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,,Dieser Krieg macht keinen Sinn“

Am Donnerstag, den 24. Februar, begann Russland den Angriffskrieg auf die Ukraine. Für uns junge Europäer*innen ist es der erste […]
| Felicia Holtkamp |

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unbekannt

Überall in Deutschland finden Demonstrationen für den Frieden statt.

Am Donnerstag, den 24. Februar, begann Russland den Angriffskrieg auf die Ukraine. Für uns junge Europäer*innen ist es der erste Krieg in Europa, den wir miterleben. Der Lette Matiss, die Französin Candice und der Russe Ionas erzählen von ihren Gefühlen und Sorgen bezüglich des Krieges zwischen Russland und der Ukraine.

Das erste Mal von den Spannungen zwischen der Ukraine und Russland hatten Matiss, Candice und Ionas gehört, als die Krim im Jahre 2014 von Russland annektiert wurde. Nachdem Russland dann seine Militärpräsenz an den ukrainischen Grenzen im November 2021 erheblich verstärkt hatte, begannen die drei das Geschehen mit größerer Aufmerksamkeit zu beobachten. „Es war am frühen Morgen des 24. Februar, als ich von der russischen Invasion erfuhr, weil ich in den Nachrichten davon gelesen hatte“, erinnert sich Matiss. Wie dem Studenten aus Lettland erging es an diesem Tag Millionen Menschen weltweit. Das Entsetzen über den Angriff war zwar groß, aber viele hatten diesen Schritt von Putin bereits erwartet. „Ich konnte nicht glauben, dass Putin nicht versuchen würde, die Ukraine anzugreifen“, meint Candice „Für mich war es offensichtlich, dass etwas passieren würde, militärisch gesehen.“ Der Russe Ionas hingegen nahm die Drohungen Putins zuvor nicht besonders ernst: „Russland ist eine Autokratie, die die Menschen mit Propaganda davon überzeugen will, dass sie eine legitime Regierung bildet. Im Fernsehen erschafft sie ihre eigene Realität und es schien mir wie ein weiterer Krieg, der nur im Fernsehen existierte.“ Als Ionas dann von dem Einmarsch in die Ukraine aus den westlichen Nachrichten erfuhr, war er schockiert: „Ich hatte nicht erwartet, dass ein echter Krieg beginnen würde.“

Auch im Baltikum steigt die Sorge um einen Angriff Russlands

Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine besorgt besonders den Letten Matiss, der ein Jahr nach der Auflösung der Sowjetunion geboren wurde. Seine Großeltern und Eltern erzählten dem 29-jährigen bereits von klein auf, wie es für sie in den baltischen Staaten war, unter der Sowjetunion zu leben. „Aus diesen Gründen löst jede russische Militäraggression Zweifel und Ängste in mir über die Zukunft meines eigenen Landes aus“, berichtet Matiss. „Nach der russischen Invasion in der Ukraine wurde mir klar, dass die baltischen Staaten in eine verwundbare militärische Lage geraten würden, sollte die Ukraine fallen. All dies hat mich dazu gebracht, den russischen Einmarsch sehr persönlich zu nehmen.“

Um 9 Uhr am Morgen des 24. Februars bekam Ionas einen Anruf von seinem besten Freund. „Er sagte, dass er Russland verlassen wolle. Ich fing daraufhin an nach Ländern zu suchen, in die wir ohne Visum einreisen konnten“, erzählt der 18-jährige. Zwei Stunden später buchten die beiden Freunde einen Flug, der um 15 Uhr des gleichen Tages in die Türkei ging. „Ich schnappte mir alle meine Dokumente, ein paar Klamotten und rannte zur Metro, um mich mit meinem Freund zu treffen und zum Flughafen zu fahren. Es war beängstigend, weil man nicht wusste, was in den nächsten Stunden passieren würde.“ Um 19 Uhr landen Ionas und sein Freund in Istanbul. „Ehrlich gesagt wäre ich nicht allein gegangen“, meint Ionas „aber ich denke, es war die richtige Entscheidung mit meinem Freund Russland zu verlassen.“

Während Ionas aus seiner Heimat flieht, überlegen Matiss und seine Familie, was sie tun würden, wenn die Ukraine fällt. „In meiner Familie haben wir einen Krisenplan erstellt, was zu tun ist, wenn Russland den Frieden im Baltikum oder in anderen europäischen Ländern bedroht.“ Falls Russland die baltischen Staaten angreifen sollte, würden Matiss und seine Familie vorerst zu Freunden nach Dänemark oder Schweden gehen, um die Situation von dort aus zu beobachten.

