Kultur und Medien / Meinung

Ehrenamt und Inklusion

Erst neulich habe ich einen sehr informativen Artikel in der FAZ zum Thema „Inklusion“ gelesen. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie mich das Wort – vor allem während meiner Schulzeit – hat aufhorchen lassen.
| Nelly Langelüddecke |

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Nelly Langelüddecke

Erst neulich habe ich einen sehr informativen Artikel in der FAZ zum Thema „Inklusion“ gelesen. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie mich das Wort – vor allem während meiner Schulzeit – hat aufhorchen lassen. Daran, wie naiv und unreflektiert Lehrer wie Schüler sich dazu geäußert haben. An die Debatte, ob man es moralisch vertreten kann, ein Kind abzutreiben, wenn man vor seiner Geburt erfährt, dass es nicht ganz gesund zur Welt kommen wird. Nicht „normal“. Was ist schon normal?


Seit ich sechs Jahre alt bin halte ich mich eine Woche der hessischen Sommerferien in einem Johanniter Sommerlager für „behinderte Menschen“ im Wald außerhalb eines kleinen Örtchens auf. Wie das so ist in jungen Jahren, ist man „das Kind von…“, das den „Großen“ vor allem im Weg herumsteht, die Natur genießt (in Bächen planscht, Verstecken im Wald spielt) und auch sonst noch nicht in der Lage ist, sich tatsächlich konstruktiv einzubringen.

Erst in der letzten Dekade bin ich aktiv in den Lagerprozess, insbesondere in die Gästebetreuung, mit eingebunden. Die Idee des Lagers ist es, den rund 25 Gästen eine Woche Urlaub zu ermöglichen. Unsere Zeit ist gespickt mit Tagesausflügen, therapeutischem Reiten, Workshops und anderen gemeinsamen Aktivitäten. Die Gemeinschaft steht generell die ganze Woche über im Vordergrund.

Nach dieser Zeit befällt uns alle die sogenannte „Post-Lager-Depression“ (PLD). Auch wir Betreuer fallen nach dieser unfassbar eindrücklichen und auch anstrengenden Woche in ein Loch. Vor allem Verlustängste à la:“ Wie soll man es alleine – ohne seine Lagerfamilie – bis zum nächsten Jahr überstehen?“ (unbegreiflicher Weise klappt es immer irgendwie…) bestimmen die „Tage danach“.

Durch diese besondere zwischenmenschliche Verbindung und das Strahlen, welches man spätestens nach Überwindung von Heimweh und Co. ringsherum sehen kann, entstanden über die Jahre hinweg besondere Freundschaften. Zwischen einigen Gäste und Betreuern haben sich sehr starke Bande gebildet und gerade deshalb ist es jedes Jahr aufregend, einen Blick auf die Teilnehmerlisten zu werfen.

Eine ganz besondere Freundschaft ist zwischen mir und einigen anderen Betreuerinnen entstanden. Und einige von uns kamen im Jahr 2012, sicherlich beeinflusst von den Eindrücken des damaligen Lagers, auf eine Idee. Inspiriert von einem YouTube Video aus den Vereinigten Staaten, planten sie, einen Ball nur für „behinderte Menschen“ zu organisieren. Viele unserer Lager-Gäste haben sich nicht zweimal fragen lassen, auch an diesem Event teilzunehmen.
Auslöser war der Momentanzustand, dass viele Kinder in der 8. oder 9. Klasse zwar einenTanzkurs inklusive Ball machen und gerade in den Staaten der „Prom“ ebenso zum Schulabschluss gehört wie Zeugnisse und das Gefühl „Juhuuu, das war’s“!, allerdings „behinderte Kinder“ oft zu kurz kommen. Warum also nicht ein Abend, an dem unsere Gäste ganz im Mittelpunkt stehen?

