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Als Au-Pair in Madrid

„Mein Weg wird ziemlich weit sein, denn die Welt ist ziemlich groß.“
| Amelie Haupt |

Geschätzte Lesezeit: 7 Minuten

Amelie Haupt

Mich hatte das Reisefieber gepackt und ich bin dieses innere Feuer bis heute nicht losgeworden. Doch ich weiß noch, dass es besonders schlimm war, als ich in der Oberstufe feststeckte. Denn genau so fühlte es sich für mich an; als ob ich in einer tiefen Schlucht gefangen war und ich ewig laufen musste um endlich raus zu kommen. Mein Exil: als Au-Pair in Madrid.

Okay, das klingt jetzt vielleicht ein bisschen übertrieben. Ich habe natürlich trotzdem gerne Zeit mit meinen Freund*innen verbracht und zumindest meine Leistungskurse habe ich ziemlich gerne besucht. Aber ich begann schon eineinhalb Jahre vor den Abi-Prüfungen meine Flucht zu planen. Auf keinen Fall wollte ich meine neue Freiheit nach der Schule in einem Kaff im Münsterland verbringen.

Ich wollte hinaus in die große weite Welt. Ob ich ein freiwilliges soziales Jahr in Guatemala machen und dort Brunnen bauen, oder in Uganda Kreidestaub wischen würde, war mir dabei ziemlich egal. Nach ewig langer Internetrecherche und einigen Absagen von sozialen Trägern, kam ich dann zu einer Au-Pair Vermittlung, bei der ich innerhalb weniger Wochen die Zusage für eine Familie in Madrid erhielt. „Jackpot!“, dachte ich mir, weil ich ohnehin gerne Spanisch lernen wollte.

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Plötzlich war die Schule sehr viel erträglicher, denn ich hatte eine Perspektive. Ich bereitete mich auf das Jahr in Spanien vor, wählte eine Sprachschule in Madrid aus und nahm einen Sommerjob an, um mir einen schönen Geldpuffer anzulegen. Ich verabschiedete mich gebührend von Familie und Freund*innen und flog in die Hauptstadt Spaniens. Dann begann mein Leben als Au-Pair in Madrid.

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Amelie Haupt | seitenwaelzer.de

Keine zweite Familie

Ich habe in diesen neun Monaten als Au-Pair mehr gelernt, als in meiner gesamten Schulzeit davor. Vorweg möchte ich festhalten, dass es eine insgesamt großartige Erfahrung war und ich froh bin sie gemacht zu haben, weil ich sonst nicht die Person wäre, die ich heute bin.

Zuerst rede ich aber ganz ehrlich über die negativen Erfahrungen. Au-Pairs in Spanien werden als Statussymbol und Angestellte gesehen. Die schöne Geschichte der “zweiten Familie” ist die Ausnahme und auf eine herzliche Gastfamilie, kommen acht schlechte und eine ganz miese. Hier ein paar der Highlights von mir und anderen Au-Pairs: Eine erzählte von Kakerlaken in der Wohnung, einer anderen wurde vor der Abreise der Koffer durchwühlt, damit sie kein Besteck klaut, und mir wollte meine Gastmutter keinen Rucksack ausleihen, weil dieser absolut normale und ersetzbare Rucksack zu gut für mich war. Meine Sprachlehrerin hatte auch schon einige Stories miterlebt und erzählte von einem Mädchen, das des Diebstahls beschuldigt wurde und eines Morgens mit gepackten Koffern heulend vor der Schule saß, weil sie nicht wusste wohin.

Meine Familie hat mich niemals schlecht behandelt, aber sie haben mich eben auch nicht gut behandelt. Der Junge hat mich meistens ignoriert, weil sein iPad viel cooler war als ich, das Mädchen hat das Wort nur im Befehlston an mich gerichtet, die Mutter hat mich immer vorwurfsvoll angeschaut, wenn ich von meiner Freizeit erzählt habe. Sie war der Ansicht, dass ich zu wenig Zeit mit den Kindern verbringe. Der Ansicht war ich auch. Ich erklärte ihr, dass ich zwar gerne mit den Kindern spielen und Deutsch reden würde (meine eigentliche Aufgabe), aber dass die beiden kein Interesse an mir zeigten und ich sie schließlich nicht zum Sprechen zwingen könnte. Natürlich war es trotzdem meine Schuld, dass die Kinder kein Deutsch konnten. Sie war überhaupt immer unzufrieden mit mir, verriet aber nie, was ich anders machen sollte. Damals hatte ich ganz schön daran zu knabbern, weil ich gerne ein gutes Au-Pair gewesen wäre. Heute denke ich mir: „Du olle Zibbe musst deinen Frust echt nicht an einer 18-jährigen auslassen.“ Überhaupt habe ich gelernt, dass ich nicht alles schlucken muss, nur weil ich für jemanden arbeite. Ich hatte mich nicht getraut, ihr mal Kontra zu geben und sie um ein paar Veränderungen zu bitten, weil ich Angst davor hatte, dass sie mich vor die Tür setzen würde und ich, mit ein bisschen Pech, bei einer wirklich schlimmen Familie landen würde.

Drei Wochen vor dem Ende der vertraglich vereinbarten Arbeitsfrist, passierte dann genau das. Plötzlich wollte die Familie das Geld für mich lieber sparen. Ich war ganz schön baff über so viel Dreistigkeit und hatte nun das Problem, dass meine geplante Reise durch Spanien, die ich zusammen mit einer Freundin nach der Au-Pair-Zeit antreten wollte, erst in drei Wochen starten sollte. Gnädigerweise bot mir die Mutter der Familie für die Zwischenzeit an, dass ich weiterhin bei ihnen wohnen könnte, ich müsste dann halt nur ein bisschen dafür arbeiten. Sie kündigte mir, verlangte aber, dass ich weiter für sie arbeite – ohne mir selbst das mickrige Taschengeld zu zahlen, das mir zustünde. Genau mein Humor. Ich suchte also nach Alternativen und fand sie in einer Familie, bei der ich für zwei Nachmittage Kinderbetreuung genau so viel verdiente, wie bei meiner Gastfamilie für 30 Stunden Arbeit pro Woche.

