Gesellschaft und Lifestyle / Meinung

Odyssee von West nach Ost – durch die Nacht mit der Bahn

Läuft dein Leben stets nach Plan, fährst du selten Deutsche Bahn. Von einem Abenteuer mit Schiene innerhalb der Bundesrepublik.
| Daniel Rublack |

Geschätzte Lesezeit: 7 Minuten

Läuft dein Leben stets nach Plan, fährst du selten Deutsche Bahn.

Wer eine Reise macht

Wer keinen Personenkraftwagen sein Eigen nennt – also kein Auto, keine Karre, keine Blechkutsche hat – kann heutzutage vielfältige Möglichkeiten des Reisens nutzen: Neben der BlaBla-Fahrt im fremden PS-Monster kann man flix in den Fernbus springen oder auch etwas abgehobener mit den Hansen der Luft unterwegs sein. Oder man nutzt eines meiner favorisierten Verkehrsmittel: Das Tüff-Tüff, die Wagonreihe mit dem Dampfross vorne – die Bahn eben.

Das Ticket war nicht zügig gebucht, denn der Internetauftritt der Deutschen Bahn ist ungefähr so modern wie eine von Pferden gezogene Droschke. Die Webseite konnte sich meine Wunschdaten nicht merken und bat mich: Versuchen Sie es doch einfach nochmal. Nach über SECHS Anläufen war auch diese Hürde überwunden – für den Hinweg. Jener verlief auch wie geplant, knappe fünf Stunden Gesamtreisezeit waren akzeptabel. Der Rückweg allerdings…

Der Beginn einer Odyssee

18.50 Uhr. Abfahrt beim Kollegen mit dem Bus – Ziel: Münster, Hauptbahnhof.

Mein Zustand ist müde, das Wochenende war anstrengend. Wahre Freude mag angesichts einer etwa fünfstündigen Reise nicht aufkommen. Aber hey, wird schon passen.

19.34 Uhr. Keine Abfahrt mit der Regio – Ziel: Hamm, Hauptbahnhof.

Der Zug ist voll, wie zu erwarten gibt es Verspätung. Irgendwas im Ruhrgebiet. Wider aller Erwarten bin ich entspannt – trotz nur 14 Minuten Umstieg in Hamm. Sonst heißt es eine Stunde auf den nächsten ICE ohne Sitzplatzreservierung warten.

19.49 Uhr. Die Deutsche Bahn entscheidet sich, dass der Zug wohl doch noch nicht in die Heia muss. Es geht los Richtung Hamm. Während der Fahrt checke ich meine Verbindung mit der App der Deutschen Bahn. Faszination pur!

Ankunft der Regio 20.15 Uhr – Abfahrt ICE 20.11 Uhr – Umstieg voraussichtlich möglich.

Ankunft der Regio 20.15 Uhr – Abfahrt ICE 20.18 Uhr – Umstieg voraussichtlich nicht möglich.

Wer gerade denkt: Der hat doch was vertauscht! – Nope, die App verkündet tatsächlich Risse im Zeit-Raum-Kontinuum. Fast jede Minute wird die Matrix neu berechnet, ich beginne daher eine Ersatzroute zu planen. Aber dann kommen wir in Hamm an.

Wenn du einen ICE bei Wish bestellst, steht ECI drauf

Zugegeben, dieses trendige Wortspielt wird in ein paar Jahren niemand mehr verstehen. Die Alternative lautet daher wohl: Drum prüfe, wer sich ewig binde, in welchem Zug er denn verschwinde.

Ein Stoß von Menschen hechtet aus der Regio, ich mittendrin. Schneller Gleiswechsel, der ICE ist noch da. Was steht drauf? – Berlin, sehr gut. Also rein in den Zug. Kaum drin schließen sich die Türen – Glück gehabt. Im vollen Zug beginne ich meinen Sitzplatz zu suchen, Wagen 32. Ich betrete Wagen 26. Und dann 25. 24. Irgendetwas stimmt hier nicht, denn ich bin fast ganz vorne eingestiegen. 23. 22. Ende des Zuges. In mir steigt eine dunkle Ahnung auf: „Das mag jetzt vielleicht komisch klingen. Aber wohin fährt dieser Zug?“ Der Reisende schaut mich etwas verwirrt an, antwortet aber höflich: „Nach Bonn.“ Schöne Stadt, aber da will ich jetzt gerade nicht hin.

