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„Kein Gott, kein Herr, kein Ehemann“ – feministischer Anarchismus anno 1896
Im Jahr 1896 gründeten Anarchistinnen aus Buenos Aires die politische Zeitung La Voz de la Mujer („Die Stimme der Frau“), […]
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Im Jahr 1896 gründeten Anarchistinnen aus Buenos Aires die politische Zeitung La Voz de la Mujer („Die Stimme der Frau“), um den Anliegen von Frauen innerhalb der argentinischen Arbeiterbewegung Gehör zu verschaffen. Sie schufen damit eine der ersten explizit feministischen Zeitungen der Geschichte. Die Autorinnen beklagten das Elend der Arbeiterinnen und die Unterdrückung von Ehefrauen und die Situation der Sexarbeiterinnen, sie propagierten die freie Liebe und schimpften auf die Ignoranz ihrer männlichen Genossen – und manchmal lesen die Texte sich, als seien sie erst gestern verfasst worden.
Feministische Themen wie Frauenquoten, Equal Pay und #MeToo gehören heute zum täglich Brot des Nachrichten- und Meinungsjournalismus beinahe aller großen Medienhäuser. Einige leisten sich sogar regelmäßige Meinungsbeiträge mit explizit feministischer Zielsetzung, die konservativeren Strömungen in Land und Leserschaft nicht selten einiges abverlangen. Darin geht es beispielsweise um Femizide, die Abschaffung der Ehe oder neue Formen des Patriarchats, das einfach nicht vergehen will. Dass der Feminismus in den Medien so präsent ist, mag wie eine jüngere Entwicklung erscheinen, deren Startpunkt man wahlweise bei #aufschrei (2013), dem ersten Women’s March (2016) oder #MeToo (2017) verorten könnte. Tatsächlich ist sie aber nur der vorläufige Stand eines langen historischen Prozesses und Kampfes, der mal Fort- und mal Rückschritte machte und an unterschiedlichen Orten der Welt verschiedene Ausprägungen annahm. Mehr denn je spielt heute dabei die intersektionale Perspektive eine Rolle: Der moderne Feminismus befasst sich mit der Frage, wie die Unterdrückung von Frauen mit anderen Formen von Ausgrenzung und Unterdrückung – wie Rassismus, Klassismus, Ableismus oder die Marginalisierung sexueller Identitäten – in modernen Gesellschaften zusammenwirkt. Vorläufer dieser Denkrichtung finden sich bereits im Argentinien des späten 19. Jahrhunderts.
Buenos Aires: Schmelztiegel der Migration und politischer Ideen
Die Gemengelage, aus der heraus die Frauen von La Voz de la Mujer sich zusammenschlossen und ihre feministische Zeitung gründeten, war eine aus Armut, Ausbeutung, sozialrevolutionären Ideen und Migration. Die argentinische Wirtschaft hatte im 19. Jahrhundert einen enormen Aufschwung erlebt, für den bald die Arbeitskräfte fehlten. Auf Geheiß der argentinischen Regierung ließen sich daher bis zum Jahr 1895 fast 1,5 Millionen Immigrant*innen in dem südamerikanischen Staat nieder. Die meisten von ihnen stammten aus Europa, allen voran Italien, Spanien und Frankreich. Neben ihrer Arbeitskraft und großen Hoffnungen auf ein besseres Leben, brachten die neuen Bewohner*innen auch politisches Gedankengut und jede Menge sozialrevolutionäres Potenzial aus Europa nach Argentinien: Besonders in Buenos Aires, wo ein Großteil der Immigrant*innen lebte, buhlten zahlreiche revolutionäre Gruppierungen mit Plakaten, Pamphleten und Zeitungen um die Aufmerksamkeit der Arbeiter*innen aus aller Welt und warben für ihre Idee von der Revolution. Zu den beliebtesten politischen Strömungen des linken Spektrums zählte neben dem Sozialismus-Kommunismus auch der Anarchismus. Zudem gab es diverse Abspaltungen, Splitterorganisationen und Mischformen.
Die Frauen von La Voz de la Mujer stammten aller Wahrscheinlichkeit nach ebenfalls aus dem Kreise der Immigrant*innen. Ihre Artikel erschienen daher nicht nur auf Spanisch, sondern beispielsweise auch auf Italienisch. Die Herausgeberinnen, über die ansonsten nicht viel bekannt ist, weil sie alle unter Pseudonymen schrieben, hatten sich der Idee eines anarchistischen Kommunismus verschrieben. Ihre Zeitung war darüber hinaus eine der wenigen politischen Schriften, die von Frauen für Frauen verfasst wurden. Als dezidiert feministische Stimme innerhalb der argentinischen Arbeiter*innenbewegung stand sie sogar so gut wie alleine da. Lange vor den meisten ihrer Zeitgenoss*innen hatten sie erkannt, dass die Frauen der Arbeiterklasse auf doppelte Weise unterdrückt wurden: aufgrund ihrer Klassenzugehörigkeit und aufgrund ihres Geschlechts. Darin unterschieden sie sich auch von anderen Frauenrechtler*innen ihrer Zeit, so zum Beispiel den eher bürgerlichen Suffragetten, die keine Revolution im Sinn hatten, sondern die Beteiligung von Frauen im bestehenden gesellschaftlich-politischen System.