Außerdem hatte ich mich schon auf einer vorherigen Reise nach Malaga mit Couchsurfing vertraut gemacht und suchte darüber nach einem Unterschlupf, um die Zeit bis zur Reise an einem angenehmeren Ort zu überbrücken. Ich fand sehr schnell eine Wohngemeinschaft, die mich gerne aufnehmen würde. Auf einmal merkte ich, dass ich doch nicht auf meine Gastfamilie angewiesen war und trotzdem in Madrid bleiben konnte, ohne Geld für eine Unterkunft ausgeben zu müssen. Dieses Gefühl von Unabhängigkeit gab mir endlich wieder meine Selbstsicherheit zurück und plötzlich stellte ich fest, wie ich in all den Monaten unter den kritischen Blicken und der Undankbarkeit geschrumpft war. Daraufhin ergab sich ein sehr amüsantes Gespräch, in dem ich der Gast-Mutter endlich die Stirn bot:

„Ich brauche dich Freitagabend hier, damit du auf die Kinder aufpasst.“
„Tut mir leid, ich habe schon etwas für Freitagabend vor.“
Sie schaut mich verständnislos an.
„Aber du arbeitest immer Freitagabends?!“
„Ja, aber du hast mir gekündigt.“
Sie schaut mich empört an.
„Dann musst du eben Samstagabend arbeiten.“
„Okay, dann ziehe ich Freitagmorgen aus.“

Gesagt, getan und ich packte meinen Koffer, um für ein paar Tage bei einer netten Couchsurfing-WG unterzukommen. Aus ein paar Tagen wurden zwei Wochen und ich erlebte nun die so berühmte Herzlichkeit der Spanier. Jetzt, da ich mich in der gemütlichen Studi-WG frei bewegen konnte, wurde mir erst bewusst, wie kalt und distanziert die Familie zu mir war und wie sehr ich durch die unflexiblen Arbeitszeiten und immer gleichen Haushaltstätigkeiten, wie Bügeln, Tisch decken und Wäsche aufhängen eingeschränkt worden war. Endlich wurde ich von meinen Mitmenschen wieder berücksichtigt und ernst genommen. Wir haben zusammen gekocht und ich wurde nach meinen Geschmäckern und Vorlieben gefragt. Als ich zu meiner Gastfamilie kam, wurde ich lediglich gefragt, ob ich Vegetarierin sei. „Nein? Gut, denn wir essen fast immer Fleisch.“ Danke der Nachfrage.

Ich bereue es nicht!

Warum sage ich trotzdem, dass es ein großartiges Jahr war? Nun, zum einen konnte ich wirklich viel aus diesen negativen Erfahrungen über mich selbst und den Umgang mit Menschen lernen und hoffe, dass ich niemals einen Menschen so kritisch und distanziert behandeln werde, wie meine Gastmutter und ihre Tochter (der Junge war übrigens meistens okay) mich behandelt haben.

Kommen wir nun zu den positiven Erfahrungen und warum ich sage, dass ich mein Au-Pair-Jahr auf keinen Fall bereue. Ich habe bei einer Punkerlady mit stachligen roten Haaren und verrauchter Stimme mit sehr viel Freude Spanisch gelernt und es bis zum B2-Level für Fortgeschrittene geschafft. Während der Au-Pair-Zeit konnte ich einige Kurzreisen und Ausflüge unternehmen und somit die schönsten Seiten Spaniens kennenlernen. Auch tagsüber hatte ich viel Zeit, um Madrid zu erkunden und habe viele interessante Ecken entdeckt. Ich habe das erste Mal Weihnachten ohne meine Familie verbracht und auch wenn ich für einen Moment traurig war, nicht beim traditionellen Fondue dabei zu sein, war es dennoch eine gute Erfahrung, das Fest mal anders zu erleben. Im Jahr danach habe ich mich umso mehr auf das Familienfest gefreut. Ich hatte zwei Au-Pair-Freundinnen, eine Freundschaft, die auch nach dem Auslandsjahr noch angehalten hat. Zusammen haben wir Ausflüge und Reisen unternommen und konnten über die Unzulänglichkeiten unserer Gastfamilien jammern. Mit einer der Freundinnen habe ich im Anschluss noch eine vierwöchige Backpacking-Tour gemacht, bei der wir fast nur bei Couchsurfer*innen übernachtet haben. In dieser Zeit habe ich Land, Leute, Kultur und Sprache intensiv erlebt.

Als Au-Pair in Madrid
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Amelie Haupt | seitenwaelzer.de
Außerdem bin ich auch verdammt stolz darauf, dass ich meinen Plan von Anfang bis Ende durchgezogen habe, auch wenn es manchmal schwierig war. Diese Erfahrung hat mich in kritische Situationen gebracht, die ich trotzdem überstanden habe. Dadurch habe ich mein Selbstbewusstsein stärken können und gelernt, dass ich ein Problem selbst in die Hand nehmen muss um es zu lösen, denn es wird niemand anderes für mich tun.

Geht also raus in die Welt und testet eure Grenzen aus. Egal ob in einer Schule in Uganda oder als beim Bäume fällen in der Slowakai. Ihr werdet immer auf Probleme mit euren Mitmenschen, der Sprache oder eure eigenen Schwächen stoßen und ihr werdet sie lösen und es wird sich großartig anfühlen.

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