Ich bin im falschen Zug. Wunderbar. Auf zum Dienstbüro des Zugchefs. Hier steht schon eine ganze Traube von Menschen: „Was soll ich machen, wenn der Zug nicht rechtzeitig zum Umstieg in Duisburg ist?“ – „Wir planen grade nur, dass wir pünktlich sind. Es gibt keinen Alternativplan.“ Das Personal ist freundlich, aber komplett hilflos. Den Fahrgästen bleibt nichts Anderes übrig, als traurige Witze zu reißen.

Neben mir steht ein Gefreiter der Bundeswehr. Als ich ihn frage, was sein Problem ist, wird es interessant: „Ich bin im falschen Zug. Ich muss nach Bielefeld.“ Mir dämmert, dass ich wohl doch nicht so dämlich bin wie gedacht. Der Beginn einer Beweisführung:

Wie ich noch lernen werde, zeigen ICEs allerdings nicht das Reiseziel in großer Schrift an, sondern den Abfahrtsort. Kommst du bei 20 Sekunden Umstieg aber auch nicht so schnell drauf. Ist ja auch irgendwie – ungewöhnlich? Willkommen in Deutschland.

Mein neuer Kamerad und ich sind dran. Wir schildern dem Zugchef unser Problem, der entspannt reagiert. Das sei einfach doof gelaufen, wir könnten in Hagen umsteigen. Ob wir denn die Durchsage nicht gehört hätten, die fünf Minuten vor der Abfahrt gemacht wurde? Angesichts von 20 Sekunden Umstieg können wir darüber nur lachen.

Gepanzerte Kontakte

Daniel Rublack Gestatten: Hagen. Kein Nachname.

20.40 Uhr. Hagen, Hauptbahnhof. Bahnhöfe des Ruhrgebiets kenne ich wie Sand am Meer, aber Hagen ist eine neue Erfahrung. Zusammen mit meinem neuen Weggefährten warte ich eine Stunde auf den ICE Richtung Berlin. Bei einem Quätschchen vertreiben wir uns die Zeit. Der Offiziersanwärter der Panzertruppe – Gruß an dieser Stelle – erzählt von der Bundeswehr und seinen „lustigsten Bahngeschichten“: mitten in der Pampa aussteigen und der Zug fährt weg. Verspätung über Verspätung. Das Übliche halt. Ich biete Züge, die ohne Ankündigung ihre Richtung ändern, witzige Durchsagen und Döner-Eskapaden berauschter Mitreisender. Und Verspätungen.

21.35 Uhr. Abfahrt mit dem ICE – Ziel: Berlin, Hauptbahnhof. Auch dieser Zug ist voll, Menschen sitzen bereits auf dem Boden. Wir kämpfen uns den Weg zum Zugchef frei. Wie sein Kollege ist er mit der Gesamtsituation überfordert, aber gelassen drauf. Wir dürfen ohne Theater mitfahren. Und sind beide so fertig, dass wir Gepäckstücke bitten, uns ihre Sitzplätze zu überlassen. Genauer gesagt deren werte Herrschaften, die zwei Plätze brauchen: einen für sich und einen für das asoziale Ego, das andere Menschen lieber auf dem Boden sitzen lässt, als freiwillig den Sitzplatz neben sich zu opfern. Denkt doch einfach mal mit, andere werden es euch danken!

Mein neuer Kollege verlässt in Bielefeld den Zug. Wie er zur Kaserne kommt, weiß er noch nicht genau. Vermutlich nimmt ihn ein Kamerad mit. Er wird definitiv vor mir ankommen, denn die letzte S-Bahn in Berlin fährt gegen 00.44 Uhr.

Gestrandet am Hauptbahnhof

Daniel Rublack Ewigkeit von Gängen und Zeiten: Berliner Hauptbahnhof bei Nacht.

01.10 Uhr. Berlin, Hauptbahnhof. Die „Öffis“ machen Nachtruhe, Taxen kosten ein Vermögen. Seit Jahren entscheide ich mich mal wieder bei einem renomierten Fastfood-Giganten vorbeizuschauen. Der Mensch muss schließlich essen! Für zwei phänomenale Produkte des Typs Hamburger bezahle ich 1,58 Euro – und erinnere mich an Zeiten zurück, wo die matschigen Teile nur 1 Euro gekostet haben. Das fühlt sich plötzlich lange, lange her an.

Ich mache es mir auf einer Bank gemütlich, von denen zu meiner Überraschung schon viele belegt sind. Gestrandete gibt es offenbar massenhaft. Im Halbschlaf beobachte ich mein Spiegelbild in der Glasfront vor mir und versuche die Uhr mit Telekinese voranzutreiben – was mir zwischenzeitlich sogar gelingt. Wie ich ernüchtert feststellen muss, ist es aber nur die stündliche Justierung. Gefühlt läuft die Zeit nun rückwärts, die Bank ist hart und der Kopf ist schwer. Im Zombie-Modus schaue ich dem Personal beim Einräumen einer Donut-Filiale zu.

