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Wahnwitziger Angriff auf alle Sinne – Review „Ambulance“
Wie im Rausch jagt Michael Bay mit dieser wilden, nonstop Action-Orgie das Adrenalin nur so durch die Adern.
Geschätzte Lesezeit: 10 Minuten
Ich sehe das Licht – wofür stand es noch gleich? Ach ja, die Ampel – auch Lichtzeichenanlage genannt – symbolisiert mir in sanftem Grün: Du darfst jetzt gehen. So richtig ist dieser Impuls aber noch nicht in meinem Gehirn verarbeitet worden. Und so stehe ich auf dem Potsdamer Platz – und starre eine grüne Ampel an.
Nach dieser spektakulären Achterbahnfahrt des Adrenalins müssen sich meine Sinne erst wieder sortieren. Gedanken lassen sich kaum fassen, sinnvolle oder auch nur zusammenhängende Sätze sind keine Option. Kopf und Körper werden momentan nur von diesem fantastischen Rauschzustand dominiert. Jener wird noch länger anhalten, bis er später der Erschöpfung weichen wird. Ein langer Tag hat dann mit einem der wahnsinnigsten Kinoerlebnisse meines bisherigen Lebens seinen krönenden Abschluss gefunden. Dieser Hexenkessel von Kinosaal, diese komplett freidrehenden Menschen, diese ekstatische Atmosphäre – und der neue Action-Action-Action-Kracher von Michael Bay.
Genie und Wahnsinn
Sofern diese Review jemals einen Bildungsauftrag erfüllen sollte, ist der mit besagter Lichtzeichenanlage erfüllt. Mehr kommt da nicht. Wir reden über Michael Bay – oder um den Kritiker-Konsens von Bad Boys II zu zitieren: 2 ½ Stunden von Explosionen und gedankenlosem Geplänkel (Two and a half hours of explosions and witless banter).
Sie alle können heute Abend beim Abendessen ’ne geile Story erzählen.
Namen wie Steven Spielberg, Stanley Kubrick, Ridley Scott oder Quentin Tarantino kennt wahrscheinlich jeder, der sich auch nur ein wenig für Filme interessiert. Michael Bay kennt man allerdings auch – und zwar meistens verbunden mit einer ganz bestimmten Meinung: Sowas kann ja kein Kino sein, da sterben ja alle Gehirnzellen gleichzeitig, warum darf der Mann eigentlich weiterhin Filme machen?
Meine Entscheidung für oder gegen einen Bay-Streifen ist da einfacher:
- Ist der Film für Kinder geeignet? Renn weg, solange du noch kannst! Diese Lebenszeit voller Roboter-Gekloppe bekommst du niemals wieder.
- Ist der Film zwar für Kinder geeignet, aber zielt eher auf Erwachsene ab? Kann man machen, Bruce Willis auf Asteroiden oder Ewan McGregor als Klon sind passabler Zeitvertreib.
- Ist der Film nur für Erwachsene gedreht, wird ständig geflucht, geballert und explodiert immerzu etwas? Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja.
Als ehemaliger Werbefilmer hat der Kalifornier Bay einfach einen magischen Blick für atemberaubende Optiken. Dazu liebt er praktische Effekte wie Pyrotechnik, setzt aber auch auf exzellente Computer-Zauberei. Und beim Sound geht es bei Bay einfach nicht unter dem Maximum. Dass er einem mit dieser Komposition den Kopf zu Brei zermatscht, ist dabei eben Teil des Deals.
Eskapismus aus der Realität
Wobei es genau das ist, was ich an seinen Werken so schätze. Bay reißt einen mit, ob man will oder nicht. Egal, welche Probleme oder Sorgen gerade das eigene Leben gestalten: Während einem Bay-Streifen bleibt einem keine Zeit, auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden. Alle Sinne werden ausnahmslos vereinnahmt – der Zuschauer wird ohne Gnade mitgerissen. So frei im Kopf wird man selten und dieser Effekt hält auch Stunden nach dem Erlebnis an.
Wo Dramen geschaut werden, um mal ein paar Tränen zu vergießen, sollen Horror-Filme einem mit ihren Jumpscares den gewissen Adrenalinkick geben oder Komödien einen lachend vom Stuhl oder Kinositz fallen lassen. Für mich dient das Action-Genre ganz klar der Flucht aus der Realität – und Michael Bay ist darin unbestreitbar ein Virtuose.
