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Tatsächlich gelesen: In 300 Buchseiten um die Welt oder die Sache mit dem Mut

Vom Mut, einfach loszugehen und die Welt zu bestaunen. Wie Abenteuerromane uns helfen, Vertrauen zu schöpfen und Lust machen, selbst zu reisen.
| Sandra Hein |

Geschätzte Lesezeit: 8 Minuten

Sandra Hein

Eigentlich solltet ihr hier wie üblich eine neue Rezension über einen Weltliteratur-Klassiker finden. Eigentlich. Aber wie das manchmal so ist: Mein Leben spielte dieses Jahr anders. Deshalb habe ich mich – mit Ausblick auf das kommende Jahr – entschieden, mich mittels drei Büchern dem Thema Reisen zu nähern. Denn unser Leben ist ja schließlich eine Reise, oder? So plaudere ich mit euch über eine verlorene Wette, Rückschläge im Leben und zuletzt über den Mut, den wir brauchen, um Neues zu wagen. Na, dann auf ins Abenteuer!

Im nächsten Jahr erwartet mich eine große Veränderung – ein Umzug in die Ferne. Aber ehrlich gesagt wird meine Vorfreude darauf erheblich durch ein zweites Gefühl überschattet: Angst! Karten auf den Tisch: Diese Dunkelheit hierzulande, gerade in der Winterzeit, ist doch schwer zu ertragen. Man wird oft müde und wünscht sich an wärmere, sonnigere Plätze. Sobald man mit seinen Ideen bezüglich des Reisens etwas konkreter wird, überfallen einen dann aber die eigenen Sorgen. Deshalb mein Griff ins Bücherregal – genauer zu dem absoluten Klassiker der Weltliteratur zum Thema Reisen: Jules Vernes Geschichte über einen Mann, der in 80 Tagen die Welt bereisen will. Bei so viel Mut muss man sich doch etwas abschauen können, oder?!

Meine Wette oder wie mich Jules Vernes Klassiker in den Wahnsinn trieb…

Bei Tatsächlich gelesen widmen sich Dominik und ich uns ja vor allem Romanen, deren grober Inhalt den Allermeisten ein Begriff sind, die jedoch kaum gelesen werden. Letzteres trifft auf Vernes Abenteuerroman wohl kaum zu. Deshalb setzte ich mir eine Challenge – ich wollte mich der ersten französischsprachigen Originalausgabe aus dem 1873 widmen. Die, so dachte ich, wagen ja wohl die wenigsten zu lesen. Da ich die letzten Monate zur Arbeit pendeln musste, blieb mir genügend Zeit, es mir in den Sitzen der Deutschen Bahn gemütlich zu machen (man muss Situationen ja romantisieren) und zu lesen. Nach 160 Seiten, also genau der Hälfte des Buches, weiß ich, warum manches Vorhaben schlicht verrückt ist…

Dies ist die erste Rezension, die nicht auf einem zu Ende gelesenen Buch beruht. Klar, die deutsche Version von „In 80 Tagen um die Welt“ habe ich zig mal gelesen oder als Film geschaut, aber meine Wette mit mir selbst, den Roman in seiner französischen Version („Le Tour du monde en quatre-vingts jours“) zu lesen, habe ich verloren.

Verne schreibt sehr präzise und detailvoll. Darüber hinaus gibt er Ländernamen oder Gebiete an, die zu seiner Zeit existierten, wir heute jedoch unter anderen Namen kennen. Das alles im Französischen zu kapieren, ist wahnsinnig schwer und bedarf einerseits absoluter Konzentration und andererseits schlicht Zeit, um Sachverhalte und Vokabeln nachzuschlagen. Trotz meiner recht guten Französischkenntnisse kam ich mit dem Lesen des Altfranzösischen aufgrund gänzlich veralteter Floskeln nicht gut zurecht und so bereitete mir das Lesen unter den genannten Umständen keine Freude.

