Gesellschaft und Lifestyle / Reportage
Ohne Flugzeug nach Venedig
Bahnreisen wach verbringen? Nein! Mit ein wenig Mühe haben wir zwei Betten in einem Schlafwagen reserviert. Ein Bericht.
Das Warum
Nach Jahren der Abstinenz ist er endlich in Sicht, der Urlaub. Ins Ausland soll es gehen, eine Großstadt, Kultur, Architektur, Museen! Zum ersten Mal seit Langem stellt sich die Frage: Wie kommen wir da hin? Mit dem Auto? Zu weit. Schon Wien damals war super anstrengend – und teuer (schon zu den früheren Benzinpreisen). Fliegen? In eine andere Stadt innerhalb Europas? Nein, das muss anders gehen. Auch Schusters Rappen und die Leeze scheiden aus offensichtlichen Gründen aus, so viel Zeit haben wir dann doch nicht. Und da Münster nicht über hinreichende Meeresanbindung verfügt, dass man hätte segeln können, entscheiden wir uns für die Bahn.
Doch bei dem Gedanken daran, einen ganzen Tag des schönen Urlaubs in einem Zug zu verbringen, machen sich erste Zweifel breit. So ein Fernzug ist zwar bei Weitem angenehmer als eine 9€-Reise durch die Republik, aber wenn außer uns Urlaubslaunigen nur telefonierende Wichtig-Menschen oder Kinder mit genervten Eltern unterwegs sind, kommen selbst die besten Kopfhörer an ihre Grenzen. Außerdem sitzen wir beim Arbeiten schon genug. Eine andere Lösung muss also her… Am besten, wir schlafen erst mal eine Nacht drüber.
Schlafen! Da gibt es doch was! Nicht aus der Apotheke, sondern von der Bahn. Zugegeben, seit vielen Jahren gehören die Nachtzüge den Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB), weil die Deutsche Bahn lieber wache Menschen transportiert, aber das Streckennetz reicht auch an hiesige Bahnhöfe heran. Gedacht, gehandelt. (Beziehungsweise gegoogelt.) Mit ein wenig Mühe und der Hilfe eines der wenigen Reisebüros in Deutschland, die in der Lage sind, Bahnreisen zu planen und zu buchen, haben wir also zwei Betten in einem Schlafabteil reserviert.
Die Abfahrt
Von Münster aus fährt für uns leider kein Nachtzug, deswegen geht’s erst mal in fünf Stunden mit dem ICE nach Ulm. Ein merkwürdiges Gefühl, gegen 15 Uhr in den Urlaub zu starten. Als Kind mit den Eltern ging es immer zwölf Stunden früher los. Nachts um drei, völlig verklatscht, „weil da die Autobahnen so schön frei sind.“ Und dann fragt man sich die ganze Zeit, ob nicht etwas Wichtiges vergessen wurde, weil man so übereilt losgefahren ist. Heute nicht: Wir haben ausgeschlafen, gefrühstückt, gepackt, zu Mittag gegessen und sind entspannt aufgebrochen.
Ulm, gegen 21 Uhr: Der Nightjet fährt ein. Ein wenig spektakulärer Triebwagen zieht eine lange Schlange von auf den ersten Blick gewöhnlichen Waggons. Doch wer genauer hinsieht, dem wird schnell klar, was es hiermit auf sich hat. Durchs Fenster lassen sich Abteilwagen erkennen, die mit verstellbaren Sitzen, mit Liegen oder sogar mit Stockbetten ausgestattet sind.
Das Schlafabteil – das Beste, was der Nachtzug zu bieten hat – mutet an wie ein Jugendherbergszimmer aus den 90er Jahren. Blauer Teppich, Holzfurnier, beige-grau lackierter Stahl und weiße, gestärkte Laken. Geschlafen wird im Stockbett, oben mit Fangnetz, wie in einem offenen Kombi. Neben den Betten gibt es ein kleines Waschbecken in der Ecke und einen Tisch, den das Zugpersonal oder erfahrenere Fahrgäste in eine Wandhalterung einhängen können. Kein Luxus, aber allemal besser als ein Hotel auf dem Rastplatz oder ein Tag auf dem Sitzplatz im Großraumabteil des ICE. Ganz kurz kommt dann doch noch das Gefühl eines Sternehotels auf, als wir die Hotelpantoffeln auspacken, die es neben Handtüchern, Crackern und einem Bestellzettel fürs Frühstück gibt. Als Dreingabe wartet die Schaffnerin mit dem erfrischend trockenen Humor einer Nachtarbeiterin auf – und auf der Rückfahrt gibts sogar Sekt! Einfach so.
