Gesellschaft und Lifestyle

Tick, Tick … BOOM! Wenn Nägelkauen, Hautkratzen und Haareziehen zum Ventil werden

Ziehen, quetschen, kauen - für Menschen mit einer körperbezogenen Impulskontrollstörung ist das Alltag. Woher sie kommt und was man dagegen tun kann.
| Deike Terhorst |

Geschätzte Lesezeit: 3 Minuten

Kat Smith | Pexels

Wer kennt ihn nicht? Diesen nervtötenden Pickel, an dem man ständig herumquetscht und der einem den letzten Schlaf raubt, weil man ihn einfach nicht in Ruhe lassen kann. Das ist völlig normal und meist auch nicht weiter problematisch. Ernst wird es, wenn das Drücken und Knibbeln zur Gewohnheit wird. Manche können erst dann aufhören, wenn der Mitbewohner anklopft, eine Freundin anruft oder der Paketbote klingelt. Dann lassen sich die roten Flecken und blutenden Wunden allerdings nicht mehr verstecken und sind schonungslos dem Urteil anderer ausgeliefert.

Fachmedizinisch spricht man bei diesem Verhalten von einer „Dermatillomanie“, andernorts ist es als „Skin Picking Disorder“ bekannt. Bei dieser Erkrankung bearbeitet man die Haut an Gesicht und Körper immer wieder, womöglich nicht nur mit den Händen, sondern auch mit Pinzette, Nadel, Zähnen oder Schere. Je nach Studie leiden zwischen 1,4 und 5,2 Prozent der Deutschen einmal im Leben darunter. Beim verwandten Nägelkauen, der sogenannten „Onychophagie“, ist die Zahl sogar um einiges höher: Etwa jeder sechste erwachsene Mensch bearbeitet seine Fingernägel regelmäßig mit den Zähnen. Und auch die Trichotillomanie, das exzessive Haarereißen bis hin zur Kahlheit, ist weiter verbreitet, als man zunächst vermuten mag.

Insgesamt werden all diese Manien als körperbezogene Impulskontrollstörungen bezeichnet, die bei den Zwangsstörungen verortet sind. Denn wie schwer es für Menschen mit einer solchen Störung ist, dem Drang zu widerstehen, können sich Außenstehende kaum vorstellen. Beispielsweise liegt der Unterschied zwischen einer Person, die sich ab und zu einen Pickel ausdrückt und Betroffenen von Dermatillomanie darin, dass sich diese verpflichtet fühlen, es zu tun und für die es in diesem Moment unmöglich ist, einer anderen Tätigkeit nachzugehen.

Wie entstehen körperbezogene Impulskontrollstörungen?

Zunächst einmal: Impulskontrollstörungen sind nicht erblich. Die Auslöser für solche Zwangshandlungen sind vielmehr individuell und dementsprechend breitgefächert. Meist beginnt das Drama in der Jugend. Laut Diplom-Psychologin Linda Hollatz ist daran wie so oft die Pubertät schuld.

„Anfangs [ist es] nur ein Pflegethema. [Jugendliche] wollen eine schöne Haut und glänzende Haare haben, so wie die Werbung und sozialen Medien das vorgeben. Doch bei manchen verselbstständigt sich das und wird nicht mehr kontrollierbar.“

Linda Hollatz im Podcast „Von Mensch zu Mensch“ des Hamburger Abendblattes

Ein weiterer Grund liegt in der Emotionsregulation, ausgelöst durch Anspannung, Stress, Nervosität oder auch Langeweile. Nägelkauen, Haarereißen oder Skin Picking führen hier kurzfristig zu Erleichterung beziehungsweise Entspannung.

Wie sieht die Behandlung aus?

Trotz zunehmender Forschung und internationaler Vernetzung werden Impulskontrollstörungen von ärztlicher Seite auch heute noch oft belächelt. Dabei können sie nicht nur zu bleibenden körperlichen Schäden wie verringertes Haar- und Nagelwachstum sowie Narben, sondern in fast jedem Fall auch zu ausgeprägten Schamgefühlen führen, die dann wiederum die Ursache für Selbstwertprobleme bis hin zu Depressionen darstellen.

Wenn es dann doch zu einer Diagnose kommt und simple Methoden wie Nagellack, Handschuhe, künstliche Fingernägel und lange Kleidung nicht mehr helfen, steht oft die kognitive Verhaltenstherapie im Zentrum der Behandlung. Diese besteht unter anderem aus Selbstbeobachtung sowie dem sogenannten Habit-Reversal-Training: Dabei handelt es sich um eine Methode, bei der die immer wiederkehrenden Abläufe „überschrieben“ und durch Alternativhandlungen ausgetauscht werde – etwa indem man die Finger spreizt oder sich auf die Hände setzt. Man trickst sich quasi selbst aus. Auch Gegenstände können helfen, beispielsweise kleine Gummi-Bälle, Luftpolsterfolie oder Fingerringe. Die Hände sollten in jedem Fall beschäftigt werden. Viel wichtiger ist es jedoch, dass die Betroffenen lernen, wie sie ihre Emotionen anders regulieren, bevor der Tick ihr Selbstvertrauen im wahrsten Sinne des Wortes mit Haut und Haaren verschlingt.

Du vermutest, selbst unter einer Impulskontrollstörung zu leiden? Dann kann dir womöglich die Psychotherapie-Ambulanz der WWU unter der Leitung von Prof. Dr. Ulrike Buhlmann weiterhelfen. Viele Mitarbeiter*innen des Teams haben sich dort auf dieses Feld spezialisiert.

Quellen und weitere Infos
BARMER (Hrsg.): Skin Picking: Wenn das Knibbeln zum Zwang wird, 27.01.2022
HAMACHER, Katharina: Weg mit dem Tick, in: MGZN, H. 1, 2022, S. 16-17
TESCHE, Sabine & MYDLACH, Iris: Wenn Hautpulen, Nägelkauen und Haareziehen zur Sucht werden. Podcast „Von Mensch zu Mensch“ mit Psychologin Linda Hollatz, 18.02.2022

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Deike Terhorst

ist im berüchtigten Emsland aufgewachsen, wo man sich Moore mit Spezi (emsl. für Cola-Korn) schön trinkt. Hatte irgendwann einen klaren Moment und ist fürs Geschichtsstudium in die große Stadt aka Münster gezogen. Digitaler Dinosaurier mit Instagram-Allergie. Powert sich gerne beim Tischtennis aus. Verrückt nach Kreuzworträtseln. Spricht Albanisch. Blutgruppe Pfefferminztee. Wäre ohne Terminplaner komplett lost (hab gehört, das sagt man jetzt so).

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