Mit dem Krankenwagen durch LA
Wer sich jetzt fragt, wann es denn nun endlich um Ambulance selbst geht, der sollte wieder vor vorne beginnen zu lesen. Es ging schon die ganze Zeit, alle bisherigen Zeilen, um Ambulance. Denn Ambulance ist weniger ein Film, sondern mehr ein Gefühl, ein Zustand, ein Gesamterlebnis.
Die Geschichte von Ambulance lässt sich ohne Witz in einem Satz zusammenfassen: Zwei Brüder rauben eine Bank aus und flüchten danach mit einem Krankenwagen Geiseln durch Los Angeles. Ende. Und die ganze Veranstaltung dauert über zwei Stunden – bitte was?
Weiß Ihre Frau, dass Sie Banken ausrauben?
Das Tempo ist hier tatsächlich einer der faszinierendsten Aspekte. Wo Bad Boys II, Pain and Gain und selbst ein 6 Underground in ihrer Hetzjagd von Action-Sequenz zu Action-Sequenz immer mal wieder kurze Phasen der Entlastung einbauen, wechselt Ambulance nach dem Überfall von atemlos zu hyperkinetisch zu totale Eskalation und wieder zurück. Wie die Bankräuber mehrfach sagen: Wir werden nicht stoppen. Und so stoppt auch dieser Film niemals.
Was dabei vollkommen krank ist und selbst mir immer noch nicht in den Kopf will: Es wird nicht langweilig, obwohl eigentlich nur ein Krankenwagen durch Los Angeles rast, gejagt von der gefühlt hochmotorisiertesten Polizei der Welt. Im Ernst: Da würde jeder Rennwagensammler neidisch werden, was da im Fahrzeugbestand ist.
Charakterzeichnung á la Punkt, Punkt, Strich, Strich
Michael Bay kann durchaus Charaktere: Seien es erfundene Figuren wie die Bad Boys Marcus Burnett und Mike Lowrey, die zumindest unter Action-Fans Kultstatus besitzen, oder Stanley Goodspeed und Patrick Mason, die auf Alcatraz für Ordnung sorgen.
Auch reale Personen baut Bay ordentlich auf, so etwa die Bodybuilder-Truppe Lugo, Doyle, Doorbal aus Pain and Gain und insbesondere die Soldaten in 13 Hours. Ihnen gibt er ausreichend Hintergrund und das Charisma der Schauspieler sorgt für eine gute Bindung ans Publikum.
Ich wollte nur, dass es wieder so wie früher ist.
Bei Ambulance ist das Ganze dann aber sehr rudimentär oder auch gar nicht vorhanden. Eine der Nebenfiguren – tougher Typ – wird über einen riesigen Hund in einem kleinen Auto definiert, weil das ist ja einen Lacher wert. Das war´s. Ein anderer Mann sitzt mit seinem Partner bei der Eheberatung, weil dann kann er ja sagen, dass er krasser ist, als es die Muskelmänner von einem Homosexuellen erwarten würden. Die Schauspieler machen das Beste aus der Sache, aber das ist schlicht keine Charakterzeichnung.
Auch die Hauptfiguren erhalten minimalen Hintergrund. Der eine ist einfach ein notorischer Krimineller, der auf schicke Klamotten steht. Der andere hat zwar seinen Kodex, aber in der Not wird dann eben doch eine Bank überfallen. Und die Sanitäterin ist natürlich völlig beziehungsunfähig, damit auch hier Sprüche gekloppt werden können.
Wir sind nicht die bösen Jungs.
Aber Bay wäre nicht Bay, wenn er das nicht trotzdem irgendwie galant umsetzen würde. So ist die Motivation von Mr. Moral tatsächlich klar verständlich und den Frust über das System fühlt man als Zuschauer direkt zu Beginn mit, wenn es in schier unendliche Warteschlangen geht. Und als Sanitäterin ein kleines Mädchen aus einem Fahrzeug zu retten und Händchen zu halten genügt dann aus, um die notwendige Sympathie aufzubauen.
Die Drei von der Ambulanz
Ambulance verlässt sich in Punkto Story vollständig auf seine talentierten Darsteller. Und das funktioniert.
Mit Jake Gyllenhaal als Bankräuber mit Vorliebe für Kaschmir besetzt man einen extrem wandlungsfähigen Schauspieler. Ob als wilder Cop in End of Watch, Superheld Mysterio in Spider-Man: Far from Home oder Psychopathen in Nightcrawler – Gyllenhaal liefert. Immer. Obwohl er ganz klar der Böse ist und kein Gentleman-Gauner, wie etwa ein Danny Ocean, ist man trotzdem irgendwie fasziniert. Oder fühlt sich bedroht, wenn er mit einer Waffe rumfuchtelt.