Touri pfui – Nachttour hui

Daniel Rublack Rechts die erleuchtete Kuppel des Bundestags. Blick von der Hugo-Preuß-Brücke.

03.10 Uhr. Eine Stunde vor der S-Bahn am Hauptbahnhof fährt eine Regionalbahn von der Friedrichstraße ab. Also spaziere ich gemütlich vom Hauptbahnhof entlang des Regierungsviertels zur Friedrichstraße. Längst bin ich nicht mehr müde – der Punkt ist mittlerweile überholt, die frische, kalte Luft und Bewegung tun ihr Übriges.

Es ist nichts los. Gar nichts. Wo tagsüber Menschen demonstrieren, Touristen alles fotografieren und das geschäftige Leben herrscht, strahlen bei Nacht nur die majestätischen Gebäude. Ich bleibe einige Male stehen, mache Fotos oder schaue fasziniert auf den beleuchteten Bundestag, schön vom Ufer der Spree aus. Ich bin überhaupt kein Freund von überrannten Touri-Magneten, aber in warmes Licht getaucht, gefällt es mir hier richtig gut. Für alle, die Berlin mal anders erleben wollen: halb vier in der Nacht auf Montag ist ein spannender Zeitpunkt.

Betriebliche Diskrepanzen – Die Bahn wird kreativ

Daniel Rublack An der Friedrichstraße sieht man schon doppelt.

03.40 Uhr. An der Friedrichstraße angekommen sehe ich bereits meine Regio. Knapp eine halbe Stunde noch, dann endlich ins Bett. In den riesigen Hallen herrscht gähnende Leere.

03.52 Uhr. Eine müde Zugführerin verkündet, dass der Zug aufgrund von „betrieblichen Diskrepanzen“ erst später losfährt. Ich habe schon viel gehört und bin absolut meinem Schicksal ergeben, aber das kenne selbst ich noch nicht. Als wenig später die Schaffnerin vorbeikommt, frage ich sie. Kopfschüttelnd erklärt sie mir: „Die haben vergessen, den Zug in den Fahrplan einzutragen.“ Über diese Kreativität an Unfähigkeit muss ich sogar fast schon lachen.

04.12 Uhr. Abfahrt der Regio – Ziel: Zuhause. Mit 20 Minuten Verspätung setzt sich eine leere Regio in Bewegung. Über den Alex geht es am Ostkreuz raus bis zum Flughafen. Eigentlich wollte ich mir ja die Umgebung ansehen, aber erstens kann ich meine Augen kaum noch aufhalten und zweitens starre ich in ein schwarzes Nichts.

05.00 Uhr. Ich bin Zuhause. Die Odyssee von West nach Ost hat ihr Ende gefunden.

Die Moral von der Geschicht

Anstatt fünf Stunden war ich zehn Stunden unterwegs. 200% sind eigentlich was Gutes, in diesem Fall hätte ich aber gerne darauf verzichtet. Durchaus selbst verschuldet, aber dank kräftiger Mithilfe der Deutschen Bahn.

Wer ein Auto hat, sollte nicht mit der Bahn fahren. Was in diesem Land als öffentlicher Verkehr angeboten wird, ist von Zuverlässigkeit und Preis oftmals lachhaft. Warum auf den Zug umsteigen, wenn der nicht fährt oder das Doppelte kostet? Und den Komfortbonus bekommt ein ICE auf dem Fußboden und voller Menschen jetzt auch nicht immer. Wer eine Reise mit der Deutschen Bahn plant, sollte Pufferzonen einplanen. Mehr als zwei Stunden.

Was habt ihr an faszinierenden Geschichten mit der Deutschen Bahn erlebt? Welchen Bahnhof habt ihr schon mal als Schlafplatz wählen müssen? Welchen wolltet ihr mal als Nachtquartier wählen? Welche interessanten Leute habt ihr kennengelernt?

Teilt gerne eure Erfahrungen, es könnte lustig werden. Ich werde wohl noch öfter die Bahn nehmen, außer ich gewinne im Lotto. Vielleicht schreibe ich also demnächst schon über eine neue Odyssee – mit Verspätung, versteht sich.

Dieser Artikel stellt nur die Meinung der AutorInnen dar und spiegelt nicht unbedingt die Ansichten der Redaktion von seitenwaelzer wider.

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Daniel Rublack

… schreibt vor allem über Filme. Arbeitet in der „Presse und Kommunikation“ und unterstützt daher mit entsprechendem Know-how.

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