Gesellschaft und Lifestyle

Überraschungsei! – Nachwuchs im Wohnzimmer

So ist es, ein Küken vom Schlüpftag an begleiten zu dürfen. Wer Haustiere hat, wird wohl der Aussage zustimmen können, […]
| Michael Kringe |

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Michael Kringe

So ist es, ein Küken vom Schlüpftag an begleiten zu dürfen.

Wer Haustiere hat, wird wohl der Aussage zustimmen können, dass einem mit ihnen nie langweilig wird. Es kommt immer wieder zu neuen Abenteuern und Überraschungen. Eine ganz besondere Überraschung hat sich letztes Jahr in unserem Haus ereignet – in Gestalt eines ungeplanten Nymphensittich-Kükens.

Nymphensittiche sind kleine Papageien aus der Familie der Kakadus. Ihre Heimat ist der australische Kontinent, ab 1840 wurden sie als Heimtiere in Europa angesiedelt. Mittlerweile zählen sie neben Wellensittichen und Kanarienvögeln zu den beliebtesten Hausvögeln.

Sie gelten zwar als ideale Anfängervögel, in der Realität ist ihre Haltung und Pflege jedoch deutlich schwieriger als gedacht. Viele Vögel überfordern ihre Besitzer und werden infolgedessen nach einiger Zeit weitergegeben oder landen im Tierheim. Auch unsere Tiere stammen fast alle aus zweiter Hand. Wer sich für Nymphensittiche interessiert, sollte die Entscheidung daher vorher gründlich überdenken und zuerst beim heimischen Tierschutzverein nachfragen. Auch werden Nymphies mitunter sehr alt, weshalb jeder Interessent und jede Interessentin grundsätzlich in der Lage und willens sein sollte, den Vögeln mehrere Jahrzehnte lang ein gutes Leben zu ermöglichen. Deshalb ist es mir wichtig, noch einmal zu erwähnen, den nachfolgenden Beitrag nicht als Inspiration zu sehen, flauschige Küken ausbrüten zu lassen.

Juni 2020: Das Brüten

Im Juni 2020 fängt unsere Nymphie-Henne „Perle“ auf einmal an Eier zu legen. Für uns Menschen bedeutet das vor allem eines: Geduld haben! Nymphensittiche liegen nämlich gut und gerne drei Wochen auf ihrem Gelege. In dieser Zeit verlässt das Weibchen nur selten die Brut hauptsächlich, um zu essen und zu trinken.

Wildlebende Nymphies sind Schwarmvögel, die in monogamen Paarbeziehungen leben. Deshalb sollte man sie nie alleine halten. Seit 2005 ist die Einzelhaltung von Papageien in Deutschland sogar offiziell verboten, denn die Vögel leiden sehr unter der von Menschenhand erzwungenen Einsamkeit.

Nach einigen Tagen fängt auch der Ei-Vater an, sich für den Nachwuchs zu interessieren. Der 15-jährige Hahn „Falke“ hat sein ca. zwei Jahre altes Weibchen zuvor neugierig beim Brüten beobachtet und fühlt sich nun bereit, es auch einmal zu versuchen. Für beide ist es die erste Brut. Immer wieder schieben sich die Vögel fleißig die Eier unter den Leib. Das scheint ihnen so viel Spaß zu machen, dass sie sich regelrecht um das Brutrecht streiten.

Da wir aber eigentlich keine weiteren Vögel eingeplant haben, müssen wir die echten Eier leider regelmäßig durch Plastikeier austauschen. Das sorgt dafür, dass die Henne irgendwann keine neuen Eier mehr legt und das Nest aufgibt, sobald sie merkt, dass die Kleinen nicht schlüpfen.

Doch Perle will ihr Projekt nach unserem „Nestraub“ so schnell nicht aufgeben. Prompt antwortet sie mit einem weiteren Legezyklus. Um ein stressfreies Brüten zu ermöglichen, bauen wir unseren Vögeln nun eine Höhle aus Karton, denn in freier Wildbahn sind Nymphensittiche eigentlich Höhlenbrüter. Diesmal übersehen wir jedoch beim Brutwechsel, dass dort noch ein kleines Ei in der Ecke liegt! Wir haben es in der Tat so lange nicht bemerkt, dass ein kleines Küken in seinem Inneren heranwachsen konnte. Das finden wir bei einer Durchleuchtung des Eis heraus. Irgendwie können wir es jetzt jedoch nicht mehr übers Herz bringen, das Ei beiseitezulegen. Deshalb entscheiden wir uns dafür, es von seinen Eltern ausbrüten zu lassen.

