Kultur und Medien / Rezension

Tatsächlich gelesen: Quo vadis (Henryk Sienkiewicz)

Den aufmerksamen Leser*innen wird nicht entgehen, dass diese Ausgabe von "Tatsächlich gelesen" nicht von Dominik verfasst wurde: Ab diesem Artikel tritt Sandra dem Ressort bei. Demnächst werden beide abwechselnd berühmt-berüchtigte Romane und Klassiker aus aller Welt zu rezensieren.
| Sandra Hein |

Geschätzte Lesezeit: 5 Minuten

Spencer Davis | Unsplash

„Sex, drugs and alcohol“ schoss es mir beim Lesen der ersten Kapitel durch den Kopf. Nicht die typischsten drei Wörter, um das Werk eines Nobelpreisträgers der Literatur zu beschreiben. Dennoch: Quo vadis weist bezüglich der Beschreibung des Umgangs der Menschen untereinander große Ähnlichkeit zu heutigen, populären Phänomenen wie Game of Thrones oder Herr der Ringe auf. Insbesondere die Vielzahl an Charakteren und deren perfekt herausgearbeitete persönliche Eigenarten sollten hier genannt werden. Aber natürlich sind in Siekiewicz Werk keineswegs Fantasyelemente wie Drachen und Co. anzutreffen, denn Quo vadis ist, dem Genre nach, eher ein Bildungs- und Historienroman und erschien bereits 1895! Auf der Rückseite meiner Ausgabe als „eines der Hausbücher, die jeder lesen und besitzen sollte“ betitelt, stellt es den wesentlichen Grund der Auszeichnung des polnischen Schriftstellers Henryk Sienkiewicz (1846 – 1916) für den Literaturnobelpreis 1905 dar.

Meine Befürchtung, das Oberthema des Romans, die Entstehung und Verfolgung des Christentums um 60 n. Chr., könne sich – trotz meines Studienfachs Klassische Archäologie – als sehr zäh und trocken zu lesen gestalten, traf bei keiner der 500 Seiten zu. Packend, fesselnd, imposant und sehr menschlich wird das Leben in der auch heute noch als „ewige Stadt“ geltenden Metropole Rom zur Zeit der Regentschaft Kaiser Neros erzählt. Anschaulich und lehrreich erfährt man vom Leben der römischen Stadtbevölkerung. Nicht nur aus historischer, sondern auch aus sozialkritischer Sicht sind die Beschreibungen von Festen und Orgien, römischen Bräuchen und Traditionen, von der Sklavenhaltung, dem gigantischen Handel der Römer in ferne Länder sowie vom gewaltigen römischen Imperium im Generellen höchst interessant.

„Und schon kam von den breiten Stufen des dem Jovi optimo maximo geweihten Tempel ein neuer Menschenstrom daher. Auf der Rosta ließen sich verschiedene Redner hören. Hier und da ertönten Rufe der Händler, die Früchte, Wein oder mit Feigensaft gemischtes Wasser feilboten […], von Wahrsagern, die verborgene Schätze zu entdecken versprachen, und von Traumdeutern. Da und dort hörte man die Töne einer ägyptischen Sistra, einer Sambuke oder einer griechischen Flöte und durch den ohrenbetäubenden Tumult sah man Kranke, Fromme, Betrübte, die Opfergaben nach den Tempeln trugen, indessen Taubenschwärme über die Köpfe der Menge flogen […].“

Henry Sienkiewicz: Quo vadis (1895)

Mit der zentralen Geschichte um die leidenschaftlich-skandalöse Liebe zwischen dem militärisch-römischen Befehlshaber Marcus Vinicius und der Geisel Lygia, germanisch-königlicher Abstammung, werden historische Themen verwoben. Man erfährt viel über die exzessiven, durch Tacitus überlieferten und archäologisch bestätigten Bankette der Reichsten Roms, der Patrizier, sowie der Kaiserfamilie. Da geht es, schlicht gesagt, genau wie bei heutigen Netflixdramen zu: brodelnde Gefühle, Gewalt und Drogen aller Art.

Im Kern der Handlung wandelt sich der zunächst cholerisch-herrische Marcus durch seine Liebe zu Lygia und einhergehendem Kontakt mit der Urchristengemeinde zu einem friedliebenden Philanthropen. Dabei werden subtil tiefgründige Fragen über Glauben im Allgemeinen aufgeworfen.

„[Marcus V. an Petrus und Paulus gewandt]: ‚Ich weiß, wie groß die Hindernisse sind, die uns trennen. […] Ich fühle mich innerlich verwandelt, aber mitunter erfassen mich noch Zweifel. Sagt, was bringt ihr der Welt? Seid ihr Feinde des Lebens? Feinde der Liebe, des Glücks? Muß man Bettler sein, wenn man Christ sein will?‘
‚Wir bringen das Licht und die Liebe‘, erwiderte Petrus.“

Henry Sienkiewicz: Quo vadis (1895)

Historische Persönlichkeiten wie Kaiser Nero, seine Ehefrau Poppaea Sabina, der Präfekt Tigellinus, Kanzler Petronius oder die Adoptiveltern Lygias, der General Aulus Plautius und dessen Ehefrau Pomponia Graecina, werden entweder zu Gegnern*innen des Paares oder überraschenden Gefährten*innen und Verbündeten.