Ich verfechte oft die Meinung, das Original zu lesen, um beispielsweise die Wortspiele und tiefere Ebenen der Geschichte zu verstehen, hier aber kapituliere ich und empfehle, den Roman entweder auf Deutsch zu lesen oder sogar – die Buchliebhabenden mögen mir verzeihen – die Geschichte des Buches durch eine der vielen Verfilmungen zu genießen. Lesen ist ja bekanntlich eher einsam und sich an kalten Tagen gemeinsam zu einem Film zu treffen doch viel schöner! Ans Herzen legen kann ich die Verfilmung von 1989 mit Pierce Brosnan in der Hauptrolle.

Sehnsucht nach fernen Orten? Warum reisen wir eigentlich?

Nach kurzer Resignation entschied ich mich, zwei weitere Romane über mutige Reisende zu lesen. Diesmal keine Romane, sondern Tatsachenberichte – ich war euch schließlich immer noch eine Rezension und eine Antwort schuldig: Wie kann man die eigene Angst überwinden?

unbekannt Abenteuerromane (v.l.n.r.): Christopher Schacht „Mit 50 Euro um die Welt“, Jules Vernes „Die Reise um die Erde in 80 Tagen“ und Margot Flügel Anhalts „Einfach losgefahren“.

Ich las Christopher Schachts „Mit 50 Euro um die Welt. Wie ich mit wenig in der Tasche loszog und als reicher Mensch zurückkam“ und Margot Flügel-Anhalts „Einfach abgefahren. Wie ich mit 65 Jahren und einem alten Benz 18. 000 Kilometer durch 15 Länder reiste“. Alle drei Bücher handeln vom Losfahren und Menschen, die sich aufmachen – auf eine Reise, die ihr Leben verändern wird. Doch worum geht es den dreien? Was zieht sie in die Ferne?

Phileas Fogg oder die zweite Wette in diesem Artikel

Der fiktive Phileas Fogg, die Hauptfigur in Jules Vernes Klassiker, wird als sehr wohlhabender, englischer Gentleman wie aus dem Bilderbuch beschrieben. Dem Herrn ist sein geregelter Tagesablauf das Wichtigste im Leben. Jeden Tag aufs Neue. Dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr. Zwar liebenswert schrullig, den anderen Mitmenschen gegenüber aber kühl-distanziert, lebt er zurückgezogen und trifft sich wenige Male in der Woche mit anderen Gentlemen im Reformclub (ähnlich eines Rotary-Vereins) zum Whist-Kartenspiel. In einer ungewöhnlich erhitzten Debatte kommt es plötzlich – ganz untypisch für die feinen Herren – zur Wette.

„Nun, beweisen Sie es doch!“
„Daß man in 80 Tagen um die Welt reisen kann?“
„Ja.“
„Will ich gern!“
„Wann?“
„Auf der Stelle. […]“
[…]
„Das ist ja ein schlechter Witz!“
„Ein echter Engländer macht niemals schlechte Witze“, antwortete Phileas Fogg, „wenn es sich um eine so ernste Sache handelt wie eine Wette. Ich wette 20 000 Pfund, daß ich die Reise um die Erde in 80 Tagen oder weniger zurück lege. Halten Sie die Wette?“

Jules Verne: Die Reise um die Erde in 80 Tagen (Berlin 1956), S. 19

Phileas behauptet, durch neue technische Innovationen wie die Eisenbahn könne man in exakt 80 Tagen die Welt umrunden. Man achte auf den Wortlaut – es geht dem Herrn weniger um die Begegnung mit neuen Kulturen als um das Statuieren eines Exempels. Er macht sich mit dem Ziel auf die Reise, eine Wette zu gewinnen. Die Ehre des Gentlemans und einige hundert Pfund Wetteinsatz (!) stehen ja auf dem Spiel. Mit dabei: sein treuer Butler Passepartout. Aber letztlich muss auch Phileas erkennen, dass man trotz genauestem Zeitplan nie von einem Zug in den nächsten umsteigen kann, ohne das einen neue Erfahrungen erwarten. Und dass man manchmal Situationen nicht vorhersagen kann…

Ein Reise ohne Plan und Ziel, geht das?!