Es wird Zeit, dass du was für deine Familie tust.
Ihm zur Seite steht als Bruder Yahya Abdul-Mateen II, der sich etwa als Morpheus in Matrix Resurrections oder dem Remake von Candyman als neuer Stern in Hollywood etabliert. Ihm kaufe ich tatsächlich ab, dass er mit einem Krankenwagen durch die Gegend driften kann – und das ist wirklich eine Leistung. Seine Darstellung eines Mannes mit dem Rücken an der Wand überzeugt, aber auch seine Chemie mit Gyllenhaal stimmt einfach.
Komplettiert wird das Trio von Eiza González. Auch sie ist seit ihrer ersten großen Rolle in Baby Driver in mehreren Major-Produktionen zu sehen, etwa Godzilla vs. Kong, Alita: Battle Angel oder Bloodshot – der war übrigens Käse. Ich hätte nicht unbedingt erwartet, dass sie eine authentische Sanitäterin abgeben kann – wenn wir alle medizinischen Freiheiten von Ambulance mal außen vorlassen. Aber das funktioniert gut, ihre rebellische Art sowieso.
Dauerfeuer an Action und Grinsen
Ok, fassen wir einmal kurz zusammen: Die Story ist ein dünnes Konstrukt, um eine wahnsinnige Hatz durch Los Angeles zu rechtfertigen. Die Hauptcharaktere sind simpel geschrieben, was allerdings von den engagierten Schauspielern kompensiert wird. Nebenfiguren sind eigentlich total egal. Stimmt, Bays unangenehme „comic relief“-Figuren gibt es, die sind mies wie immer. Die sollte er sich einfach sparen – ich sag‘ nur Gehänge von Transformers, ganz scheußlicher Unfug.
Trotz einiger sehr forcierter Gags und sogar mancher Selbstreferenz auf andere Bay-Filme hat Ambulance ein paar dicke Lacher auf Lager. Diese sind clever gesetzt, denn sie entlasten im Action-Dauerfeuer zumindest ein wenig.
Wir sind nur die Jungs, die nach Hause wollen.
Das kommt in aller Bay-Pracht daher. Neben Slow-Motions – kann der Mann einfach – und Explosionen ebenso – hat der Kalifornier offenbar ein neues Stilmittel für sich entdeckt: Drohnenaufnahmen. Wie viele es davon gibt, ist vollkommen verrückt. Die Kamera schwingt, springt, zoomt und fliegt nur so durch die Gegend. Dass dabei einige Aufnahmen direkt hintereinander wiederholt werden – und das kommt mehrfach vor – scheint im Permakrachen einfach egal zu sein, ein witziger Eindruck ist es allemal.
Hyperkinetisches Chaos ohne Sinn und Verstand
Wie gewohnt ist die Schnittfolge schnell und aggressiv, im Vergleich zu 6 Underground zeigen sich aber Fortschritte. Hyperaktiv und kinetisch ja, aber nicht mehr so heftig, dass man direkt fünf Aspirin gleichzeitig einwerfen möchte. Einige Inhalte gehen im Geschüttel der shaky cam zwar immer noch verloren, aber das hält sich im vertretbaren Rahmen.
Was wann, wo, warum passiert, gerät dabei schnell vollkommen zur Nebensache. Autos überschlagen sich, weil sich überschlagende Autos in Slow-Motion eben gut aussehen. Helikopter rasen unter Brücken durch, weil das eben ein krasses Bild ist. Und wenn der zwanzigste Polizeiwagen mit seinen gefühlten 400 PS in Werbeoptik gezeigt wird, dann eben, weil es geil aussieht.
Die Abfolge mancher Sequenzen macht teilweise gar keinen Sinn mehr, aber darum geht es auch nicht. Wenn das Adrenalin anfängt in der Blutbahn so richtig auf Hochtouren zu laufen, werden Unlogiken zwar realisiert, jedoch nicht verarbeitet. Warum auch, die nächste kommt ja schon danach – und es soll doch einfach nur weiterknallen, weiterböllern und weiterrasen. Zumindest bei mir löst das schnell eine Art Rauschzustand aus, der sich in einem wohligen Dauergrinsen äußert. Das wollte ich, das hatte ich erwartet und das bekomme ich also auch.
Dr. Bibber trifft Speed
Insgesamt fehlt Ambulance ein wenig die Möglichkeit, wahre Highlights zu setzen. Aufgrund des pausenlosen Dauerfeuers bleibt einfach kein richtiger Spielraum mehr, um kurz zu bremsen und dann wieder voll durchzustarten – und damit das gewisse Momentum zu erzeugen, welches herausragende Szenen eben herausragend macht.
