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#PLURV: Die Strategien der Wissenschaftsleugnung erklärt
Wie ihr Strategien der Wissenschaftsleugnung und strategischen Desinformation verstehen, erkennen und bekämpfen könnt.
Wie ihr Strategien der Wissenschaftsleugnung und strategischen Desinformation verstehen, erkennen und bekämpfen könnt.
Der Hashtag #PLURV ging auf Twitter viral, als Christian Drosten das dahinter stehende Prinzip in einer Folge des Coronavirus-Update-Podcast erklärte. Wir hatten den Hashtag in einem Thread einmal aufgeschlüsselt und geben euch hier noch einmal ausführlich einen kurzen Abriss über Strategien der Wissenschaftsleugnung und strategischen Desinformation. Die Infos stammen dabei unter anderem von @klimafakten, aus dem Coronavirus-Update-Podcast und von @skepticscience, die übrigens auch die Icons gestaltet haben.
Pseudo-Expert*innen und False Balance
Den Anfang im Hashtag macht der Buchstabe [P]. Er steht für Pseudo-Expert*innen. Das bedeutet: Eine unqualifizierte Person oder Institution wird als Quelle glaubwürdiger Informationen präsentiert, hat oft aber nicht die nötige Fachkenntnis. Das können etwa Wissenschaftler*innen aus benachbarten (oder weit entfernen) Feldern sein. Wir alle mussten erst lernen, dass die Virologie, Epidemiologie oder Mikrobiologie auf dieselbe Frage komplett unterschiedliche Antworten haben können. Wenn nun jemand versucht, wissenschaftliche Fakten zu leugnen oder zu verzerren, dann könnte es passieren, dass ihr die Strategie sogar in der gesteigerten Form der Masse erlebt: Mit vielen scheinbaren Expert*innen wird argumentiert, dass es keinen wissenschaftlichen Konsens gäbe. Ähnlich funktioniert die aufgeblähte Minderheit: Mehrheits- und Minderheitsmeinungen werden gleichberechtigt gegenübergestellt. Diese scheinbar neutrale Form führt aber zu einer sogenannten „false balance“, einer falschen Ausgewogenheit, die den wahren Stand verzerrt. Ein Beispiel: Jemand behauptet „klar sagen 98 % der Forscher*innen, dass wir unter Wasser nicht atmen können, aber Prof. Schmidt hat die These aufgestellt, dass wir es nur genug wollen müssen, dann könne jede*r von uns unter Wasser atmen!“ Die fingierte Debatte funktioniert so, dass Wissenschaft und Pseudowissenschaft gleichwertig gegenübergestellt werden, obwohl letztere nicht faktenbasiert ist. Man könnte jetzt aber auf die Idee kommen, die Meinung unseres Professor Schmidt (die ja nur eine noch nicht überprüfte These ist), sei genau so relevant oder wichtig für den wissenschaftlichen Diskurs, wie das, was die anderen Leute sagen. Ein bekanntes Beispiel aus der aktuellen Lage, wo wir diese Forderung nach einer solchen False Balance oft erleben, ist die Aussage: „Coronaleugner*innen sollten genauso zu Wort kommen, wie Wissenschaftler*innen.“
Logische Trugschlüsse und Kugelfisch-Argumente
Damit kommen wir zum nächsten Buchstaben: Dem L, dem Logischen Trugschluss. Darunter fallen Argumente, die keinem logischen Schema folgen, bei denen also nicht aus den Prämissen auf das behauptete Ergebnis geschlossen werden kann. Der Klassiker ist dabei die sogenannte „Ad-Hominem-Argumentation“, also der Angriff auf die Person oder Gruppe oder eine ihrer Eigenschaften, anstatt auf das eigentliche Argument. Zum Beispiel: „Klimaforscher*innen an der Universität XY sind doch eh alle befangen, weil sie vom Staat bezahlt werden.“ Hierbei wird das eigentliche Argument der Debatte, einem Austausch über das Klima, übergangen und stattdessen die ganze Personengruppe angegriffen, ohne sich mit ihrem Inhalt auseinanderzusetzen.
Auch eine verfälschte Darstellung kann logischen Fehlschlüssen zugrunde liegen. Dabei wird eine Situation oder Position schlicht sachlich falsch dargestellt. Das kennen wir am ehesten unter dem umgangssprachlichen Begriff „Fake News“ oder genauer gesagt Desinformation (es gibt auch die unabsichtliche Misinformation). Beliebt ist dabei das Strohmann-Argument, also eine Verfälschung oder Übertreibung der Position eines Gegners, um sie leichter anzugreifen. Dabei verzerrt man die Aussage oft ins Extreme, um sich selbst als vernünftig darzustellen. Nehmen wir etwa die Aussage „Klimaforschende haben in den 1970er Jahren eine Eiszeit vorhergesagt“. Damit soll klargemacht werden, dass die Forschenden eine viel zu extreme Vorhersage getroffen hätten und daher auch aktuelle Aussagen übertrieben seien. Ein weiterer logischer Trugschluss besteht in der Verwendung von mehrdeutigen Ausdrücken, etwa „Dauerwelle“ oder „Leben mit Corona“, die wissenschaftliche oder journalistische Aussagen verzerren und in ein falsches Licht stellen.
