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„Mein Kopf war komplett überfordert“ – Wie gut bereitet Schule auf die Zukunft vor?

Die letzten Abiturklausuren sind nun geschrieben. Erleichterung erfüllt den ganzen Körper, wenn die Klausurbögen endlich vorne bei den Lehrer*innen abgegeben […]
| Benja Bauroth |

Geschätzte Lesezeit: 5 Minuten

Ein Tunnel mit einem großen Fragezeichen am Ende. Das Fragezeichen leuchtet rosa.Emily Morter

Die letzten Abiturklausuren sind nun geschrieben. Erleichterung erfüllt den ganzen Körper, wenn die Klausurbögen endlich vorne bei den Lehrer*innen abgegeben werden und die Schule ein für alle Male verlassen wird. Doch ein Gedanke drängt sich auf, der die letzten Monate versucht wurde zu ignorieren: Was soll ich nach dem Abitur überhaupt machen? Ein Studium oder doch lieber eine Ausbildung?

Viele Schüler*innen haben dieses Jahr ihre Abiturklausuren schon fertig geschrieben und suchen nun verzweifelt eine Antwort darauf, was sie als Nächstes tun sollen. Ich habe mit Lily geredet, die vor einem Jahr genau vor dem gleichen Problem stand und sich überhaupt nicht mehr sicher war, was als Nächstes kommen soll. Aber warum geht es vielen so? Liegt es an der schlechten Vorbereitung in der Schule auf das Leben danach?

Reicht die Zukunftsvorbereitung in der Schule?

Lily hat 2021 mit 18 Jahren ihr Abitur gemacht. Danach stand ihr die Welt offen, aber niemand hatte sie wirklich darauf vorbereitet, was nun folgen sollte. Zuvor befand man sich noch unter den Fittichen der Schule, in der die Fächer größtenteils vorgegeben waren, und nun musste man plötzlich eigenständig im Leben stehen. Hätte die Schule den Übergang erleichtern können? Da ist sich Lily ziemlich sicher.

Die Schule hatte zwar Bemühungen unternommen, um Einblicke in das Leben nach dem Abitur zu gewähren, aber zu wenige. Es gab während der Schullaufbahn zum einen die Potenzialanalyse, bei den zum Beispiel die Grobmotorik oder die Diskussionsfähigkeit getestet worden sind, und zum anderen den Besuch beim Arbeitsamt. Beide Aktivitäten haben damals Vielen Spaß bereitet, aber sie haben nicht geholfen, auf die Zukunft vorzubereiten.

„Die Potenzialanalyse und der Besuch im Arbeitsamt waren viel zu allgemein und teilweise auch sehr lächerlich.“

Ihre Berufsvorschläge im Arbeitsamt basierten auf einem Fragebogen und schlugen ihr vor, doch einfach Fotografin oder Kirchenmusikerin zu werden, was überhaupt nicht ihren Fähigkeiten entsprach. Außerdem gab es in der zehnten Klasse ein zweiwöchiges Pflichtpraktikum. Lily erzählt, dass sie durch ihr Praktikum erkannt habe, dass Kunstlehrerin keine Option wäre. Wenigstens konnte sie so eine Möglichkeit ausschließen. Von den Lehrer*innen privat hörte man nur Aussagen, wie, dass das Abitur sehr leicht sei, im Gegensatz zum Leben danach. Lily erinnert sich, wie viel Angst ihr das gemacht hat. Man sieht, dass die Schule Orientierungspunkte wie das Praktikum anbietet, aber im Fokus stehen hauptsächlich die Noten. Die Schüler*innen werden so unter Druck gesetzt, gute Noten zu schreiben, dass sie vergessen sich im Klaren darüber zu werden, was sie später einmal machen wollen.

Myriam Zilles

Der lange Weg vom Abitur ins selbstständige Leben

Lily war eine der wenigen Abiturient*innen, die schon eine Idee für ein Studium und sich schon um einen Studienplatz gekümmert hatte. Jedoch musste sie sich einer bitteren Enttäuschung stellen. Nach eigener Recherche hat sie herausgefunden, dass das duale Studium im Marketingmanagement schlechte Jobchancen bietet, weil zukünftige Arbeitgeber*innen dualen Student*innen eher kritisch gegenüberstehen. Lily ist überzeugt, dass die Schulen mehr über Jobchancen und eigene Nachforschung zu Studiengängen aufklären müssten, um ihren Schüler*innen eine optimale Unterstützung zukommen zu lassen.

