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Pro G8 – Warum ich es gut finde, mein Abi nach 12 Jahren gemacht zu haben

Ich bin Pro G8! Ich bin froh, dass ich nur 12 Jahre in diesem Schulsystem verharren musste, das meiner Meinung nach nicht auf das Leben vorbereitet.
| Amelie Haupt |

Geschätzte Lesezeit: 4 Minuten

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Am letzten Schultag meines Lebens lagen meine zwei besten Freundinnen sich weinend in den Armen. Ich stand verständnislos daneben: Warum waren sie nicht froh, dass die Schulzeit nun vorbei war? Das Abitur lag endlich hinter mir und ich konnte mein neues Leben kaum erwarten. Ich war nicht nur froh, ich war euphorisch.

Bloß weg hier!

Ich gehöre zum ersten G8-Jahrgang in NRW und konnte diese Aufregung über die Schulreform damals nicht so ganz verstehen. Meine ätzende Bio-Lehrerin, die meinen unbedeutenden Grundkurs zum schieren Horrortrip werden ließ und das eklige Essen in der Cafeteria würde ich jedenfalls nicht vermissen. Gott sei Dank, konnte ich diesem Wahnsinn schon ein Jahr früher entfliehen! Allerdings unterschied ich mich von den meisten meiner Mitschüler*innen in einem sehr wichtigen Punkt. Ich hatte bereits einen Plan für mein Leben nach dem Abi. Dieser Plan sah wie folgt aus: Ein Jahr ins Ausland, danach Wirtschaftspsychologie studieren, anschließend bei einer großen Firma in der Personalabteilung arbeiten. Ich weiß nicht, warum ich mit so jungen Jahren schon einen so klaren Plan hatte, aber ich konnte meinen letzten Schultag kaum abwarten.

Mein Auslandsjahr verbrachte ich in Madrid. Dort lebte ich als Au Pair zusammen mit einer Familie in der schnieken Vorstadt. In der Sprachschule lernte ich Spanisch und dank meiner Gastfamilie merkte ich, dass ich nicht gerne mit schlecht erzogenen Kindern arbeite. Und eigentlich musste ich mir später eingestehen, dass ich generell nicht gerne mit Kindern arbeite. Trotzdem blieb ich die geplanten acht Monate in der Familie und bereiste anschließend vier Wochen mit Backpack und Couchsurfing das Land. In diesem knappen Jahr lernte ich mehr über mich und die Welt als in all den Jahren zuvor. Ich wusste damals schon, dass ich eine hervorragende Entscheidung getroffen hatte.

Du willst mehr über mein Auslandsjahr in Madrid lesen? Hier entlang: „Als Au Pair in Madrid“

F*uck the system

Was mir damals noch nicht klar war: Dass meine Auszeit eine Rebellion gegen das System war. Erst jetzt verstehe ich, dass die Schulzeit verkürzt wurde, um unsere Arbeitskraft schneller auf dem Markt verfügbar zu machen. Eine rein wirtschaftliche Kalkulation, die sich weder mit der menschlichen Persönlichkeitsentwicklung noch mit einem immateriellen Sinn des Lebens auseinandergesetzt hat.

Doch ich will nicht nur eine Recheneinheit im Bruttoinlandsprodukt sein. Ich will nicht, dass unser Bildungssystem auf mehr Wachstum und optimale Ressourcennutzung ausgerichtet ist. Ich will in einer Gesellschaft leben, in der Spiel und Freizeit ebenso Wert geschätzt werden, wie Arbeiten und Geld verdienen. Dass schon 16-Jährige eine 40-Stunden-Woche haben und von Burn-out sprechen, macht mich wütend und zeigt nur, wie fehlerhaft unser Bildungssystem ist. Ich bin froh, dass ich diesem System bereits ein Jahr früher entfliehen konnte. Ich habe die Zeit genutzt, um auf meine Weise zu lernen und Freiheit zu schnuppern. Raus aus der Schule, raus aus der Bruttoinlandsproduktrechnung.

Welche Vorteile ich in G8 sehe

So wirklich habe ich bisher nicht gerade pro G8 argumentiert, weil ich das Bildungssystem für ungenügend erachte. Doch ich sehe einige Vorteile in der verkürzten Schulzeit. Ob wir wollen oder nicht: Kaum eine Familie kann nur von einem Gehalt leben. Alleinerziehende Eltern erst recht nicht. Die Schule erscheint mir eine bessere Betreuung als das Nachmittagsprogramm auf RTL. Allerdings nur, wenn Spiel- und Spaßangebote auf dem Plan stehen statt Latein in der achten Stunde. Nachmittagsunterricht und Ganztag haben demnach positive Auswirkungen.

Außerdem hat mir mein vollgepackter Stundenplan in der Oberstufe eine wichtige Lektion gelehrt: Unterscheide zwischen wichtig und unwichtig. Setze Prioritäten. Eigentlich lernt man das erst im Studium, wenn plötzlich Vorlesungen und Seminare kollidieren. Aber als ich neben der Schule noch anfing, meine Zeit nach dem Abitur zu planen und mich z.B. auf Auslandsprojekte zu bewerben, wurde mir die Zeit ganz schön knapp und ich fühlte mich überfordert. Also fing ich an meine Hausaufgaben in der Doppelstunde Zusatzkurs Geschichte am Montagmorgen zu erledigen und schwänzte wiederholt den mir verhassten Sportunterricht. Am Tag meiner Zeugnisübergabe sagte mein Papa mir, wie stolz er sei, dass ich mir meine Zeit so selbstständig eingeteilt habe.

Gönn dir eine Auszeit

Ich finde, man sollte die verkürzte Schulzeit als geschenktes Jahr sehen. Es ist die verdiente Pause nach einer anstrengenden Schulzeit. Falls du dem Ende der Schulzeit nicht so entspannt entgegensiehst, weil du noch nicht weißt, was danach kommt, dann nimm das Jahr als Orientierungsphase. Gönn dir eine Auszeit. Mach erstmal eine richtig schön lange Pause vom deutschen Wirtschaftssystem, in das du gerade ungefragt hereingezogen wirst. Und zwar nicht, weil sich Auslandserfahrungen auf deinem Lebenslauf später mal gut machen, sondern einfach, weil du Leben darfst, ohne dich durch Arbeit rechtfertigen zu müssen. Die Welt hat viele schöne Ecken, an denen man über das weitere Leben nachdenken kann.

Noch kein Plan, was nach dem Abi kommt? Wir haben ein E-Book dazu geschrieben: „Abi – und dann?“

Liest jetzt die Gegenseite: Warum ist Timea froh, ihr Abi nach 13 Jahren gemacht zu haben?

Dieser Artikel stellt nur die Meinung der AutorInnen dar und spiegelt nicht unbedingt die Ansichten der Redaktion von seitenwaelzer wider.

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