beruf gelernt habe.

Wenn ich mir auch mal die Lebensläufe meiner Freunde anschaue, so unterschiedlich die sind, dann fällt mir auf, dass ich wenig Leute kenne, die von 16 bis 36 durchgerödelt haben und damit glücklich geworden sind. Aber es gibt sie. Es gibt nur ganz wenige von ihnen, aber es gibt sie tatsächlich. Doch die meisten haben eher einen Patchwork-Lebenslauf, einen Flickenteppich an Stationen. Da gibst es doch diesen schönen Spruch: „Sie haben da eine Lücke im Lebenslauf. Ja, war geil.“ (lacht).

Was würdest du empfehlen, wie soll man die Entscheidung treffen, was man nach dem Abi macht?

Würfeln (lacht). Nein, um Gottes willen! Schreiben Sie das bitte nicht auf, Fräulein Haupt. Mhm, was rate ich da? Es ist schwierig, eine allgemeine Antwort darauf zu geben, weil Entscheidungen treffen immer ein individueller Prozess ist. Der Eine muss Würfeln, weil er sonst nicht zu Potte kommt und der Andere macht eine Pro-Contra-Liste.

Ich habe jemanden im Vorbereitunsgkurs, der ist der größte Fan von allem, was mit Fliegerei zu tun hat und hat sich auf einen Kaufmann im Luftverkehrswesen in Berlin beworben, obwohl er Köln liebt und hier seine Familie ist. Der musste sich eine Pro-Contra-Liste aufstellen und ein Wochenende darüber nachdenken, um festzustellen, dass er das doch nicht macht und hier bleibt. Diese Entscheidung wirkte sehr gereift.

Ich kann auch noch empfehlen: Sprich mit Leuten, die dich gut kennen. Es hat mir in den letzten Monaten sehr geholfen, mit meinem Bruder und mit meinen Freunden zu sprechen. Allerdings sind das keine Experten, was Berufsfindung betrifft. Hol‘ dir auch noch einen Experten aus der Berufsberatung. Bei mir war das mein Standortleiter bzw. Rektor des Vorbereitungslehrgangs. Der kennt mich zwar nicht so gut, aber der ist ganz erfahren, was Berufe betrifft. Durch meinen Bruder, den Rektor und meinen Sachbearbeiter habe ich in der Mitte was für mich gefunden.
Auch dieser Weg zum Steuerfachangestelltem war in den letzten Monaten nicht in den Stein gemeißelt. Die Idee ist jetzt ziemlich genau zwei Monate alt. Vorher gab es auch noch andere Ideen.

Wenn du deine Entscheidung triffst und es geht am Ende nur darum, den Mut aufzubringen, dann mach den „Ja-Sager“. Auch wenn du in deinem Kopf ganz viele Gründe findest, die dagegensprechen könnten, dann fass den Mut, verlass deine Komfortzone und probiere es aus. Mach lieber einen Fehler, aber dann bereust du es wenigstens nicht dein Leben lang, es nicht ausprobiert zu haben.

Hast du ein weises Schlusswort?

Gerne. Ich möchte sagen, dass man im Leben alles relativieren sollte. Stelle dir den Moment vor, kurz bevor du ins Gras beißt. Was ist in diesem Moment, wenn du den letzten Atem aushauchst, wirklich wichtig gewesen? Denk darüber nach, welchen Stellenwert ein Studium oder eine Ausbildung oder eine einzelne Station in deinem Lebenslauf hat.

Wenn man das relativiert, dann sieht man, dass das alles gar nicht so groß ist, wie man es macht. Mit dieser Denkweise fällt die Entscheidung gar nicht mehr so schwer. Auch wenn ich mal Bockmist baue an einem Punkt im Leben, dann ist das nicht so schlimm. Ich glaube, was ich durch das ganze Gespräch ausdrücken möchte ist: Hab keine Angst!

Vielen Dank für das Interview und viel Erfolg im neuen Beruf!

Mehr Informationen zu den Möglichkeiten nach dem Abitur gibt es in unserem E-Book „Abi – und dann?„.

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