Bildung und Karriere / Gesellschaft und Lifestyle / Interview / Studium
„Arbeit war immer meine Triebfeder des menschlichen Seins“ – Ein Interview
Sie war Physikerin, Lehrerin. Managerin im Umweltsektor, Übersetzerin und Buchhändlerin. Ein Beispiel für einen Lebensweg unterschiedlicher Richtungen.
Geschätzte Lesezeit: 5 Minuten
Anna ist eigentlich ausgebildete Diplomphysikerin, forschte einige Jahre in ihrem Heimatland, war als Lehrerin tätig, migrierte nach Deutschland, wurde in ihrer Ausbildung nicht anerkannt und suchte neue Wege. Sie bildete sich weiter, immer weiter und weiter. Sie arbeitete als Managerin im Umweltsektor, als Übersetzerin, zwischenzeitlich als Buchhändlerin auf 450€-Basis. Ein Porträt des ermutigenden Lebenslaufes einer Akademikerin.
Ich kenne Anna seit Jahren, sie ist eine der engsten Freundinnen meiner Mutter, die Zwei lernten sich im Deutschkurs kennen und stammen beide aus Polen. Oft fuhren unsere Familien zusammen in den Urlaub, gingen in Museen, kochten und backten zusammen, und feierten gemeinsam Geburtstage. Und ich weiß noch, wie ich schon oft meine Mutter als Kind fragte: „Ja aber als was arbeitet die Anna denn? Haben wir nicht ein Wörterbuch von ihr in unserem Regal stehen? Ist sie also Schriftstellerin oder Übersetzerin?“ Die damaligen Erklärungen meiner Mutter, dass Anna nicht nur eine „Arbeit“ oder einen „Job“ gelernt habe, konnte ich damals gar nicht nachvollziehen.
Heute, 10 Jahre später und einige moderne grundlegende gesellschaftliche Überlegungen im Kopf klüger, weiß ich nicht nur, was „Arbeit“ und „Job“ für flexible Gebilde geworden sind. Sondern ich verstehe nun auch, was es bedeutet wie im Fall von Anna, sich nicht nur einem Erwerbstätigkeitsfeld zu widmen, sondern, getrieben von neuen Umständen und Wünschen, seine Arbeitsmotivation immer wieder neu zu erfinden. Aber nun von vorne.
„Am schlimmsten war das Gefühl, als ein Tabula Rasa gesehen zu werden, als ich nach Deutschland kam“
Bei Anna waren es schließlich auch die damaligen bürokratischen Hürden, welche die Anerkennung ihres intellektuellen, menschlichen und leistungskategorischen Wertes rapide sinken ließen. Ihre stetige Motivation war es zu arbeiten, ihr Wesen in einer Weise in die Gesellschaft einzubringen, und am Ende das Gefühl zu haben, etwas Sinnvolles getan zu haben. „Ich glaube, das schlimmste Gefühl ist jenes, sich ungebraucht zu fühlen, wie ich es tat; ich glaube allgemein, dass das im Inneren unsere größte Angst ist, wenn wir an die Begriffe Arbeit oder Job denken. Dass wir nichts finden, wo man unsere Ideen und Geistesblitze, unsere Tatkraft oder Motivation wertschätzt. Deshalb ist Arbeitslosigkeit auch eine sehr unterschätze psychische Belastung“. Starke Aussagen. Und ich verstand mehr und mehr warum ich so von dieser Frau, von ihrer Motivation fasziniert war. Ihre Ansichten über Arbeit als ein menschliches Bedürfnis machten mir Mut. Mut dazu, dass man auch nach langen Wegen die von Frust geprägt waren, Erfüllung zu finden kann.
„Erst Physik, dann Umweltmanagement, dann Modeverkäuferin“
Kein Wunder, dass ich als Kind keinen Durchblick hatte, was Anna denn nun „sei“ und studiert oder „gelernt“ hatte. In meinem Kopf gab es dieses Bild von verschiedenen Tätigkeiten gar nicht. Ich wollte aber jetzt mehr darüber erfahren wie und wo Anna denn schon überall gearbeitet hat und wir trafen uns dazu erst letztens zu einem langen und inspirierenden Gespräch. Sie erzählt, wie sie von den verschiedenen Forschungszentren abgelehnt wurde und ihre wissenschaftliche Karriere erst einmal auf Eis legen musste. Erst ab den 1990er Jahren hätte sich in Deutschland mehr getan, was Anerkennung und Wertschätzung ausländischer Ausbildungen anbelangt, erklärt sie mir. „Man wurde wirklich wie ein Teilchen im System definiert. Meine Fähigkeiten, die ich hatte, waren vollkommen obsolet geworden.“
„Wie ging es dann für dich weiter?“, fragte ich sie. Und ich schreibe ungefähr eine Seite an verschiedenen Tätigkeiten auf – die seitens Anna alle mit einem Lächeln begleitet wurden. „Nun, ich machte viele Weiterbildungen, die entweder von Universitäten, oder auch dem Arbeitsamt organisiert wurden. Ich war sogar zwischenzeitlich Gasthörerin in Fächern wie Maschinenbau oder Soziologie. Bei Bildung gibt es schließlich keinen Stillstand.“ Nach den Weiterbildungen habe sie an verschiedenen Projekten mitwirken können, eben auch an jenem Buch, welches bei uns im Regal steht.