Christopher dagegen startet mit 19 ohne jeden Plan in die Welt.

„Ich wollte versuchen, die Welt zu umrunden. Und zwar mit nur 50 Euro in der Tasche und ohne konkreten Plan. Beziehungsweise war der Plan, keinen Plan zu haben.“

Christopher Schacht: Mit 50 Euro um die Welt. Wie ich mit wenig in der Tasche loszog und als reicher Mensch zurückkam (Aslar 2018), S. 9

Jung, lebensfroh und voller Tatendrang. So würde ich ihn beschreiben. Dabei aber nie naiv – obwohl man das zugegebenermaßen im ersten Moment denken könnte. Christopher geht nämlich, wie der Buchtitel sagt, tatsächlich nur mit einem 50 Euro-Schein los! 2013, nach seinem Abitur, zieht es ihn ins Unbekannte. Das Buch ist tagebuchartig verfasst und schildert die Erfahrungen eines jungen, tiefgründigen Menschen in der weiten Welt. Unbeschreiblich gut und selbstreflektiert erfasst Christopher seine Erfahrungen seiner Reise, die ihn von Amsterdam, Paris, Gibraltar über die kapverdischen Inseln, quer durch den Dschungel Südamerikas, durch Großstädte wie Rio de Janeiro und Lima nach Asien führt. Über unzählige Haltepunkte wie Peking, Shanghai, Mumbai und Teheran landet er erst vier Jahr später, 2017, wieder zuhause.

Margots Ausflug nach Indien

Margot beschließt nach ihrer Rente, sich aufzumachen – abenteuerlustig war sie schon immer. Nach ihrer ersten langen Reise mit einem Motorrad, welche sogar als Kinofilm „Über Grenzen“ veröffentlicht wurde, zieht es sie jetzt nochmals in die Ferne. Von Thurnhosbach, einem winzigen Dorf in Hessen, startet sie. Ihr Ziel: die Farben Indiens, genauer Jaipurs, einmal leibhaftig sehen! Dabei schildert sie aufrichtig und authentisch ihre Erfahrung als allein reisende Frau in der weiten Welt. Trotz einiger Strapazen wie u.a. einem Unfall bleibt sie in jeder Situation stets ruhig und gelassen – Hut ab! Das Buch regt nicht nur zum Nachdenken über unsere hiesigen Privilegien, sondern auch zum Weg-Träumen an.

Was haben Phileas, Christopher und Margot auf ihren Reisen gelernt?

Interessanterweise ähneln sich alle drei Erfahrungen der Wagemutigen. Sie alle haben großen Respekt vor anderen Kulturen und den Gefahren der Welt und trotzdem machen sie sich auf eine Entdeckungsreise, die sie in erster Linie – das zeigt das Resümee der drei – witzigerweise nicht ins Unbekannte, sondern zu sich selbst führt. Sie erkennen auf dem Weg ihre eigenen Schwächen und die eigenen Stärken. Trotzdem ist allen die Erkenntnis gemein, dass man solch eine Reise nicht ohne Mitmenschen bewältigen kann. Im Falle Phileas ist das sein Gehilfe und späterer Freund, Christopher und Margot starten zwar ohne Reisebegleiter – begegnen jedoch in Notsituationen überall hilfsbereiten Menschen.

„Das Unterwegssein im Unbekannten ist eine Herausforderung. […] Die Schwierigkeiten aber, denen du begegnest, werden nie so groß werden, daß du sie nicht bewältigen kannst. Und wenn es an einer Stelle nicht weitergeht, tun sich andere Wege auf. Weil es immer wieder Menschen gibt, die dir helfen werden, deinen Weg zu gehen. Und weil du nie weiter fallen kannst als in die aufgehaltene Hand Gottes.“

Margot Flügel-Anhalt: Einfach abgefahren. Wie ich mit 65 Jahren und einem alten Benz 18.000 Kilometer durch 15 Länder reiste (Berlin 2021), S. 297