Entschlossen gehen die Vogeleltern daraufhin in die alles entscheidende Brutphase. In den letzten Tagen vor dem Schlüpfen ist die Anspannung so gewaltig, dass unsere Vögel kaum noch das Nest verlassen. Jeder, der in das Wohnzimmer kommt, wird von wachsamen Blicken durchbohrt und sofort angefaucht, wenn er sich der Höhle zu sehr nähert.

18. Juli 2020: Das Küken ist da!

Nach ca. drei Wochen ist es dann so weit: Am frühen Morgen des 18. Juli vernehmen wir ein leises, kaum wahrnehmbares Geräusch, das wir zuerst für das Sirren eines elektrischen Gerätes halten. Am zweiten Tag ist das Geräusch schon deutlich kräftiger. „Wiwiwiwiwi“ ertönt es aus dem Käfig! Beim vorsichtigen Schauen durch den Höhleneingang erkennen wir, dass es sich um das Fütterungsgeräusch handelt, das entsteht, wenn die Alttiere Nahrung in das Mäulchen ihres Kükens stopfen. Nach einem weiteren Tag gelingt es uns endlich, das Vogelbaby näher zu betrachten. Inmitten der Einstreu sitzt da ein kleiner, rosafarbener Gummi-Blob mit geschlossenen Augen und gelbem Flaum.

Nach zwei weiteren Wochen verwandelt sich dieser Blob langsam in einen grauen Dino. Die sich gerade erst entwickelnden Federkiele verleihen dem Baby ein fast schon stacheliges Aussehen. In dieser Zeit nimmt es massiv an Größe zu – ja, man kann dem Kleinen förmlich beim Wachsen zusehen.

Michael Kringe

12. August 2020: Der erste Tag im Freien

Als Nächstes entsteht das Jungvogel-Gefieder, das nach einem Monat voll entwickelt ist. Im August beginnt sich unser Neuzugang dann für die Außenwelt zu interessieren. Immer wieder reckt es sein Köpfchen aus dem Höhlenfenster, um zu sehen, was sich draußen abspielt. Nach einigen Tagen fängt das Küken schließlich an, am Höhlenrand herumzuturnen.

Am 12. August erlebt es dann seinen ersten Tag komplett im Freien. Jetzt braucht das Tierchen seine Höhle nicht mehr und wir dürfen den Karton endlich aus dem Käfig entnehmen. Daraufhin erleben wir unsere bis dato größte Vogelüberraschung. Eigentlich haben wir uns auf tagelange, mühsame Flugversuche mit zahlreichen Abstürzen eingestellt. Doch bereits am zweiten Tag im Freien fliegt das Vögelchen mühelos zur benachbarten Voliere, die von Wellensittichen bewohnt wird. Diese scheinen sich darüber kaum zu wundern. Sie gewöhnen sich sogar sehr schnell an ihren neuen Mitbewohner.

In den nächsten Tagen und Wochen „erobert“ das Baby dann nach und nach das komplette Wohnzimmer. Ab und zu muss es notlanden, aber im Großen und Ganzen macht es sich gut und überlebt diese nervenaufreibende Phase problemlos.

Juli – September 2020: Die Eltern füttern ihr Küken

Falke und Perle nehmen ihren Job als Eltern übrigens sehr ernst. Zuverlässig füttern sie ihr Junges täglich, manchmal jede halbe Stunde. Daher müssen wir Menschen es nicht beifüttern. Leider ist das Küken über die ersten zwei Monate hinweg auch besonders laut. Kleine Nymphensittiche schreien wie ein ganzer Schwarm Jungvögel, wenn sie Hunger haben. Und Hunger haben sie immer! Nach diesem Entwicklungsstadium wird es zum Glück wieder ruhiger, denn gegen Ende des zweiten Lebensmonats beginnt das Baby Körner zu fressen. Puh! – Welch eine Erleichterung! Kein „wiwiwi“ und kein „kra kra kra“ mehr!

