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Tinder, Tinder… Hochzeit und Kinder?

Tinder hat einen schlechten Ruf. Obwohl es mit über 100 Millionen Nutzern die weltweit beliebteste Dating-App ist, wird in den […]
| Lotta Krüger |

Geschätzte Lesezeit: 6 Minuten

tinder3194556 | Pixabay

Tinder hat einen schlechten Ruf. Obwohl es mit über 100 Millionen Nutzern die weltweit beliebteste Dating-App ist, wird in den meisten Kreisen doch eher abfällig als unkomplizierter One-Night-Stand-Lieferant darüber gesprochen, der für alles, was darüber hinaus geht, ungeeignet sei. Aber ist es wirklich so schlimm?

Klar – das Prinzip ist oberflächlich. Man entscheidet aufgrund einiger – oder gar nur eines – Fotos und einem winzigen Text – wenn überhaupt – darüber, ob man die dargestellte Person kennenlernen möchte. Ist das der Fall, wischt man nach rechts. Bekommt man daraufhin die Benachrichtigung, ein „Match“ gefunden zu haben, bedeutet das, dass man dem Anderen ebenfalls gefallen hat, und die Möglichkeit einen Chat zu starten, erscheint. Wischt man allerdings nach links, verschwindet das Profil auf Nimmerwiedersehen und man braucht nicht befürchten, von dieser unerwünschten, weil unattraktiven Personen zugespamt zu werden. Soweit das Prinzip.

Ein kürzlich bei uns auf seitenwaelzer erschienener Artikel sorgte allerdings in der Redaktion für große Diskussion. Er stellte vor allem die Tinder nutzenden Männer als primitive, triebgesteuerte, frauenverachtende und unemanzipierte Monster dar.

Lies hier den Artikel „Tinder, Tinder, Chickendinner“ aus der Kolumne Catch Me Random

„Hat noch jemand das Gefühl, dass der neue Artikel Männer ein wenig unterkomplex darstellt?“, lautete die erste, noch zaghafte Kritik einer unserer Redakteure. Diese stieß fast einvernehmlich auf Zustimmung, wobei auch angemerkt wurde, dass „über Sexismus zu schreiben, ohne sexistisch zu sein, wohl auch nicht der leichteste Balanceakt“ sei. Die bissigen Formulierungen des Artikels hatten aber „bei allem Respekt gegenüber Meinung und Selbstentfaltung“ einen bitteren Beigeschmack. Beleidigungen wie Spast, Grottenolm und Vollhonk als Bezeichnung für tindernde Männer, die dabei angeblich nur nach „fickbar“ und „nicht fickbar“ selektieren würden – schert man nicht genau damit Geschlechter über einen Kamm?

“Zu schreiben, dass Tinder eine Sex-App ist und im gleichen Text zu behaupten, Männer seien triebgesteuerte Monster, weil sie diese App benutzen, steht für mich rein logisch im Widerspruch!“ Damit lieferte einer unserer Autoren ein schlagendes Argument. Wenn Tinder wirklich die Sex-App ist, wie ihr Ruf ihr vorauseilt, müssten dann nicht tindernutzende Frauen ebenso triebgesteuert und oberflächlich sein? Oder suchen diese naiv und etwas verblendet in der App nach der großen Liebe?

Ich konnte mich der hitzigen Diskussion ebenfalls unmöglich entziehen – schließlich lud ich mir die Tinder-App selbst vor etwa anderthalb Jahren auf mein Smartphone. Frisch getrennt, das Alleinsein nicht gewohnt, war eher ich – also die Frau – es, die auf der Suche nach ein bisschen Ablenkung und körperlicher Nähe war und um Himmels Willen nicht direkt in die nächste Beziehung schlittern wollte. Aber wie man weiß: Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt. Ich swipte einige Tage herum, führte den ein oder anderen belanglosen Dialog und merkte schnell, dass die Vorurteile nicht komplett unbegründet waren. Nach dem ersten Smalltalk à la „Hübsche Bilder“, „Was studierst du“, „Wo kommst du her“, und „Was machst du sonst so“ kamen einige der Männer direkt auf den Punkt und fragten, worauf man so im Bett stehe oder – wenn auch nicht ganz so direkt – ob man noch für eine schnelle Nummer vorbeikommen würde. Obwohl ich ja eigentlich auf nichts Anderes aus war, war mir das dann doch suspekt. Wie eigenartig musste es sein, schon bei der Begrüßung eines Fremden zu wissen, dass man wenige Minuten später eine der intimsten Erfahrungen miteinander teilen würde, zu der doch so viel Vertrauen gehörte? Auf ein Sex-Date ließ ich mich also nicht ein.

Dann gab es aber auch viele wirklich nette Jungs, die tatsächlich auf der Suche nach einer ernsthaften Beziehung zu sein schienen. Mit denen schrieb ich länger und auch mal etwas tiefgründiger hin und her. Aber spätestens, wenn zur Sprache kam, dass ich erst seit kurzem Single und daher noch nicht wieder bereit für etwas Festeres – geschweige denn zu einem Kaffee-Date – war, wünschte man sich freundlich viel Erfolg auf dem weiteren Weg.