Fazit: Ein kleiner Mutmacher für dich und mich

„Was hatte ihm jedoch die ganze Reise eingebracht? Nichts, wird man sagen. Nun ja, nichts! Abgesehen von einer reizenden Frau, die ihn, so unwahrscheinlich es sich auch anhören mag, zum glücklichsten Menschen gemacht hat.“

Jules Verne: Die Reise um die Erde in 80 Tagen (Berlin 1956), S. 199

Beim Lesen bemerkt man, dass alle Reisenden eine gewisse Art von Glauben begleitet. Sei es der Glaube an sich, an die Natur, an die anderen Mitmenschen oder an Sprituell-Geistliches. Diese Kerngedanke, die Welt als einen schönen Ort anzusehen und Vertrauen zu haben, dass die Menschen gut sind, ist so friedvoll und lebensbejahend, dass er ihre Furcht vertreibt.

Das Leben ist ein Abenteuer

Muss jetzt also jede*r unbedingt die Welt bereisen? Kann man sich nur in der Ferne finden? So begeistert ich von jedem Buch war und es jeder und jedem ans Herz lege – die Antwort lautet nein. Das Leben kann manchmal Abenteuer genug sein. Aber die drei Bücher geben Hoffnung, Mut und Vertrauen, uns auf unsere eigenen Abenteuer einzulassen.

„Wie wir unser Leben leben, liegt größtenteils in unserer eigenen Hand. ‚Ich wollte schon immer mal…‘ – diesen Satz tragen wohl die meisten Menschen in ihrem Herzen. Wie die zweite Hälfte des Satzes aussieht, ist bei jedem unterschiedlich, und das ist auch gut so. Bei mir war es die Weltreise, bei jemand anderem ist es vielleicht etwas ganz anderes – Hauptsache, man belässt es nicht bei dem Wunsch, sondern macht einen Vorsatz daraus: ‚Ich werde…!‘“

Christopher Schacht: Mit 50 Euro um die Welt. Wie ich mit wenig in der Tasche loszog und als reicher Mensch zurückkam (Aslar 2018), S. 282

Obwohl ich meine Wette verloren habe, bereue ich nicht, mal was Neues ausprobiert zu haben. Einen Fehler gemacht zu haben. Die drei zeigen uns, dass eine Reise vielfältig sein kann und dass man sie antreten kann, obwohl man Angst hat. Sie zeigen uns einen Weg, vertrauensvoll nach vorne zu schauen und sie besinnen uns auf das Gute, dass wir überall finden können – ob nah oder fern.

Sich zu besinnen ist doch die Quintessenz von Weihnachten. Ob wir nun nächstes Jahr eine große Reise unternehmen, wie in meinem Fall umziehen oder schlicht eine Tour in die nächste größere Stadt planen – ich wünsche allen ganz viel Spaß, in die Welt hinauszugehen und Neues zu wagen. Auf in ein neues Jahr 2025!

„Also nur Mut, einfach abfahren und das wagen, was du schon immer in deinem Leben unbedingt machen wolltest.“

Margot Flügel-Anhalt: Einfach abgefahren. Wie ich mit 65 Jahren und einem alten Benz 18. 000 Kilometer durch 15 Länder reiste (Berlin 2021), S. 297

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Sandra Hein

Liebt und lebt ihr Studium der Kunstgeschichte und Klassischen Archäologie samt all seinen Klischees. Dazu gehört selbstverständlich Frida Kahlo und Vincent van Gogh als seine besten Freunde zu betrachten und sich in Pompeji ohne Stadtplan problemlos zurechtzufinden ;) Als kleiner Bücherdrache ernährt sie sich hauptsächlich von Abenteuern aus den Jules-Verne-Romanen oder alten schwarz-Weiß-Krimis und möchte als neue olympischen Sportart einen Besuchs-Marathon durch alle europäischen Museen vorschlagen. Sollte der Traumjob Kuratorin nicht in Erfüllung gehen, sieht sie sich als Geist in einem schottischen Castle. Freund*innen munkeln, dass sie wahrscheinlich mehr schwarzen Ostfriesentee als Blut im Körper besitzt…

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