Gesellschaft und Lifestyle

Studentenleben – Bin ich ein Klischee?

Mit 16 Jahren war mir ziemlich klar, wie man seine Studienzeit verbringen sollte: Auf coolen Parties linkspolitisch-philosophische Diskussionen über die Rettung der Welt führend! Jetzt blicke ich auf mein Leben und frage mich: Bin ich ein Klischee?
| Amelie Haupt |

Geschätzte Lesezeit: 4 Minuten

Studentenleben KölnAnna-Lena Vohl

Mit 16 Jahren war mir ziemlich klar, wie man seine Studienzeit verbringen sollte: auf coolen Parties linkspolitisch-philosophische Diskussionen über die Rettung der Welt und der Wale führen und dabei natürlich Gras rauchen. Geht eigentlich noch mehr Klischeé? Aber ohne Scheiß, so habe ich mir mein Leben Anfang 20 vorgestellt.

10:00 Uhr am Sonntagmorgen. Ich bin seit einer Stunde wach und schmökere ein wenig in einem Werk von Isabelle Allende. Die Kirchenglocken hallen durch die Straße und erinnern mich daran, dass ich um 11:00 Uhr mit FreundInnen verabredet bin. Gut, dann heißt es wohl aufstehen und den Tag begrüßen. Dazu stelle ich mich auf meine Yogamatte und praktiziere drei Mal den Sonnengruß, bewege meine Hüften in Kreisen und aktiviere meine Chakren mit der vollständigen Yogaatmung.
In der Küche schneide ich die Galiamelone, die ich beim lokalen, marokkanischen Supermarkt gekauft habe und hole den übriggebliebenen Hummus von gestern aus dem Kühlschrank. Alles vegan.

500 Meter weiter die Straße runter klingele ich bei einer 3er WG und laufe die Treppen hoch in den zweiten Stock. Mark öffnet mir dir Tür, wir umarmen uns zur Begrüßung und ich betrete die Wohnung. In der Luft hängt ein leichter Zigaretten-Muff.
Ich bin 15 Minuten später als die ausgemachte Zeit und somit natürlich die Erste aus der Runde.
Nach und nach kommen die anderen Gäste zu unserem Wahltagsfrühstück. Richtig gelesen, wir zelebrieren unsere Volkspartizipation mit einem Frühstück und gehen dann gemeinschaftlich zum zugeordneten Wahllokal, um unser demokratisches Kreuz zu setzen. Schnell erkläre ich, dass ich bereits per Briefwahl meine Stimme abgegeben habe, damit niemand denkt, ich würde unser Privileg nicht nutzen. Ich bin neu in diesem Freundeskreis und mich beschleicht das Gefühl, dass eine unpolitische Einstellung mich schneller aus dieser Clique katapultieren würde, als ich „sozialer Gruppenzwang“ sagen könnte.
Ich setze mich an den nun reichlich gedeckten Tisch. „Potluck“ heißt es, wenn jede/r was mitbringt und alles geteilt wird, denn „sharing is caring“, wie es so schön heißt. So sozial-fürsorglich wir unser Essen miteinander teilen, teilen wir auch ein gemeinsames Verständnis von Politik und somit lag bei uns allen die MLPD (marxistisch-leninistische-Partei Deutschlands) bei unseren Wahl-o-Mat-Ergebnissen sehr weit vorne. Doch wir sind uns ebenfalls alle einig, dass diese Partei uns doch ein wenig zu extrem links auf dem politischen Spektrum liegt. WG-Bewohner Tiffi dreht sich zu dieser Erkenntnis erst einmal einen Joint und ich runzle amüsiert die Stirn, weil ich mich in dieser Sekunde an die Wunschfantasie meines 16-jährigen Ichs erinnere. In solchen Momenten kommt mir mein eigenes Leben, wie ein abgehalftertes Klischee vor. Würde ich es in einer Vorabendsendung sehen, würde ich sagen, dass meine Figur völlig überzogen dargestellt wird.

„Ahhh, die gute Räuchersalamie mit extra dicken Scheiben. Die mag ich besonders gerne.“
*Record scratch* *Freeze Frame*
Whaaaaat?
Mein Vorabendsendungsklischee der veganen, linkspolitischen, Cannabis-rauchenden Studibude wird mit einem fettig-würzigem Fleischgeruch zunichte gemacht.

Vor meiner Nase schwebt eine Plastikpackung mit der verteufelten Wurst und wird dankend von meinem Gegenüber abgenommen. Na gut, ich habe eigentlich kein Recht die Nase zu rümpfen, weil ich selbst ab und an noch Fleisch esse. Aber wenigstens kaufe ich es nicht mehr ein und erst recht nicht diese furchtbare Scheibenwurst vom Discounter. Ich bestreiche demonstrativ mein Vollkornbrötchen mit selbstgemachter Guacamole und streue ein paar Granatapfelkerne drüber.

Im Gespräch mit meinen SitznachbarInnen reden wir so über dies, das und Ananas, aber zu meiner großen Überraschung kommt es nicht zu hitzigen Diskussionen über Politik und Revolution. Ehrlich gesagt bin ich allerdings recht froh darüber, weil ich politisch so schrecklich uninformiert bin, dass ich keinerlei Argumentation standhalten könnte. Außerdem sind wir vermutlich ohnehin viel zu homogen in unseren Ansichten, als dass wir im Wortgefecht einander geraten könnten. Hauptsache gegen Rechts und den Konservatismus.
Der Joint wird angeboten und niemand zeigt sonderlich Interesse an der Droge. Ich lehne ebenfalls dankend ab, weil ich vom Tabak schnell Kopfschmerzen bekomme und auch von Alkohol habe ich in letzter Zeit Abstand genommen.
Nach dem Wahlgang warten wir kurz den Regenschauer ab, um dann bei einem langen Spaziergang zum Rhein die Sonnenstrahlen zu genießen.

„Punk is dead“, denke ich und frage mich, was wohl mein 16-jähriges Ich dazu sagen würde. Ich würde zwar immer noch gerne die Welt und die Wale retten, aber ich fürchte es ist nicht damit getan, keinen Dosenthunfisch mehr zu kaufen, wenn am anderen Ende der Welt noch immer radioaktive Substanzen in unsere Meere fließen. Auch die Politik macht mir längst keinen Spaß mehr, weil sich der deutsche Staat in einem zermürbenden Schneckentempo bewegt und ich keine rechte Begeisterung aufbringen kann, mich neben Vollzeitstudium noch politisch zu engagieren.
Dennoch und zu meinem eigenen Überraschen haben sich meine Ideale und Werte in den letzten Jahren kaum verändert. Nicht einmal ein BWL-Studium konnte mich in meinen Grundsätzen erschüttern! Nur bin ich realistisch geworden und habe erkannt, dass ich selbst als flammende Greenpeace-Aktivistin vielleicht ein paar Wale, aber längst nicht die Welt retten könnte.
Ein Klischeé bin ich wohl nicht geworden, da muss ich mein 16-jähriges Ich enttäuschen, aber dafür bin ich real.

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