Ich begann zu zweifeln: Wieso bin ich überhaupt bei Tinder? Ich war dem immer wieder gleichen Smalltalk mit den neuen Matches, der sich nun mal nicht vermeiden ließ, schon jetzt überdrüssig, aber immer noch allein. Ich wollte ja Leute kennenlernen, aber nicht so gezwungen wie auf einem Blind-Date!

Also begann ich, wenn ich abends mit Freunden in der Altstadt unterwegs war, den mir interessant erscheinenden Männern zu schreiben, ob sie ebenfalls irgendwo in der Nähe den „Sprittwoch“ zelebrierten. So, dachte ich, könne man sich ungezwungener, mit ein paar Bier intus und jeweils ein paar Freunden dabei, quasi „zufällig“ das erste Mal begegnen.

Mit diesem Hintergedanken hatte ich unter anderem Michel angeschrieben, dessen Kurztext im Profil „Ich kann dass von das und seid von seit unterscheiden“ mich als Germanistin natürlich sofort angemacht hatte. Eines Abends war Michel – genau wie ich – mit seinen Leuten in der Jüdefelder unterwegs. Mein Plan ging allerdings nicht auf, weil wir uns, wahrscheinlich auch aufgrund der nicht unerheblichen Menge an Long Islands, stets verpassten: War der eine in der Davidwache, war der andere schon ins Barzillus gewechselt, kam der eine in der Dille an, saß der andere schon mit Döner beim Altstadt-Grill.

Die Konversation war trotzdem witzig, und so wechselten wir am nächsten Tag verkatert von Tinder zu Whatsapp, wo wir uns nun auch ein bisschen genauer kennenlernten. Nach ein paar Tagen schlug Michel dann aber doch ein „normales“ Date vor, aber immerhin nicht am helllichten Tage auf einen Kaffee, sondern auf ein Bier in der Cavete. Na gut, dachte ich mir. Darauf, dass wir uns irgendwann zufällig und ungezwungen begegnen würden, konnte ich mich nicht verlassen, und was hatte ich zu verlieren? Aus dem einen Bier wurden an dem Abend vier, die wir während drei Stunden angeregten Unterhaltens über Gott und die Welt tranken und gar nicht mitbekamen, wie die Zeit verging. Bei der Verabschiedung, bei der es noch nicht mal einen Kuss gab, dachte ich mir nur: Egal, wie diese Sache weitergeht, mit Michel will ich unbedingt befreundet sein. Ab da sahen wir uns alle paar Tage, und obwohl wir auch schnell begannen, miteinander zu schlafen, taten wir erst einmal genau das: Wir wurden beste Freunde. Michel war – zum Glück! – sensibel genug, um zu merken, dass ich für alles Weitere, Verbindliche und Ernstere noch nicht bereit war. Er machte mir keinen Druck, und genau das war richtig und wichtig. So lernten wir uns ganz in Ruhe über Monate lang kennen, sahen uns immer häufiger und ich merkte langsam immer mehr, was für einen absoluten Goldschatz ich da über diese dubiose App kennengelernt hatte. Selbst, wenn nicht mehr als eine Freundschaft daraus geworden wäre, hätte ich Tinder für immer große Dankbarkeit gezollt, einen solchen Menschen in mein Leben gebracht zu haben. Aber es wurde mehr draus. Das gestanden wir uns nach ca. 5 Monaten betrunken in einem Zelt bei Sturm und Regen auf Borkum ein, sind seitdem immer noch beste Freunde, aber eben auch ein Paar, und ziehen diesen Monat zusammen.

Ich will Tinder nicht schönreden. Man kann nicht leugnen, dass sich dort viele Aufreißer – aber auch AufreißerINNEN! – herumtreiben, die sich einen unkomplizierten One-Night-Stand oder eine Fickbeziehung erhoffen. Aber die App an sich, und vor allem deren männlichen Nutzer darauf zu reduzieren, wird keinem von beiden gerecht und ist in der Tat ziemlich „unterkomplex“, wie es einer unserer Redakteure so schön ausdrückte.

Die Chance, über Tinder eine ernsthafte Beziehung zu finden, ist wahrscheinlich verschwindend gering. Es mag sein, dass meine Meinung durch meine eigene positive Erfahrung verzerrt ist. Aber ich sehe Tinder einfach als eine Möglichkeit, die Menge an Menschen – und damit die Wahrscheinlichkeit, einen passenden Topf zum Deckel oder andere tolle Leute zu finden – zu vergrößern. Dabei sollte man sich aber freimachen von der genauen Vorstellung des Topfes oder Deckels, den man sucht. So, wie man sich auf den Fotos und in dem kleinen Text vorstellt, ist ohnehin niemand. Aber selbst, wenn man das beim ersten Treffen merkt und damit meint, die Person direkt abschreiben zu müssen, empfehle ich, lieber drei, vier Bier zu trinken und ein paar Stunden zu quatschen.

Vielleicht sitzt da zwar nicht die große Liebe vor einem, aber ein Freund fürs Leben. Oder im besten Falle – sogar beides.

Dieser Artikel stellt nur die Meinung der AutorInnen dar und spiegelt nicht unbedingt die Ansichten der Redaktion von seitenwaelzer wider.

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