Die Autobahn-Sequenz in Bad Boys II ist beispielsweise Teil einer Verfolgungsjagd nach einer Verfolgungsjagd mit Schießerei nach einer Verfolgungsjagd. Kurze Verschnaufpausen wie Fahrzeugwechsel oder das Verlassen des Autos sorgen aber für jene minimalen Pausen, die Zuschauer so dringend benötigen. Außerdem werden hier einzelne Sequenz-Elemente anhand eindeutiger visueller und tonaler Grenzen voneinander getrennt – der Autotransporter fährt gegen die wassergefüllten Barrikaden und ein dumpfer Bassschlag leitet die nächste Sequenz dieser ultimativen Verfolgungsjagd ein.
Wenn man während Ambulance und dessen extremen Tempo allerdings denkt, jetzt könne Michael Bay einen nicht mehr überraschen, sich nicht mehr selbst übertrumpfen – dann dreht der Wahnsinn aber mal sowas von auf. Diese Operations-Sequenz im durch LA rasenden Krankenwagen inklusive Live-Stream, während die Helikopter über einem kreisen – unfassbar!
Während der Mund offensteht aufgrund der fast schon grotesk anmutenden Situation, kneten gleichzeitig die Hände, weil es so extrem intensiv und spannend ist. Das Herz donnert schon auf höchster Leistung, schaltet aber für die maximale Grenzerfahrung den Turbo an. Tatsächlich können Worte kaum beschreiben, wie verrückt und packend diese Szene ist. Wenn auch vieles im wahnwitzigen Rausch verschwimmt, das hier bleibt definitiv im Kopf! Diese unbestreitbare Kirsche auf der Torte von Ambulance ist eine von Bays besten Ideen bisher.
Bayhem als fantastisch-fanatischer Eskapismus
Ambulance ist kein Mainstream. Das wäre seichte Unterhaltung, nettes Gedudel, halt einfache, aber ehrliche Unterhaltung. Michael Bays neues Werk ist ein Frontalangriff auf alle Sinne, der auch Stunden danach noch spürbar ist. Es gibt so viele Wirkungstreffer, dass man es erstmal gar nicht verarbeiten kann.
Die Geschichte als Mittel zum Zweck zu bezeichnen, wäre hier schon sehr, sehr gnädig. Bei den Charakteren wurde offenbar nicht mal mehr versucht zu verstecken, dass sie eigentlich total egal sind. Und trotzdem schafft es das Trio aus Gyllenhaal, Abdul-Mateen II und González, den Zuschauer in der permanenten Action an sich zu binden. Die Chemie stimmt und manchmal sogar auch der Witz.
Soll es der ultimative Action-Kick sein? „The Raid 2“ ist ein brachial berauschendes Blutbad.
Optisch ist dieser Actioner mal wieder im besten Werbestil inszeniert – mit einer schnellen und extrem dynamischen Kamera, die aber meistens den Überblick behält. Und wenn mal eine von hunderten Kollisionen untergehen sollte, macht es halt die Masse davon. Der Sound ist wie zu erwarten wuchtig und ins Gesicht, aber so muss es hier auch sein.
Die Logik stirbt keinen Heldentod, denn sie war eh nie eingeladen. Würde es hier eine WTF-Leuchte geben, sie wäre wahrscheinlich dauerhaft an. Aber mit dieser Art und Weise kommen eben manche Leute durch und verdienen damit ihr Geld. Und egal, wie der eigene Geschmack aussieht und man persönlich dazu steht: Bay ist in dem was er macht ein absoluter Meister.
Wir spazieren nicht einfach in den Sonnenuntergang.
Dieses wahnwitzige, niemals stoppende, zum Haare raufende Machwerk des unaufhaltsamen lauten Chaos ist exzellenter Bayhem. Ambulance ist nicht Bays bester Streifen, vermutlich bisher aber sein heftigster, denn das Dauerfeuer an Action hört einfach nicht mehr auf. Bei mir wird er definitiv noch etliche Male laufen. Und zwar dann, wenn es mal wieder Zeit wird, der Realität für etwas mehr als zwei Stunden zu entfliehen und den Kopf vollkommen leerzufegen. Wer exzessiven Rausch möchte, braucht weder Alkohol noch Drogen – Bays Ambulance genügt.
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Daniel Rublack
… schreibt vor allem über Filme. Arbeitet in der „Presse und Kommunikation“ und unterstützt daher mit entsprechendem Know-how.
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