Der Russe Ionas ist bereits geflohen, der Lette Matiss hat einen Fluchtplan, doch auch die Französin Candice fühlt sich nicht sicher. „Frankreich ist ziemlich in den Konflikt verwickelt, und ich bezweifle, dass kein anderes Land militärisch eingreifen wird. Dieser Eingriff würde dazu führen, dass Russland andere Länder wegen ihrer Einmischung angreift“, sagt die Studentin. „Ich befürchte, dass sich der Kampf auf andere Länder in Europa ausweiten und zu einem Dritten Weltkrieg führen könnte, besonders weil Länder wie Frankreich ebenso wie Russland über Atomwaffen verfügen.“

Die Angst vor einer Ausbreitung des Krieges

Ob sich auch andere Länder militärisch an dem Krieg beteiligen werden, ist noch nicht abzusehen. Bisher kam es nur zu Waffenlieferungen einiger europäischer Staaten wie Tschechien, der Niederlande oder auch Deutschland. Die Sorge davor, dass sich der Krieg weiter ausbreitet, ist dennoch vorhanden. „Lettland ist meine Heimat, und ich hätte Angst, dass in unserem Gebiet ein Krieg ausbricht. Da Lettland jedoch Teil der NATO ist, fühle ich mich sicherer“, berichtet Matiss. „Ich denke, es ist gut, dass Frankreich so weit involviert ist. Wenn so etwas passiert, kann man sich nicht einfach hinsetzen und zusehen. Im Moment geht es nur um Sanktionen für Russland und Waffenlieferungen an die Ukraine. Aber ich bin etwas zurückhaltend, was die militärische Beteiligung meines Landes angeht, denn ich weiß nicht, wie sich das auf unsere Sicherheit als Nation auswirken könnte“, gibt auch Candice zu bedenken. Zudem steckt Frankreich in einer schwierigen Situation, da im April die Präsidentschaftswahlen anstehen. „Ich fürchte, dass es keinen richtigen Wahlkampf geben wird. Später könnte behauptet werden, dass die Wahl von der Situation überflutet wurde und die Ergebnisse eine Folge der durch den Krieg verursachten Instabilität sind“, meint die Französin. Nachdem Ionas in die Türkei geflohen ist, hält er sich nun in Bosnien-Herzegowina auf. Aus Russland konnte er flüchten, jedoch nicht vor der eigenen Angst. „Ich fürchte, meine Zukunft wegen eines alten Mannes zu verlieren, der verrückt geworden ist. Ich habe Angst vor Putin, weil all seine Worte in der Vergangenheit über die Zerstörung der ganzen Welt durch Atomwaffen jetzt möglich erscheinen“, sagt Ionas. „Ich habe Angst, dass er tatsächlich bereit ist, die ganze Welt zu zerstören, weil er nicht gerne verliert. Er hat bereits damit begonnen, die Ukraine und Russland zu zerstören.“

Wir jungen Europäer*innen hatten lange Zeit ein Privileg, dass unsere Großeltern nicht hatten: ein Europa vereint im Frieden. Wir kannten das Gefühl der Angst vor einem Krieg nicht. Matiss, Candice und Ionas stehen beispielhaft für Millionen junger Europäer*innen, die im Baltikum, in Westeuropa, in Russland oder in anderen Teilen Europas leben. Uns alle eint nicht nur die Sorge und die Trauer um das Leid der Ukrainer*innen, sondern auch der Wille, Europa zusammenzuhalten und zu stärken. Der in Russland geborene Ionas hat somit vollkommen recht, wenn er sagt: „Dieser Krieg hat keinen Sinn.“

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Felicia Holtkamp

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