Tatsächlich gelesen: Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen (Selma Lagerlöf)
Der vierzehnjährige Nils Holgersson ist ein unartiger Junge. Eines Tages wird zur Strafe von einem Wichtel auf dessen Größe geschrumpft.
Geschätzte Lesezeit: 4 Minuten
Zum Abschluss unseres diesjährigen Nobelpreisträgerspecials habe ich mir erlaubt, das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden. Ich wollte schon lange meine Schwedischkenntnisse wieder aufpolieren, aber es ist nicht einfach, in Deutschland ein Buch in dieser Sprache aufzutreiben. (Tatsächlich sind Bücher, die bei IKEA im Regal stehen, auf Schwedisch, aber ich wollte auch keine Ausstellungsstücke mitgehen lassen.) Zudem hielt ich es auch nicht für sinnvoll, mit Literatur einzusteigen, die eine große sprachliche Hürde darstellt. Zum Glück gibt es eine schwedische Autorin namens Selma Lagerlöf (1858 – 1940). Sie erhielt 1909 als erste Frau den Nobelpreis für Literatur und schrieb auch Literatur für Kinder, der ich mich nach über zehn Jahren Sprachabstinenz noch gerade so gewachsen sah.
Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson (schwedisch: Nils Holgerssons underbara resa genom sverige) kennen vermutlich viele aus der gleichnamigen Zeichentrickserie. Ursprünglich schrieb Selma Lagerlöf es als Schullektüre, um Kindern die Landschaft und Kultur Schwedens nahezubringen. Aber sie ließ auch ihre Fantasie dabei spielen und erfand eine Rahmenhandlung: Der vierzehnjährige Nils Holgersson ist ein unartiger Junge. Als er eines Tages alleine daheim ist, trifft er auf ein Wichtelmännchen. Als er es in einem Netz fängt, wird er zur Strafe von diesem selbst auf die Größe eines Wichtels geschrumpft. Die Tiere auf dem Hof, denen er viel angetan hat, verspotten ihn und er will seinen Eltern auch nicht so gegenübertreten. Als ein junger Ganter sich einer Schar vorbeiziehender Wildgänse anschließen will, versucht Nils, ihn aufzuhalten, aber er wird von ihm in die Höhe gerissen. So beginnt seine Reise quer durch Schweden, in der er sich einerseits den Respekt der Wildgänse verdienen, wie auch einen Weg finden muss, um seine ursprüngliche Größe wiederzuerlangen.
„Es war einmal ein Junge. Er war ungefähr vierzehn Jahre alt, groß und gut gewachsen und flachshaarig. Viel nutz war er nicht, am liebsten schlief oder aß er, und sein größtes Vergnügen war, irgendetwas anzustellen.
Es war an einem Sonntagmorgen, und die Eltern machten sich fertig, in die Kirche zu gehen. Der Junge saß in Hemdärmeln auf dem Tischrande und dachte, wie günstig das sei, daß Vater und Mutter fortgingen und er ein paar Stunden lang tun könne, was ihm beliebe. „Jetzt kann ich Vaters Flinte herunternehmen und schießen, ohne daß es mir jemand verbietet“, sagte er zu sich.
Aber es war fast, als habe der Vater die Gedanken seines Sohnes erraten, denn als er schon auf der Schwelle stand, um hinauszugehen, hielt er inne und wendete sich zu ihm. „Da du nicht mit Mutter und mir in die Kirche gehen willst“, sagte er, „so sollst du wenigstens daheim die Predigt lesen. Willst du mir das versprechen?“
„Ja“, antwortete der Junge, „das kann ich schon.“ Aber er dachte natürlich, er werde gewiß nicht mehr lesen, als ihm behagte.“
Selma Lagerlöf: Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen, 1906/1907, https://www.gutenberg.org/files/31114/31114-h/31114-h.htm#kap1 [abgerufen am 29.10.2023]
Selma Lagerlöf beherrscht ihr Handwerk sehr gut. Anders als andere „Heimatautoren“ (wie zum Beispiel Karl May) versteht sie es, Land und Leute eindrücklich zu beschreiben, ohne allerdings dabei Seiten mit sterbenslangweiligen Details zu überfluten. Die verschiedenen Regionen Schwedens samt einigen Sehenswürdigkeiten werden stets klug mit den Abenteuern von Nils sowie der zweiten Rahmenhandlung, der Geschichte der Geschwister Åsa und Mats, die ihren Vater suchen, verbunden. Die Abenteuer stellen insbesondere Nils immer wieder vor moralische Dilemmata, die er für sich lösen muss.
Ich habe mich beim Lesen keinen Moment gelangweilt, obwohl der Ton der Autorin durchaus gemütlich ist. Sie wechselt oft genug die Erzählperspektive, sodass man Nils‘ Abenteuer manchmal aus ganz verschiedenen Blickwinkeln erlebt. Dass es zeitgenössische Kritik an ihrer Herangehensweise gab, Informationen auf unterhaltsame Weise an Schüler zu vermitteln, ist heute kaum noch nachzuvollziehen. Die Autorin nimmt zudem ihr Publikum ernst. Die Abenteuer sind nicht schlicht kindlich, aber sie betrachten Herausforderungen der realen Welt, wie beispielsweise der Gefahr durch Tuberkulose, aus den Augen der Kinder. Dabei werden sie aber nicht trivialisiert. Auch die Aufgaben, denen sich Nils teilweise stellen muss, regen zum Nachdenken an.
Einen besonderen Reiz hatte es für mich zudem, die Unterschiede zu der Zeichentrickserie festzustellen. So ist der Fuchs Smirre im Buch kein ewiger Verfolger von Nils und einen Hamster namens Krümel sucht man auch vergeblich.
Es ist ein schönes Buch zum Lesen und Vorlesen, nicht nur für diejenigen, die Schwedisch lernen wollen. Mag es auch ursprünglich ein Buch für Kinder gewesen sein, seinen sprachlichen Zauber, der im Originaltext noch stärker zutage tritt, kann es auch für Erwachsene entfalten und sie mitnehmen auf diese Reise in den Norden. Das zeigt, dass große Autoren ihre Kunst in ganz verschiedenen Genres unter Beweis stellen können. Wenn man zudem noch bedenkt, dass Kinder bekanntlich als die härtesten Kritiker gelten, sagt der anhaltende Erfolg dieses Werks sicher noch mehr aus als der Friedensnobelpreis allein. Klare Leseempfehlung!
Unterstützen
Wenn dir der Beitrag gefallen hat, würden wir uns über eine kleine Spende freuen.
Noch mehr Stories? Folge seitenwaelzer:
Dominik Schiffer
Hat Geschichte und Skandinavistik studiert und ist dennoch weiterhin wahnsinnig neugierig auf Texte aus allen Jahrhunderten. Verbringt außerdem bedenklich viel Zeit in der Küche, vor Filmen/Serien, auf der Yogamatte und mit allerlei „Nerdstuff“.
Im Wandel (Teil 2): Wie die Literatur Frauenbilder widerspiegelt
Im Wandel (Teil 1): Frauenbilder der westlichen Welt
Tatsächlich gelesen: Fünf Freunde oder das Phänomen der Nostalgie (Enid Blyton)
Tatsächlich gelesen: Naokos Lächeln (Haruki Murakami)
Tags: JugendbuchKinderbuchKlassikermagieNils HolgerssonNobelpreisSchuleSchwedenSelma LagerlöfWildgänse