Vor allem angespornt vom ausschließlich positiven Feedback fand im Herbst 2015 eine Neuauflage statt. Das Organisationsteam hat sich von der Zusammensetzung ein wenig geändert (ich bin dazu gestoßen), aber die Idee ist die gleiche geblieben: Spaß bei Musik und Tanz, gemeinsames Essen und viele andere kleine Highlights; alles mit dem Ziel ein Lächeln auf den Gesichtern zu kreieren. Was für den Schauspieler oder Musiker der Applaus ist, ist für uns lautes Lachen aus der einen Ecke, elterliche Freudentränen aus der anderen. Das ist das Ergebnis des Abends:

 

 

Sicherlich ist unser konkreter Bezug zu den Themen „Behinderung“ und „Inklusion“ das Produkt unseres Aufwachsens mit eben jenen. Natürlich gibt es Menschen wie uns, die nicht mal auf die Idee kommen würden, Berührungsängste aufzubauen.
Doch was ist mit denen, die eine latente Abneigung dem Fremden gegenüber verspüren? Kann man sie wirklich dafür verurteilen oder muss unsere Gesellschaft nicht vielmehr Sorge dafür tragen, dass solche, oder ähnliche Barrieren überhaupt nicht erst entstehen?
Ich wünsche mir, dass in Deutschland eine Debatte über den Begriff „Normalität“ geführt wird. Ist normal, was die Mehrheit ist oder vertritt? Oder ist „normal“ nicht viel eher eine unzulässige Wertung, die großartige Individualität – Stärken und Schwächen – auszumerzen versucht? Denn letztlich ist auch der Hochbegabte, der ZU Zapplige, der ZU Lustige einer, der von der „Norm“ abweicht.

Der Begriff der Normalität sollte hinsichtlich gewisser Themen nicht mehr im Vokabular der öffentlichen Debatte auftauchen. Wieso nennen wir Menschen überhaupt „behindert“? (Ich habe es in den obrigen Zeilen oft genug getan.) Es gibt viel schönere Worte, die den Menschen hinter diesem stigmatisierenden Begriff wertschätzen: „andersbegabt“ ist mein persönlicher Favorit. Eine unserer Gäste ist schon zum x-ten Mal dabei. Sie ist eine richtige Rampensau.
Sobald zwei Kilometer entfernt Musik ertönt, kann man sicher sein, dass ihr ihr „sechster Sinn“ schon mitgeteilt hat, dass sie gleich wird auftreten können. Ihre Energie, ihre gesangliche und tänzerische Begabung sind umwerfend. Ob sie jetzt Trisomie 21 hat oder nicht: Mal ehrlich, wen interessiert’s? Nur solche Menschen, die nicht in der Lage sind zu erkennen, dass jedes Leben ein einziges Wunderwerk ist, unabhängig von Geschlecht, Alter oder Diagnose.
Ich bin davon überzeugt, dass viele kleine Projekte es schaffen, einen neuen Tonus in den hintersten Winkeln der Republik zu etablieren. Vielleicht steckt in einem Menschen, der sich an den verbreiteten Beleidigungen „Behindi“ oder „Spasti“ nicht stört, ein heimlicher, es nur noch nicht auslebender Ehrenamtler. Vielleicht muss man unentdeckte menschliche Ressourcen nur finden und sie zum Leben erwecken.

Auf dass viele Kreative sich engagierte Aktionen ausdenken und mit ihnen zum Fortschritt einer gesellschaftspolitischen Debatte beitragen. Und wenn wir Blogger, „Eventmanager“ und andersgeartete Ehrenamtler nur der Ausgangspunkt sind: Vielleicht sind wir Inspiration für andere, es uns gleichzutun.

Dieser Artikel stellt nur die Meinung der AutorInnen dar und spiegelt nicht unbedingt die Ansichten der Redaktion von seitenwaelzer wider.

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Nelly Langelüddecke

Studiert in Münster, liebt ihre Ehrenämter, turnt nebenbei in der Weltgeschichte herum und hat stets mit hochphilosophischen Gedanken zu kämpfen. Mal sehen, was sich davon in ihren Artikeln niederschlägt.

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