Auch Journalist*innen versuchen natürlich, die Dinge einfacher und verständlicher zu machen. Gefährlich wird es aber bei einer übermäßigen Vereinfachung, die das Verständnis verzerrt und zu falschen Schlussfolgerungen führt, etwa: „An Corona sterben ja sowieso nur die Alten.“ Weitere Fehlschlüsse stellen zum Beispiel nur zwei Optionen als einzige Lösungen dar oder führen eine einzige Ursache für ein Problem an, wo mehrere Ursachen zusammenspielen, etwa: „Das Klima hat sich immer nur natürlich verändert, das muss auch jetzt so sein.“ Oft kursiert diese Form der falschen Analogie. Aber nur, weil sich Dinge in einem Punkt ähneln, müssen sie nicht auch in anderer Hinsicht gleich sein. Ein weiteres Beispiel ist die Aussage, Corona sei wie eine Grippe. Es handelt sich um eine Viruserkrankung, das stimmt, aber der Bezug zur Influenza ist auf vielen Ebenen – von der Natur des Virus bis zum Verlauf von Epidemie und Krankheit – falsch.
Manch ein*e Desinformant*in lenkt andere auch auf eine falsche Fährte: Die Aufmerksamkeit wird auf einen irrelevanten Punkt der Diskussion geleitet, um vom ursprünglichen Argument abzulenken. Dazu gehört auch das Kugelfisch-Argument, also die Fokussierung auf einen Aspekt der Forschung, etwa eine Stichprobengröße o.ä., um ihn aufzublähen. Das soll von den eigentlichen wissenschaftlichen Ergebnissen ablenken. Abschließend gibt es bei den Logikfehlern noch den sogenannten „Dammbruch“. Dabei wird argumentiert, dass der Vorschlag, jetzt eine bestimmte Maßnahme zu ergreifen, letztendlich zu gravierenden Maßnahmen führen wird, etwa: „Erst ist es nur die Kontaktbeschränkung und als nächstes wird man eingesperrt“.
Unerfüllbare Erwartungen und Rosinenpickerei
Weiter geht es mit U, das für „unerfüllbare Erwartungen“ steht, die an die Wissenschaft gestellt werden, bevor man sie akzeptiert. So zum Beispiel, wenn man alle Corona-Test für unbrauchbar erklärt, nur weil diese auch falsch-positive Ergebnisse liefern können – ohne dabei die verschwindend geringen Prozentzahlen falsch-positiver Tests zu berücksichtigen. Zu dieser Strategie gehört auch das „Verschieben der Torpfosten“, bei der das Ziel einer Argumentation immer weiter verrückt wird. Etwa wird behauptet, es gebe Corona nicht, da es kein isoliertes Virus gebe. Werden dazu Daten veröffentlicht, wird gesagt, das seien ja nur Bilder, die seien leicht zu manipulieren. Und so geht es immer weiter.
Wir kommen nun zu R wie „Rosinenpickerei“, also der selektiven Auswahl von Daten, die eine Position zu bestätigen scheinen, während widersprechende Daten ignoriert werden. Die einfachste Form davon ist die Anekdote, gerne auch im Stil von „Ich habe gehört, dass…“. Dabei werden persönliche Erfahrungen anstelle von soliden Argumenten oder Beweisen angeführt, etwa „Ich kenne niemanden, der an Corona erkrankt ist“. Ruht man sich auf einem einzigen Argument aus, spricht man von einer Faultier-Induktion. Das bedeutet, dass weitere relevante Beweise ignoriert werden, sobald eine Schlussfolgerung passt. Oft werden durch Rosinenpickerei Aussagen herausgepickt, die besonders aufmerksamkeitswirksam oder kontrovers sind. Auch im eher unseriösen Journalismus wird gelegentlich das selektive Zitieren praktiziert. Dabei werden die Aussagen einer Person aus dem Zusammenhang gerissen, um ihre Position falsch darzustellen oder zu verzerren. So zum Beispiel: „WISSENSCHAFTLER FINDEN MITTEL GEGEN KREBS[-zellvermehrung bei Goldhamstern].“
Die Königsklasse: Verschwörungsmythen