Nach diesem Gespräch musste ich lange nachdenken. Ich war beeindruckt, motiviert und überrascht. Was konnte ich von Annas Lebenslauf lernen? Ich hatte das Gefühl – eine Menge. Eine Menge weiser Ratschläge. Was empfiehlt sie Studierenden wie mir, die entweder noch keinen definierten Berufswunsch haben, oder die sich vorstellen könnten, in verschiedenen Bereichen arbeiten zu wollen?
Die Überzeugung des eigenen Wertes in sich tragen
„Weißt du, meine persönliche, größte Motivation war tatsächlich, zu arbeiten. Das war für mich immer Nahrung für die Seele. Vorausgesetzt, sie war selbstbestimmt, und ich musste mich nicht – wie mir die netten Damen im Arbeitsamt unter die Nase reiben wollten – erniedrigenden Worten beugen, dass ich als Ausländerin mit sehr guten Deutschkenntnissen keine gute Arbeit finden würde. Arbeit war für mich immer ein menschliches Bedürfnis, die Möglichkeit, Menschen Gutes zu tun – egal auf welcher Weise. Das war für mich immer etwas Positives und eine richtige Triebfeder, wie man so schön metaphorisch sagt. Und wenn ich das nicht auf jenem Weg tun kann, dann auf anderen Wegen. Ich kann da nur für mich sprechen, jedoch würde ich es als essenziell ansehen, sich stetig über seinen Wert bewusst zu sein“.
Ja, das hört man ja oft. Sich seines Arbeitsprofils, seiner Kompetenzen und seines Wissens bewusst sein, ist einer der Gründe, bei Arbeitgebern punkten zu können. Anna lacht, als ich meinen leicht zynischen Kommentar einwerfe. „Das kommt in den ersten Momenten arrogant oder selbstüberschätzend rüber, wenn ich das so sage, aber mich hat in meinem Arbeitsleben ständig die Gewissheit angetrieben, dass ich etwas Wert bin und etwas kann. Ob ich nun die Straße kehre, etwas backe oder amüsante Texte schreibe – alles, was der Gesellschaft dient, ist gute Arbeit, und alles sollte auch so behandelt werden.“
Sie rät uns Studierenden: Probiert alles aus! Auch, wenn man zehnmal auf die Nase fällt, das elfte Mal wird es was! „Nach so vielen Absagen und Demütigungen aufzugeben, hätte mich in ein tiefes Loch gedrängt, weil ich das Wichtigste dabei verloren hätte: meine Selbstachtung und meine tiefe innere Überzeugung, dass es für jeden Menschen eine passende Aufgabe gibt.“
Unterstützen
Wenn dir der Beitrag gefallen hat, würden wir uns über eine kleine Spende freuen.
Noch mehr Stories? Folge seitenwaelzer:
Jasmin Larisch
Hej! Ich bin Jasmin, von meinen Freunden meist 'Mini' genannt, bin 21 Jahre alt und studiere seit Herbst 2015, Soziologie und Kultur-und Sozialanthropologie (=KuSA) an der WWU. Münster hat es mir sehr angetan- Unileben, Kultur, Kunst, junge interessante Leute überall! Das Leben als Studierender ist aufregend, bunt, vielseitig und manchmal echt tricky- so hoffe ich, zusammen mit meinem Team, euch ein paar Tipps und Anstöße geben zu können. Seit 2015 bin ich deshalb als freie Autorin bei seitenwaelzer.de und habe nach wie vor viel Freude daran. Viel Spaß beim Lesen!
Im Wandel (Teil 2): Wie die Literatur Frauenbilder widerspiegelt
Im Wandel (Teil 1): Frauenbilder der westlichen Welt
Bookstock-Festival für alle Buchliebhaberinnen und -liebhaber
Neu in Münster? – Die Hotspots, die man kennen sollte
Tags: AkademikerArbeitAuslandBildungGesellschaftGradImmigrationInterviewLebenLebenslaufLebenswegTriefbederwas soll ich tunwelcher JobZukunft