Kultur und Medien / Rezension

Der Ring des Nibelungen: Dekonstruktion mit Wumms im Schauspielhaus Dortmund

Walhalla brennt und mit ihm das Pantheon elitärer Theaterkultur. Ein loderner Abend zwischen Monolog und Musical im Schauspielhaus Dortmund.
| Alex Schmiedel |

Geschätzte Lesezeit: 5 Minuten

Birgit Hupfeld

Baustein für Baustein abreißen und neumachen lautet die Devise im Ring des Nibelungen am Dortmunder Schauspielhaus | v.l.n.r. Nika Mišković, Sarah Quarshie, Antje Prust, Adi Hrustemović

Ein Meer aus Würfeln breitet sich vor dem Fuß von Walhalla aus. Sie sind bildliche Repräsentation des Stücks an sich: Der Ring des Nibelungen, im Remix von Regisseurin Julia Wissert dekonstruiert. Block für Block, Baustein für Baustein, setzt sich das Bühnenspiel anhand von Monologen einiger Charaktere des alten Stücks zu einem neuen zusammen, das das Herz unserer Zeit trifft.

Es erzählt von Situiertheit, von Nähe und Distanz, Zugängen und Alterisierungen: zwischen Gottheiten untereinander und im Wechselspiel mit Drachen, Riesen und Zwergen. Ein einfacher gelber Würfel wird die Repräsentation absoluter Macht, Hoheit und Entfremdung: dem einen Ring. Das Stück lebt und atmet Machtkritik und das mit einer überraschenden Zusammensetzung von Humor, Weltschmerz und Selbstreferenzialität.

Der eine Ring als Minecraft-Rendition | Alexander Darkow (im Vordergrund), Maika Küster, Adi Hrustemović, Antje Prust | (c) Birgit Hupfeld

Der Reiz aggressiver Konventionslosigkeit

Der Ring des Nibelungen fühlt sich an wie ein Stück im Stück, in dem das Aufgeführte nur eine Einbettung in das Stück unseres Lebens ist. Es bricht mit Konventionen an einem Ort, wo man es nicht erwarten würde und die Darstellenden unterhalten sich mit absoluter Gelassenheit und Witz mit Britta Kalitzki (Soufflage). Das Stück spricht offen über Machtverhältnisse zwischen Bühne und Publikum, zwischen Publikum und Nicht-Publikum, zwischen marginalisierten und privilegierten Gruppen und bemüht sich, diese Dekonstruktion niedrigschwellig und vielseitig durchzuexerzieren: und das mit großartigem Erfolg.

Es baut Identifikationsfiguren ein und adressiert direkt und ohne Scheu. Das Stück ist über einzelne Monologe strukturiert, welche die Nibelungensage als Rahmen verwenden, um andere Geschichten zu erzählen. Sie sind Sprungbretter aus Bauklötzen, um über relationale Verhältnisse von Gesellschaft, Macht und Andersartigmachung zu sprechen. Diese Einfachheit ist merklich das Produkt eines gemeinsamen Kraftaktes und es war beeindruckend zu sehen, wie sich alles zusammenfügt. Selbst Details wie die Verarbeitung der Kostüme verbinden sich zu einem harmonischen Ganzen: Die Charaktere tragen – sofern überhaupt – Kleidung mit riesigen, sichtbaren Nähten, was ein gelungener visueller Verweis auf die Gemachtheit unserer Identitäten und Kulturpraktiken ist und an ihre Fragilität erinnert. Besonderes Highlight sind nicht zuletzt die musikalischen Anteile des Stücks, welche mit großer Strahlkraft wirken und die Perspektivierungen auch emotional unterstreichen.

Bedacht erzählt mit eindrucksvollen Metaphern: Das Stück besticht besonders durch die musikalische Aufarbeitung des Materials. | Maika Küster, Isabelle Pabst (beide im Vordergrund), Sarah Quarshie, Antje Prust, Yotam Schlezinger, Tamer Tahan (im Hintergrund) | (c) Birgit Hupfeld

Wem gehört der eine Ring?

Um mit journalistischen Konventionen vollends zu brechen: Wäre das Bild ein Meme-Template wäre die Beschriftung “Reactionshot von meinem Squad, wie jemand uns den Ring und seine soziopolitischen Implikationen erklärt” | Sarah Quarshie, Tamer Tahan, Alexander Darkow, Maika Küster, Yotam Schlezinger, Isabelle Pabst, Antje Prust, Adi Hrustemović | (c) Birgit Hupfeld

Der antielitäre Ring aus Dortmund macht Spaß, trifft ins Herz und regt zum Nachdenken an: über sich selbst, die eigenen Beziehungen, gesellschaftliche Zusammenhänge, deutsche Geschichte, das Wechselspiel von Exklusion, Inklusion, Bühnenkunst und Politik. Es gab so viele Momente, in denen ich mich wiederfinden konnte. Aufgrund der Situiertheit des Stücks fühlt es sich nur richtig an, diese eigene Position auch als solche zu benennen. Ich war berührt und habe an vielen Stellen gedacht: “Dieser Person X oder dieser Person Y bringt dieses Stück einen echten Mehrwert; ich möchte ihm/ihr/them/+ das unbedingt zeigen.” Denn “den Ring”, wie er verkürzt genannt wird, kennen viele aus meinem Umfeld und meiner Generation: entweder gar nicht, aus Schulkontexten oder als das Meme der Zurschaustellung von Macht und absolutem, deutsch-konservativen Elitarismus. Das klingt dann ungefähr so:

“Der Ring des Nibelungen? Das ist doch diese alte Sage. Gab es dazu nicht mal einen sexistischen RTL-Film aus den 2000ern? Hey, das ist doch dieses ewiglange Stück von Wagner, einer kulturhistorischen Ikone neorechter Strömungen. War der nicht selbst in seinem damaligen historischen Kontext ein ausgeprägter Antisemit? Puh, ich kenne nur die Wagnerfestspiele, das ist doch dieses selbstbeweihräuchernde Elitenevent in Bayreuth, wo Leute noch an eine Idee von Hochkultur (Überkultur?) festhalten.