Wie die meisten politischen Schriften zur damaligen Zeit, wurde La Voz von Leser*innen finanziert, die auf der letzten Seite des Hefts lobend erwähnt wurden. Anhand der kreativen Pseudonyme, die die Spender*innen sich gaben, lässt sich die Radikalität der Herausgeberinnen und ihres Unterstützer*innenkreises erahnen. Zugleich zeigen sie, dass auch Revolutionär*innen sich nicht immer allzu ernst nahmen: Eine Person ließ sich unter „Lang lebe Dynamit“ auf die Liste setzen, eine andere nannte sich „Eine weibliche Schlange, die die Bourgeois verschlingen will“. Mildere Aliase waren zum Beispiel „Kein Gott, kein Herr, kein Ehemann“ oder schlicht „Ein den Frauen wohlgesinnter Mann“. Die Zeitung erschien unregelmäßig und über den Zeitraum von nur etwa einem Jahr – offenbar mangelte es an finanziellen Mitteln –, aber es ist gut möglich, dass auch später noch einzelne Ausgaben erschienen sind.
Warten auf die Revolution?
Während der Feminismus im 21. Jahrhundert mehr und mehr die politische Mitte erreicht, ist der Anarchismus ein wenig in Vergessenheit geraten und häufig wird nur dann auf ihn verwiesen, wenn irgendwo Autos brennen. Dabei war er früher einmal eine der einflussreichsten Strömungen innerhalb der sozialrevolutionären Bewegungen. Die Verheißung, sich jeglicher Form von Herrschaft oder Hierarchie zu entledigen, übte im 19. Jahrhundert große Anziehungskraft auf die Masse der ausgebeuteten Arbeiter*innen aus. Für so manche Frau versprach der Anarchismus ein Leben nicht nur ohne die ökonomischen Zwänge des Kapitalismus, sondern auch eine Befreiung von der Unterdrückung durch die Männer. Zwar hatte ein Großteil der Linken im 19. Jahrhundert bereits erkannt, dass die Unterdrückung der Frau ein großes Problem war, doch ging man in den meisten revolutionären Kreisen davon aus, dass es sich nach dem angestrebten Umsturz des kapitalistischen Systems schon von alleine lösen würde. Damit wollten sich die Frauen von La Voz jedoch nicht zufrieden geben.
Die Autorinnen schlugen häufig einen ironischen Ton an, um ihren Botschaften Nachdruck zu verleihen: „Ihr hättet wissen sollen, dass wir einfältigen Frauen entschlossen sind und Entschlossenheit ist das Produkt von Denkvermögen. Denn wisst ihr – wir denken auch“, heißt es zum Beispiel in ihrer zweiten Ausgabe, in der sie die Reaktionen auf die Gründung des Magazins adressieren, die offenbar auch in revolutionären Kreisen einiges Aufsehen erregt hatte. Die Männer aus den eigenen Reihen, die sie auf die Revolution vertrösten wollten, schimpften sie „falsche Anarchisten“. Sie unterstellten den Genossen, sich nur um sich selbst zu kümmern und legten ihnen die Worte in den Mund: „Lasst unsere Emanzipation zuerst kommen, und dann, wenn wir Männer emanzipiert und frei sind, sehen wir weiter.“
Für freie Liebe und die Freuden des Lebens
Und was bewegte die Anarcho-Feministinnen zur Jahrhundertwende außerdem? Im Editorial der ersten Ausgabe legten sie zunächst ihre Beweggründe dar, die Zeitung ins Leben zu rufen:
„Weil wir die vielen Tränen und das Elend satt haben, die nie enden wollende Plagerei mit den Kindern (so lieb sie uns sind), weil wir es satt sind zu fragen und zu betteln und das Spielzeug für unsere schändlichen Ausbeuter und niederträchtigen Ehemänner zu sein, haben wir beschlossen, im Konzert der Gesellschaft unsere Stimmen zu erheben und wir verlangen, ja verlangen, unseren Anteil an den Freuden im Bankett des Lebens.“
La Voz de la Mujer Nr. 1 (8. Januar 1896)
Klammert man die Fantasien vom gewaltsamen Umsturz einmal aus, so teilen die Autorinnen von La Voz viele der Forderungen und Problemlagen mit denen heutiger Frauen und Feminist*innen. Es ging ihnen um faire Löhne und kürzere Arbeitszeiten, sie prangerten die Diskriminierung von Frauen am Arbeitsplatz an und die sexuelle Ausbeutung durch männliche Vorgesetzte, Kollegen und Genossen. Ein für das 19. Jahrhundert besonders fortschrittlich anmutender Artikel möchte an die Stelle der staatlich und kirchlich institutionalisierten Ehe eine freie Form der Partnerschaft auf Augenhöhe, ohne staatliche oder religiöse Einmischung und ökonomische Zwänge setzen. Nur so, glaubt die Autorin, die unter dem Namen Carmen Lareva schreibt, könnten Mann und Frau glücklich miteinander sein und gemeinsam Kinder großziehen.