Des Nächtens
Mit einem leichten Ruck fährt der Zug aus dem Bahnhof Ulm heraus und macht sich auf den Weg durch die Alpen, hin zu unserem adriatischen Ziel. Wir selbst machen uns fertig fürs Bett. Denn so gut die Schlafwagen auch fürs Schlafen ausgelegt sein mögen, fürs Sitzen sind sie in dieser Konfiguration denkbar ungeeignet.
Quer zur Fahrtrichtung und mit geschlossenem Sichtschutz wähnen wir uns beinahe in der oben erwähnten Jugendherberge. Wären da nicht das ständige Ruckeln, das Gasgeben und Bremsen des Zuges. Für hartgesottene Pendler*innen oder Überallschlafende mag es auch im Nachtzug für den erholsamen Schlaf reichen, Menschen mit leichtem Schlaf hingegen können sich eher auf langes Liegen im Dunkeln einstellen. Normalschlafende werden hin und wieder aufwachen, besonders, wenn der Zug anfährt oder bremst, oder wenn eine lange Kurve genommen wird.
Für alle aber gilt: Haltet den Ausweis griffbereit, nächtliche Besuche von Zollbeamten sind besonders auf der Strecke von Süd- und Osteuropa nach Deutschland hinein nicht selten. Je schneller man jenen laut klopfenden, einem mit der Taschenlampe ins schlafverquollene Gesicht leuchtenden Uniformierten seinen Pass präsentieren kann, desto schneller lassen sie einen auch wieder in Ruhe.
Der Morgen danach
Egal wie gut der Schlaf war, irgendwann ist er vorbei. Der Schaffner – huch, Personalwechsel in der Nacht – klopft und fragt, ob er das Frühstück bringen darf. Er baut den Tisch auf und stellt Tabletts mit Kaffee, Saft, Brötchen und Co. darauf ab. Die italienische Landschaft rauscht vor dem Fenster vorbei. Wir sind fast da. Zähneputzen (wer auf noch mehr Nervenkitzel steht, könnte sogar im fahrenden Zug duschen), Anziehen, Packen. Noch ein paar Minuten bis zur Endhaltestelle.
Wir fahren in Venedig ein. Nicht ausgeschlafen, aber doch mit genug Energie für einen Tag. Es ist 9 Uhr am Morgen und wir fühlen uns, als hätte uns jemand geweckt und für die Fahrt in den Urlaub ins Auto getragen. Aber wir sind schon da und die Stadt erwacht langsam um uns herum.
Das Fazit
Die Reise mit dem Schlafwagen hat entscheidende Vorteile: Entspannte Reisezeiten, kein Herumärgern mit Gepäckgewicht und -maßen, eine recht positive CO₂-Bilanz gegenüber anderen Reisearten, entspanntes Personal, das Nicht-Selbst-Fahren müssen und vor allem einen gewissen Abenteuerfaktor.
Dafür nehmen Autor und Autorin den Schlafmangel und die optische Verneunzigerung des Umfeldes gern in Kauf. Und was die kleine Zeitreise per Zug angeht, soll es künftig sogar futuristisch oder wenigstens präsentisch zugehen, wenn die neuen Modelle ab dem Jahr 2023 auf die Gleise gelassen werden.
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Ist meist dort zu finden wo die laute Musik für andere klingt wie ein Autounfall. Wirbt Geld für den Guten Zweck ein oder gibt Führungen durch Münsters Ruine Nummer eins. Dazu wird noch getanzt und wenn dann noch Zeit ist, Geschichte und Archäologie studiert.
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Ich mag gutes Essen (wer tut das nicht?) und treibe tatsächlich gerne Sport, obwohl mein Schweinehund da auch noch ein Wörtchen mitzureden hat. Zeitgleich studiere ich Literatur und Medien. Meine Wahlheimat Münster ist für das alles und noch viel mehr zum Glück bestens geeignet, auch wenn ich mir als Rheinländerin hier noch ein paar Berge wünsche.
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