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Einen Scheiß muss ich … oder doch?

Krieg in Europa, Inflation, Corona, Klimawandel - genug essenzielle Probleme. Und genau jetzt debattieren wir um einen verpflichtenden Zivildienst. Zu Recht?
| Lotte Jäger |

Geschätzte Lesezeit: 4 Minuten

Acht Hände sind aufeinander gestapeltHannah Busing I Unsplash

Krieg in Europa, Inflation und nie gekannte Preissteigerungen, Corona wieder auf dem Vormarsch, Klimawandel unaufhaltsam. Genug essenzielle Probleme, die kaum noch mit Lässigkeit wegzulächeln sind. Und da kommt unser Bundespräsident auf die Idee, eine – so viel darf man wohl behaupten – verunsicherte Gesellschaft mit einem weiteren brisanten Thema zu konfrontieren: eine allgemeine Dienstpflicht für junge Menschen. Über Herrn Steinmeiers Motive vermag ich nicht zu spekulieren, man sollte sich auch nicht an den schnellen, manchmal vielleicht vorschnellen Reaktion in den Medien orientieren. Die zentrale Aussage des Bundespräsidenten und die dadurch ausgelösten Reaktionen zeigen aber, dass er damit wahrscheinlich einen wunden Punkt getroffen hat.

Worum geht es? Herr Steinmeier wünscht sich eine breite gesellschaftliche Diskussion über eine allgemeine Dienstpflicht für junge Menschen. Sein zentrales Argument, oder besser sein Antrieb, ist eine aus seiner Sicht wichtige soziale Erfahrung für Teenager, mit der sie zu wertvollen, ausgleichenden und verständnisvollen Mitgliedern einer großen Solidargemeinschaft werden können. „Es geht um die Frage, ob es unserem Land nicht guttun würde, wenn sich Frauen und Männer für einen gewissen Zeitraum in den Dienst der Gesellschaft stellen„, sagte Steinmeier der „Bild am Sonntag“. Dies so einzuführen werde sicherlich nicht einfach, so der Bundespräsident weiter, aber eine Debatte über eine soziale Pflichtzeit halte er in jedem Fall für angebracht. Kern seiner Anregung sei es, eine Diskussion darüber zu führen, ob nicht gerade jetzt, in einer Zeit, in der das Verständnis für andere Lebensentwürfe und Meinungen abnimmt, eine soziale Pflichtzeit besonders wertvoll sein kann. Man käme raus aus der eigenen Blase, träfe ganz andere Menschen, helfe Bürgern in Notlagen. Das baue Vorurteile ab und stärke den Gemeinsinn.

Die Vielzahl an Reaktionen zeigt, dass es anscheinend tatsächlich Gesprächsbedarf gibt. Zwar argumentieren gerade die Gegner einer allgemeinen Dienstpflicht sofort mit „haben wir alles schon gehabt“ und „immer wieder aufkommende Idee aus der Mottenkiste“, aber ihre reflexartigen Statements wirken etwas befremdlich. Vor allem, weil sie damit eine durchaus notwendige Diskussion über Vor- und Nachteile kurzerhand verhindern. Fast schon wohltuend klingen dabei die vereinzelten Äußerungen aus der Politik, den Verbänden und Organisationen, die zur Gelassenheit mahnen und damit den Austausch von Argumenten und Sachfragen zu den Zielen einer Dienstpflicht fördern wollen.

Steinmeiers Ansatz, die Gesellschaft über eine Dienstpflicht ein Stück weit ausgleichender, vielleicht auch widerstandsfähiger zu machen, wird kaum bestritten werden können. Auch ohne präzise statistische Daten dürfte es heute allgemeine Erkenntnis sein, dass (vor allem) der Zivildienst und seine Absolventen eine gesellschaftliche Bereicherung gewesen sind. Und ist es nicht durchaus wert zu überlegen, ob eine Gesellschaft, die zunehmend zur Individualisierung tendiert und in der das Wort „Spaltung“ bereits zum Gegenstand vieler Kommentare geworden ist, ein Mehr an Solidarität, Gemeinsinn und Toleranz gebrauchen kann?

Auch eher besonnene und zurückhaltende Zeitgenossen sprechen zunehmend von einer Entwicklung, die man durchaus als Verrohung bezeichnen kann. Der Ton wird rauer, das sture Beharren auf Einzelinteressen führt zu teilweise abstrusen Streitigkeiten und die Klagefreudigkeit steigt. Eigene Ansprüche werden ohne Rücksicht auf Verluste geltend gemacht, Kompromissbereitschaft und Vernunft haben oft keine Chance. Oder wie es immer häufiger im Fall einer Eskalation zu hören ist: „Da ist die Zündschnur aber mal ganz kurz gewesen.“

Nun mögen diese persönlichen Eindrücke längst nicht prägend für die gesamte Stimmung im Lande sein, noch überwiegt glücklicherweise positives soziales Verhalten, gibt es funktionierende Vereine, Nachbarschaften, Freundschaften und Zusammenhalt. Es ist aber unübersehbar, dass eine Art von destruktivem Individualismus an diesen wichtigen Elementen unseres Zusammenlebens nagt. Können wichtige Erfahrungen aus einem Dienst an der Gesellschaft hier ein dringend benötigtes Gegengewicht bilden?

Ich habe mir selbst noch keine abschließende Meinung gebildet, wäre im Zweifel von einer neuen Regelung wohl auch nicht mehr betroffen. Positiv wäre es aber, wenn wir – und damit meine ich uns alle – uns ernsthaft über eine Dienstpflicht austauschen würden. Dabei werden sicher auch die Argumente der Gegner in die Waagschale geworfen: Die Jugend habe in der Pandemie genug gelitten, es gäbe schon genug junge Leute, die sich im Freiwilligen Sozialen Jahr engagierten, es gäbe kaum ausreichend Plätze für einen Pflichtdienst und letztlich wäre der Arbeitsmarkt dringend auf Nachwuchs angewiesen und ein Pflichtjahr erschwere die Lage zusätzlich. Zu guter Letzt kommt dann auch noch das „Freiheitsargument“: staatliche Bevormundung pfui, individuelle Freiheit hui.

Auffällig erscheint mir, dass ein Vorschlag zu einer Diskussion (deren Ende auch Steinmeier nicht vorhersieht) tatsächlich kaum inhaltlich abgenommen wird. Zum wiederholten Male wirkt es so, als ob die Protagonisten schablonenhaft in ihren Schubladen suchen und die vorgefertigten Statements veröffentlichen. Zuhören, Meinungen austauschen, andere Sichtweisen verstehen, Fakten zur Kenntnis nehmen, überzeugen und sich überzeugen lassen, Kompromisse im Sinne der Gemeinschaft finden: Funktioniert das nicht mehr?

Dieser Artikel stellt nur die Meinung der AutorInnen dar und spiegelt nicht unbedingt die Ansichten der Redaktion von seitenwaelzer wider.

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