Kein Stück ohne Kontext

Bei diesem viertägigen Relikt einer anderen Zeit, das als ‘Wagnerfestspiele’ bekannt (Bayreuther Festspiele) ist, handelt es sich übrigens um eine Prestigevorstellung, die mitunter, je nach Stadt und Zimmer/Wohnung, zwischen einer oder mehreren Monatsmieten und mehr als einem Jahr Wohnraum in unserer wunderlichen spätkapitalistischen Realität kostet oder eine Wartezeit von 9 bis 10 Jahren haben. Tickets für die Veranstaltung werden wie Immobilien oder Gegenstände des Kunstmarkts gehandelt: Sie sind Ware im Primärzweck, Verwertbarkeitslogik als Event. So kaufen zum Beispiel Hotels und andere Zwischenverkäufer*innen größere Mengen an Tickets auf, um diese dann zu einem höheren Preis weiterverkaufen zu können. Hast du jemals bayreuth – äh, bereut, nicht für 5130 Euro bei Röhm und Classics Tickets für “Ring I, II”, inklusive Übernachtung und Frühstück, kaufen zu können? Vermutlich nicht. Ich auch nicht.

Eine Ära moderner Ringe

unbekannt Milliardärin und Privatjetfan Taylor Swift auf ihrer Eras-Tour | Disney Plus+ 2024, https://press.disney.co.uk/gallery/taylor-swift-the-eras-tour-taylors-version-logos-and-key-art? | Lizensiert unter: Editorial use

Weil diese Realität sich so fern von dem abspielt, was wir leben, haben wir keine Vorstellung von diesen Räumen, diesen Sphären. Was wollen wir denn auch in diesem Walhalla? Ganz anders sieht es bei der:dem eine:n oder andere:n vielleicht bei so etwas wie Taylor Swifts Eras-Tour aus: Dieses Event ist sehr viel präsenter in unserem generationsspezifischen Bewusstsein – wird es zwischen Gen Z und Millennials kreuz und quer auf sozialen Medien heiß diskutiert. 2023 haben Tickets für Swifts Eras-Tour im Durchschnitt 1.088,56 Dollar gekostet (Economic Times 2024) und wurden im Durchschnitt für 3.801 Dollar weiterverkauft (Business Insider 2023). Es wird Zeit, die Wagnerfestspiele unserer Generation zu erkennen und diese als solche auch zu bezeichnen. Die Medien, mit denen wir uns umgeben und in denen wir uns aufhalten, prägen unsere Realität. Darum lasst uns sie gemeinsam bewusster wählen.

Dekonstruktion als Ermächtigungswerkzeug

Nika Mišković, Sarah Quarshie, Antje Prust, Maika Küster, Yotam Schlezinger, Isabelle Pabst, Tamer Tahan, Adi Hrustemović | (c) Birgit Hupfeld

Dekonstruktion ist nicht immer leicht, sie ist so oft kompliziert, verwirrend, Orientierung nehmend oder frustrierend. Und gleichzeitig baut sie in uns ganz bestimmte Vorannahmen ab, damit wir uns neu- statt desorientieren können. Aus Kompliziertheit wird Multifacettiertheit, aus Frustration mit dem Status Quo wird der Funken einer Idee von persönlicher und struktureller Veränderung und aus einer tiefen Verwirrung wird der emanzipative Prozess einer Entwirrung. Umso wertvoller ist es, wenn wir nicht alleine sind, während der Jenga-Turm unserer Vorannahmen zerfällt. Der Ring des Nibelungen im Theater Dortmund ist eine großartige Dekonstruktion eines romantisierten Hochkulturphantasmas, bekannter Narrative deutscher Bühnenpatriotismen und eigener Bezüge zu Kultur, Medien, Sprache, Theater, (Anti-)Rassismus, (Kern-)Familien, Geschlechterrollen, Liebe, Arbeit, Macht, Angst, Andersartigkeit und Spaltung. Er nimmt das Publikum an die Hand, gibt ihm niedrigschwellig ein Werkzeug an die Hand über das Stück hinaus weiter zu dekonstruieren.

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Alex Schmiedel

Seit 2019 unterstütze ich das Team mit Illustrationen, Gestaltung, Artikeln und einer stets schwingenden intersektionaler Feminismus-Keule. Ursprünglich bin ich jedoch als Fan des Heldenpicknicks auf Seitenwaelzer gestoßen. Meinen Bachelor habe ich in Mediendesign in Münster absolviert und nun studiere ich Medienwissenschaft im Master in Bochum und arbeite im Bereich Mediendesign. Für Interactive Fiction, Podcasts, Animation und Musik schlägt mein Herz, ebenso wie für Aufklärung über diverse politische Themen, insbesondere Geschlechterdiversität und medizinische sowie antiableistische Gleichberechtigung.

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