Kultur und Medien / Rezension

Tatsächlich gelesen: Das Tagebuch der Anne Frank

Zu Beginn des Jahres widmet sich die Kolumne ohne festes Thema Autoren, die wir einfach mal besprechen möchten. Den Anfang macht Anne Frank.
| Dominik Schiffer |

Geschätzte Lesezeit: 4 Minuten

unbekannt

Anne Frank

„Alles habe ich durcheinander geschrieben, es ist kein Zusammenhang zu spüren, und ich zweifle manchmal ernstlich, ob sich später jemand für mein Machwerk interessieren wird.“

Das Tagebuch der Anne Frank, 14. April 1944

Schande über mich. Trotz Geschichtsleistungskurs und abgeschlossenem Geschichtsstudium hatte ich bis vor Kurzem noch nie Das Tagebuch der Anne Frank gelesen. Lediglich in Auszügen war es mir bekannt und natürlich durch seine große Wirkung, die beispielsweise in zahllosen Schulbenennungen oder Adaptionen für Film oder Theater zum Ausdruck kommt. Vielleicht war es auch ein wenig Furcht davor, wie dieses Buch auf mich wirken würde, immerhin ist ein Tagebuch alleine schon eine sehr intime Lektüre. Wie würde dann erst eines von einem jüdischen Mädchen zu Zeiten des Nationalsozialismus sein, das sich jahrelang vor der Schutzstaffel (SS) verstecken musste?! Aber schließlich habe ich mir doch ein Herz gefasst und – soviel sei gesagt – es war die richtige Entscheidung.

Anne Frank (geboren 1929) erhielt ihr Tagebuch zu ihrem dreizehnten Geburtstag. Erst schrieb sie einfach drauflos, doch dann machte sie sich Gedanken. Da ihr, wie sie selbst schrieb, eine Freundin fehle, erkor sie das Tagebuch kurzerhand zur selbigen und nannte es Kitty. Die Einträge verfasste sie in Briefform. Bereits kurz nachdem sie begonnen hatte, musste die Familie in einem Versteck in Amsterdam untertauchen. Mit insgesamt acht Personen (ihrer und einer weiteren Familie sowie einem Zahnarzt) lebten sie nun bis zum August 1944 in diesem Versteck. Als es aufflog und alle dort Lebenden sowie ihre Helfer verhaftet wurden, ließ die SS ihr Tagebuch achtlos liegen. Später wurde es gefunden und 1950 erstmalig in deutscher Übersetzung aus dem Niederländischen veröffentlicht. Dort stieß es, so kurz nach dem Krieg, auf wenig Interesse, wie die meisten Überlebendenberichte von Juden aus dieser Zeit.

Ein Leben im Verborgenen

Nun könnte man sich natürlich fragen, was an einem Tagebuch interessant sein sollte, wenn die Person das Haus nicht verlassen konnte. Doch Anne Frank war nicht bloß ein außerordentlich kluges Mädchen. Sie beobachtete ihre Umgebung sehr genau, verfügte über ein bemerkenswertes Gespür für das Zwischenmenschliche und über ein hohes Maß an Selbstreflexion. Da sie von früher Kindheit an von ihren Eltern zum Lesen ermuntert wurde, ist es nicht verwunderlich, dass sie trotz ihrer jungen Jahre in einem wunderbaren Stil schreiben konnte.

So nimmt sie den Leser nicht nur mit in das Leben der Geflüchteten, beschreibt die immer größer werdende Not, den psychischen Verfall ihrer Leidensgenossen, die Angst vor der Entdeckung, aber auch kurze, frohe Momente der Entspannung, sondern berichtet auch erstaunlich selbstkritisch über ihr Innenleben, ihre Wünsche, ihre Zerrissenheit, ihr schwieriges Verhältnis zu ihren Eltern, ihr sexuelles Erwachen und ihre ersten Annäherungen zu einem Jungen (der Sohn der anderen Familie). Das alles geschieht mit einer sehr plastischen Sprache und häufig auch viel Ironie und Humor. Das macht das Lesen so schwierig. Denn wann immer man schmunzeln muss über dieses freche, aufgeweckte, kluge, leicht selbstverliebte, aber auch lebensfrohe Mädchen, dessen großer Traum es ist, Schriftstellerin oder Journalistin zu werden, erhebt sich der Gedanke, dass ihr all dies verwehrt bleiben wird.

Was bleibt?

Das Tagebuch der Anne Frank ist ein herausragendes Buch, auch wenn es immer wieder zwiespältige Gefühle auslöst. Ein Buch, das dringend öfter gelesen werden müsste und das neben seiner thematischen Tiefe auch ein Zeugnis dafür ist, wie klug doch bereits vermeintliche Kinder die Welt der Erwachsenen betrachten können.

„Wer außer mir wird später diese Briefe lesen? Wer kann mir helfen? Ich brauche Hilfe und Trost. Oft bin ich so schwach und bringe nicht fertig, das zu sein, was ich so gerne sein möchte. Ich weiß es und probiere immer wieder, jeden Tag von neuem, mich zu bessern. […]

Ach, da erheben sich so viele Zweifel, wenn ich abends allein bin, oder auch tagsüber, zusammengepfercht mit all den Menschen, die ich schon nicht mehr sehen kann und die mir zum Hals heraushängen, weil sie mich und meine Probleme doch nicht verstehen. So komme ich doch schließlich immer auf wieder auf mein Tagebuch zurück. Das ist mein Anfang und mein Ende. Kitty ist immer geduldig, und ich verspreche ihr, daß ich allem durchhalten werde, meinen Kummer überwinden und mir einen Weg bahnen will. Aber wie gern würde ich auch mal Erfolg sehen und von jemandem angespornt und ermutigt werden, der mich liebhat!“

Das Tagebuch der Anne Frank, 7. November 1943

Anne Frank starb im März 1945, völlig ausgehungert, an Fleckfieber im Konzentrationslager Bergen-Belsen.

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Dominik Schiffer

Hat Geschichte und Skandinavistik studiert und ist dennoch weiterhin wahnsinnig neugierig auf Texte aus allen Jahrhunderten. Verbringt außerdem bedenklich viel Zeit in der Küche, vor Filmen/Serien, auf der Yogamatte und mit allerlei „Nerdstuff“.

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