Am meisten im Gespräch der Öffentlichkeit sind seit einem Jahr aber die Verschwörungsmythen, die den letzten Teil des Hashtags bilden. Anhänger*innen von Verschwörungsmythen vermuten die Produktion von Falschinformationen oder die Verschleierung der Wahrheit durch vermeintlich mächtige Personen, Organisationen, den Staat oder das System. Häufig bergen diese Mythen eine gewisse innere Widersprüchlichkeit und ihre Vertreter*innen glauben Dinge, die sich eigentlich gegenseitig ausschließen. Etwa: „Das Virus kommt locker durch eine Alltagsmaske“ und „Alltagsmasken behindern das Atmen, weil nicht genug Sauerstoff durchgeht.“ Manche Menschen stellen auch jede offizielle Darstellung oder Medienberichterstattung direkt unter Generalverdacht. Alles wird direkt angezweifelt und abgelehnt, das nicht zur bereits gefestigten eigenen Meinung passt. Zudem werden (besonders staatlichen oder zum vermeintlichen „Mainstream“ gehörenden) Personen, Akteur*innen oder Organisationen böse Absichten unterstellt, zum Beispiel: „Virolog*innen stellen die Lage schlimmer dar, weil sie Geld mit Schnelltests verdienen wollen.“
Eine andere Taktik ist „Etwas stimmt nicht“: Dabei wird darauf beharrt, dass die offizielle Darstellung auf einer Täuschung beruhe, zum Beispiel: „Die Wissenschaftler*innen schließen sich nur deshalb der Mehrheit an, weil sie keine Abweichler*innen sein wollen.“ Oft nehmen sich Personen, die Verschwörungsmythen anhängen auch als Opfer einer organisierten Verfolgung wahr. Es fallen Vergleiche zu totalitären Staatsstrukturen und Aussagen wie „Man will uns unsere Freiheit wegnehmen.“ Meistens immunisieren sich die Personen in ihrem Verschwörungsmythos gegen alle Beweise, indem sie diese so uminterpretieren, dass sie wieder ins Bild des Mythos passen, etwa: „Alle Untersuchungen gegen meine Meinung sind doch selbst nur Teil der Verschwörung.“ Unter dem Motto „Nichts passiert zufällig“ werden dann noch Zufälligkeiten so uminterpretiert, dass auch sie als Teil der großen Verschwörung gesehen werden.
Ihr seht, die Möglichkeiten, Wissenschaft zu leugnen, ob absichtlich oder unabsichtlich, sind vielfältig. Aber was bedeutet all das und was kann man als Einzelne*r gegen die Verbreitung von Desinformation und Wissenschaftsleugnung tun? Hier ein paar Tipps und Verhaltensregeln:
1. Infos hinterfragen
- Von wem kommt die Info?
- Ist die Person qualifiziert?
- Ist die Info besonders reißerisch dargestellt?
- Welche Absicht könnte dahinter stecken?
2. Quellen checken
- Steht die Info auch in der Originalquelle?
- Bestätigen seriöse Quellen die Fakten?
- Woher kommt ein Bild? In welchem Kontext ist es entstanden?
3. Nicht alles weiterleiten
- Könnte die Nachricht anderen schaden?
- Sprich mit Bekannten, wenn sie Falschnachrichten teilen.
- Wenn du weißt, dass etwas falsch ist, dann verbreite die falsche Info nicht, auch nicht mit dem Hinweis, dass sie nicht stimmt, denn wir merken uns oft den Ursprung einer Information nicht so gut, wie die Info selbst. Daraus wird schnell ein „Irgendwo habe ich mal gehört/gelesen.“ Und: Je öfter wir eine Information wiederholt sehen, desto besser setzt sie sich im Gehirn fest. Das gilt vor allem für Überschriften ohne Kontext.
Wer sich weiter informieren möchte, findet hier ein paar Artikel, wissenschaftliche Fachbücher und Infoseiten, die sich mit Fake News, Des- und Misinformation beschäftigen:
Maren Urner: „Warum Fake News sich so gut in deinem Gedächtnis festsetzen“
Katharina Nocun/Pia Lamberty: Fake Facts. Wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen, Köln 2020.
Edson C. Tandoc Jr/Zhend Wei Ling/Richard Ling: Defining „Fake News“. A typology of scholarly definitions, in: Digital Journalism 6/2 (2018), S. 137-153.
Bundeszentrale für politische Bildung: Spezial zum Thema „Fake News“.
Hilfreich sind auch Fakten-Check-Seiten, zum Beispiel von Correctiv oder dem ARD-Faktenfinder.
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Robin Thier
Gründer von seitenwaelzer, lebt in Münster und beschäftigt sich in seiner freien Zeit mit Bildbearbeitung, Webseitengestaltung, Filmdrehs oder dem Schreiben von Artikeln. Kurz: Pixelschubser.
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Ich studiere Zeitgeschichte in Potsdam. Bei seitenwaelzer schreibe ich mir meine übermäßige Begeisterung für Geschichte, Gesellschaft und Popkultur von der Seele. Oft finde ich Schreiben aber auch ziemlich anstrengend. Zum Prokrastinieren spiele ich Gitarre oder Ukulele, gehe joggen und schaue mehr mittelmäßige Actionfilme als mir lieb ist.
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