„Das dumpfe, heisere und immer schmerzlicher tönende Gebrüll des Stieres vermischte sich mit dem pfeifenden Atem des Riesen. […] Noch einen Augenblick und an die Ohren der näher sitzenden Zuschauer drang es wie Brechen von Knochen. […] Da verwandelte sich das Amphitheater in ein stürmisches Meer: Die Wände erzitterten unter dem Geschrei der nach Zehntausenden zählenden Zuschauer, seit Beginn der Vorstellung [Anmerkung der Autorin: der Folter der Christen im Kolosseum] war eine solche Begeisterung noch nicht da gewesen.“

Henry Sienkiewicz: Quo vadis (1895)

Der titelgebende Ausspruch „Quo vadis, domine“, zu deutsch „Wohin gehst du, Herr?“, entstammt der Legende nach dem Apostel Petrus, welcher bei seiner Flucht vor der Christenverfolgung in Rom Jesus begegnet und ihn fragt, wohin er gehe. Als er sieht, dass Jesus sich nach Rom wendet, bewegt dies Petrus zur Umkehr und damit zum Märtyrertod. Eine prochristliche Haltung Sienkiewiczs ist im gesamten Buch deutlich herauszulesen.

Wichtig sind mir zwei Anmerkungen: Das Werk ist damals ausgezeichnet worden, weil es unter anderem im Hinblick auf die historischen Fakten gut recherchiert wurde. Aber: Wir lesen hier Schilderungen, die auf dem Stand der archäologisch-geschichtlichen Kenntnisse zu Beginn des 20. Jahrhunderts basieren. Es ist abzuraten, den Roman rein aus geschichtlichem Interesse zu lesen. Insbesondere die Ansichten über die Gestalt Neros als verschwenderischer Tyrann sowie der Mythos um seine aktive Teilhabe am großen Brand von Rom werden heutzutage kontrovers diskutiert. Und auch eine Trigger-Warnung möchte ich aussprechen: In den letzten Buchzügen werden zum Teil extrem brutale Gewaltdarstellung, insbesondere die Hetzjagd auf die Christen und ihre Folter, erläutert.

„Vinicius hatte eroberte Städte gesehen, doch niemals ein Schauspiel gleich diesem Chaos von Verzweiflung, Tränen, Qual, Ächzen, wilder Lust, Tollheit, Raserei und Zügellosigkeit. Über den Häuptern dieser rasenden Menge loderte das Feuer an den Hügeln der größten Stadt des Erdkreises empor, versenkte die Luft und füllte sie mit Rauch an.“

Henry Sienkiewicz: Quo vadis (1895)

Ich schließe hier aber mit einer klaren Leseempfehlung. Natürlich sollte man bei der Wahl dieses Buches großes Interesse an der römischen Lebenswelt im ersten Jahrtausend unserer Zeit mitbringen. Aber wer immer schon mal Zeitreisen ausprobieren wollte… Im Buch wandelt man auf antiken Straßen, deren Spuren auch heute noch topografisch existieren und die theoretisch mithilfe des Buches abgelaufen werden könnten. Kurzum: Bei Quo vadis handelt es sich um einen packenden Historienroman eines Literaturnobelpreisträgers, der trotz seines frühen Erscheinungsdatums in gut verständlichen Worten den großen Brand von Rom nacherzählt.

P.S.: Für die Filmliebhaber*innen unter euch dürfte auch der Monumental-Spielfilm aus dem Jahre 1951 mit Peter Ustinov in der Rolle des Nero interessant sein…

Unterstützen

Wenn dir der Beitrag gefallen hat, würden wir uns über eine kleine Spende freuen.



Noch mehr Stories? Folge seitenwaelzer:

Sandra Hein

Liebt und lebt ihr Studium der Kunstgeschichte und Klassischen Archäologie samt all seinen Klischees. Dazu gehört selbstverständlich Frida Kahlo und Vincent van Gogh als seine besten Freunde zu betrachten und sich in Pompeji ohne Stadtplan problemlos zurechtzufinden ;) Als kleiner Bücherdrache ernährt sie sich hauptsächlich von Abenteuern aus den Jules-Verne-Romanen oder alten schwarz-Weiß-Krimis und möchte als neue olympischen Sportart einen Besuchs-Marathon durch alle europäischen Museen vorschlagen. Sollte der Traumjob Kuratorin nicht in Erfüllung gehen, sieht sie sich als Geist in einem schottischen Castle. Freund*innen munkeln, dass sie wahrscheinlich mehr schwarzen Ostfriesentee als Blut im Körper besitzt…

Dominik Schiffer | seitenwaelzer.de

Tatsächlich gelesen: Die kleine Hexe (Otfried Preußler)

Sandra Hein | seitenwaelzer.de

Tatsächlich gelesen: Paddington Bear (Michael Bond)

Bild zeigt Luca auf der BühneDavid Hinkel

„Wenn ich’s jetzt nicht probiere, dann nie“ – Stand-Up-Comedian Luca Jonjic im Interview

Inga Nelges | seitenwaelzer.de

Vom männlichen und weiblichen Blick – Ein Gang durch die „Nudes“-Ausstellung des LWL-Museums in Münster

Tags:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Wir benutzen Cookies, mit der Nutzung unserer Webseite erklärst du dich damit einverstanden. Hier gibt's weitere Infos.