Die herkömmliche Ehe lehnt die Autorin vehement ab: In einer Gesellschaft, in der die Eheleute vornehmlich aus ökonomischen Gesichtspunkten zusammenkämen, sei die Ehe nämlich „von Prostitution nicht sehr weit entfernt“ und für Frauen alles andere als die Erfüllung ihres Lebensglücks. Weil es in den Haushalten der Arbeiterklasse am Nötigsten mangele, würden Kinder nicht als Glück, sondern als Belastung wahrgenommen, mit der die Frauen dann auch noch alleingelassen würden. Auch die Belästigung von Mädchen und Frauen und die gesellschaftliche Bigotterie in der Frage weiblicher Sexualität spricht sie an: „Kaum in der Pubertät, sind wir die Zielscheibe der schlüpfrigen und hämisch-lüsternen Blicke des starken Geschlechts.“ Für das Ausleben der eigenen Sexualität würden Frauen dann „von der Gesellschaft verachtet und verspottet, die in unserem Sündenfall nichts sieht, keine Liebe, kein Ideal, absolut nichts, nur das ‚Vergehen‘.“
Ni una menos
Es sind gerade solche Stellen, an denen die historische Quelle deutliche Parallelen zur Gegenwart aufweist und an die zahlreichen Geschichten erinnert, die in den letzten Jahren zum Beispiel in Zusammenhang mit #MeToo geteilt wurden. Von seiner anarchistischen Tradition hat der Feminismus sich inzwischen weitgehend gelöst, weltweit hat die Frauenbewegung seit den Zeiten von La Voz wahnsinnig viel erreicht und doch werden einige Kämpfe noch immer gefochten. So verzeichnet beispielsweise Argentinien eine der höchsten Raten an Femiziden, der Tötung von Frauen aufgrund ihres Geschlechts. Etwa alle 30 Stunden tötet ein Mann in Argentinien eine Ehefrau, Freundin, Schwester, meist sind es Beziehungstaten. Über 120 Jahre nach der Gründung von La Voz de la Mujer gehen deshalb seit einigen Jahren immer wieder Zehntausende unter dem Schlachtruf „Ni una menos“ („Keine einzige weniger“, „Kein weiteres Opfer“) auf die Straße und kämpfen gegen den tödlichen Machismo und für die angemessene Bestrafung der Täter, die auch heute lange nicht selbstverständlich ist. Als historische Quelle eröffnet La Voz de la Mujer den Blick auf die lange Geschichte des Feminismus und dessen sozialrevolutionäre Tradition. Für sich genommen drücken die über 120 Jahre alten Artikel aus, was angesichts der scheinbaren Popularität feministischer Themen heute gern klein geredet wird: Für manche Probleme ist eine Lösung längst überfällig.
Bisher gibt es die Gesamtausgabe aller überlieferten Ausgaben von La Voz de la Mujer nur im originalen Spanisch und Italienisch. Eine deutsche Übersetzung des Textes über die freie Liebe von Carmen Lareva findet sich in diesem Quellenband zur jüngeren Geschichte Lateinamerikas.
Weitere Infos zum Thema gibt es zudem in diesem Artikel der Soziologin Maxine Molyneux über die Zeitung und die Geschichte des anarchistischen Feminismus oder in dieser Arte-Reportage über Ni una menos.
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Katharina Wegmann
Ich studiere Zeitgeschichte in Potsdam. Bei seitenwaelzer schreibe ich mir meine übermäßige Begeisterung für Geschichte, Gesellschaft und Popkultur von der Seele. Oft finde ich Schreiben aber auch ziemlich anstrengend. Zum Prokrastinieren spiele ich Gitarre oder Ukulele, gehe joggen und schaue mehr mittelmäßige Actionfilme als mir lieb ist.
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