Geputzt und zerkuschelt wird das Küken von seinen Eltern übrigens auch nach vielen Monaten noch. Der Vater Falke hat diese Aufgabe anfangs so ernst genommen, dass er das Köpfchen seines Kindes regelrecht kahl gerupft hat. Das kommt häufig vor, wenn bei Papageien der Bruttrieb nicht ausreichend befriedigt werden kann. Man darf schließlich nicht vergessen: Unter natürlichen Bedingungen hätte das Kleine noch vier oder fünf Geschwister gehabt! Als Einzelküken fließt einem eben die gesamte elterliche Liebe zu.

November 2020: Erste Gesangsversuche

Nach vier Monaten folgen die ersten Gesangsversuche. Das „Singen“ ist dabei eigentlich eher ein ebenso süßes wie lustiges Brabbeln. Das Geschlecht lässt sich trotzdem noch nicht genau feststellen, da neben den Hähnen auch junge Hennen gerne vor sich hin trällern. Völlig sicher sein kann man sich erst, wenn das Vogelkind nach sechs bis neun Monaten seine erste richtige Mauser durchlebt hat und endlich aussieht wie ein erwachsenes Exemplar. Daher heißt unser Küken auch nach über sieben Monaten immer noch „Baby“. Den Gesang erlernen die kleinen Tiere übrigens normalerweise von ihrem Vater. Doch Falke hat seinem Kind bisher nur selten etwas vorgesungen, die Wellensittiche im Nachbarkäfig hingegen trillern den ganzen Tag ununterbrochen vor sich hin – mit bemerkenswerten Folgen: inzwischen hat sich unser „Überraschungsei“ ein beachtliches Repertoire an Welli-Gesangseinlagen zugelegt! Auch das Baden im Wassernapf, was seine Eltern nie ausprobiert haben, hat sich das Küken von den kleinen, bunten Nachbarn abgeguckt.

Michael Kringe

Und heute?

Mittlerweile hat sich „Baby“ zu einem hübschen und gesunden Vogel entwickelt. Lebhaft erkundet er (oder sie) das gesamte Wohnzimmer, turnt auf der Vogelschaukel, besucht die Wellis oder ärgert seine Eltern. Das Vögelchen futtert uns sogar ohne Furcht Hirsekörner aus der Hand. Und das, obwohl wir Menschen uns die ganze Zeit kaum in sein Leben eingemischt haben, um ihm ein möglichst artgerechtes Wohnen zu gewähren.

Auf die Erfahrung der Handaufzucht haben wir bewusst verzichtet, denn diese und die Prägung auf den Menschen kann große psychische Probleme beim Vogel erzeugen. Leider besitzen viele Vogelfreunde auch heute nicht das nötige Fachwissen, um ihren Tieren ein gutes Leben zu ermöglichen. Die traditionelle Haltung in beengten Käfigen ist zudem aus Sicht des modernen Tierschutzes grundlegend falsch. Auch wir haben unsere Vögel fast alle aus Haushalten mit schlechten Haltebedingungen übernommen. Kleintier- und Vogelhaltung darf auf keinen Fall als zeit- und platzsparende Alternative zur Hundehaltung betrachtet werden. Vögel brauchen sehr viel Platz, einen Schwarm, die Möglichkeit zum Freiflug, das richtige Futter und außerdem zahlreiche Beschäftigungsmöglichkeiten.

Und zeitsparend ist die anspruchsvolle Papageienhaltung schon gar nicht: Nymphensittiche können ein Alter von über 30 Jahren erreichen! Der Kauf eines Sittichs sollte deswegen immer wohlüberlegt sein. Vom Züchten hauseigener Nymphies in den eigenen vier Wänden wollen wir Laien daher dringend abraten.

Michael Kringe

Trotzdem freuen wir uns sehr über die Anwesenheit unseres ungeplanten Mitbewohners. Durch ihn haben wir die einzigartige Chance erhalten, die natürliche Entwicklung eines Vogels vom Ei bis zum erwachsenen Tier täglich live beobachten zu können – ein unbezahlbares Erlebnis!

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Michael Kringe

Hat in Siegen Geschichte und Medienwissenschaft studiert. Der Baumjäger und Frühaufsteher schreibt gelegentlich den ein oder anderen Artikel auf seitenwaelzer. Beschäftigt sich in seiner freien Zeit außerdem gerne mit Psychologie, Evolution und Photoshop.

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