„Ich war nach dem Abitur ziemlich verzweifelt.“

Ihr wurden von der Schule und der Gesellschaft nur die Möglichkeiten eines Studiums oder einer Ausbildung vorgelegt. Von vielen Seiten hörte Lily, dass ein Jahr Pause nach dem Abitur Lebensverschwendung sei. Es kam unter dem Druck zu einem mentalen Zusammenbruch und sie entschied sich, das Jahr für ihre Orientierung zu nutzen. So suchte sie nach Praktikumsplätzen im Bereich Design, da sie in ihrer Freizeit gerne zeichnet und malt. Doch auch das erwies sich als schwerer als gedacht, da die meisten Arbeitgeber*innen nur Leute mit Erfahrungen wollten. Letztendlich hatte sie Glück, einen Platz zu bekommen. Doch das Praktikum konnte Lily nicht für Design begeistern. Ihr Umfeld überzeugte sie, dass sie es woanders weiter versuchen sollte und gaben den Arbeitgeber*innen die Schuld daran, dass sie unzufrieden war. Doch während Lily für etliche Hochschulen eine Designmappe für die Aufnahmeprüfung fertigstellte, merkte sie, dass es ihr nicht so viel Spaß, wie in ihrer Freizeit machte. Nach dieser Erkenntnis und der ganzen Arbeit holte sie die Verzweiflung ein. Was sollte jetzt als Nächstes folgen?  

“Mir wurde der Boden unter den Füßen weggerissen.“

“Mein Kopf war komplett überfordert.“

Nach den Enttäuschungen überlegte sich Lily genau, was sie den ganzen Tag machen könnte, ohne auf die Uhr schauen zu müssen. Sie will Menschen helfen und ihnen etwas Gutes tun. Darin ist sie gut. Nach einem Praktikum in der Psychologie ist sie sich sicher, dass sie das einmal machen möchte. Beworben hat sie sich schon für das nächste Wintersemester. Ich wünsche ihr viel Glück dabei.

Hassan Ouajbir

Das Licht am Ende des Tunnels

Nach meinem Gespräch mit Lily musste ich erst einmal schlucken. An dieser Stelle ist festzuhalten, dass Lilys Geschichte eine individuelle Erfahrung ist und jede*r andere Erfahrungen mit der Schule oder dem Umfeld gemacht hat. Doch das Schulsystem in Deutschland bleibt das Gleiche und es ist nicht perfekt. Meiner Meinung nach ist der Fokus viel zu stark auf die Leistungen und Noten gerichtet. Es wird viel zu wenig unternommen, um den Schüler*innen zu helfen, ihre Interessen und Leidenschaften zu entdecken. Viele von ihnen haben Glück und wissen durch selbstständige Praktika oder eigene Bemühungen, welchen Weg sie einschlagen wollen. Aber was ist mit den Anderen? Mit denen, die keine Ahnung haben was sie machen wollen oder deren eigentliche Vorstellungen doch nicht der Realität entsprechen? Lasst euch gesagt sein, dass es keine Schande ist, sich ein oder auch zwei Jahre nach dem Abitur auszuprobieren, um sich selbst zu finden. Lilys Fazit ist, dass dieses Jahr keine Verschwendung war. Es wurde zwar oftmals schwierig, aber dadurch konnte sie viele Einblicke gewinnen.

„Ich bin in der Zeit viel eigenständiger geworden und konnte viel lernen. Auch über mich selbst.“

Dieser Artikel stellt nur die Meinung der AutorInnen dar und spiegelt nicht unbedingt die Ansichten der Redaktion von seitenwaelzer wider.

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Benja Bauroth

"Follow your dreams, they know the way" - ein Motto, das sie direkt zum Studium in Kommunikationswissenschaft nach Münster geführt hat. Durch ihre Liebe zu Büchern und Filmen reist sie durch verschiedene Mythologien, jagt Dämonen oder schwingt den Zauberstab. Doch auch ihre Abenteuerlust führt sie auf reale Reisen nach Irland oder Skandinavien. Bei Spaziergängen unter dem Sternenhimmel philosophiert sie gerne über das Leben.

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