Vergessene Musik – Über William Kelleys Ein anderer Takt
Eine Rezension von Melvin Kelleys ersten Roman, der in einem kleinen Trödelladen zwischen alter Farbe und Angelruten wiedergefunden wurde.
Geschätzte Lesezeit: 8 Minuten
In einem Schuppen wiederentdeckt, finden die Werke William Melvin Kelleys neuen Anklang. Nun ist mit Ein anderer Takt (orig. A Different Drummer) Kelleys großes Erstlingswerk auch auf Deutsch erschienen. Ein Kommentar zum Einsteigen in die Bücher eines zu Unrecht vergessenen Autors.
Verloren
Die Art von Kelleys Wiederentdeckung wirkt zu verrückt um wahr zu sein: Kathryn Schulz, eine Kolumnistin des New Yorkers, folgt ein paar Pfeilen in einem Kaff an der amerikanischen Ostküste, die zu einem kleinen Trödelladen führen. In dem Schuppen findet sie zwischen alten Angeln und Kreissägen ein einzelnes Bücherregal; Taschenbücher für 50 Cent, Gebundene 1 Dollar. Mittendrin eine Erstausgabe von Ask Your Mama, ein Gedichtband von Langston Hughes, dem großen Dichter der Harlem Renaissance. Was ohnehin schon ein Bares für Rares würdiger Fund wäre, entpuppt sich beim Öffnen noch unglaublicher: Eine Widmung von Hughes selbst, datiert auf den 19. Februar 1962, für einen Besucher namens William Kelley.
Schulz folgt auch diesem Pfeil und stellt Nachforschungen zu dem Adressaten des Buches an. Dieser entpuppt sich selbst als Autor, der im Zeitraum von 1962 bis 1970 fünf Bücher veröffentlichte, danach aber lange von der Bildfläche verschwand und sogar für einige Zeit das Land verließ. Von Paris über Rom und Jamaica blieben William und seine Frau Karen der Heimat fern, nach der Ermordung von Martin Luther King und Robert Kennedy sahen sie wenig Zukunft für ihre Familie in den USA. Erst Ende der 80er kehrte die Kelley Familie auf Drängen von Freunden und Familie zurück.
In ihrem resultierenden Artikel betitelt Schulz William Melvin Kelley als den “verlorenen Giganten der amerikanischen Literatur.” Um die Werke des Wiederentdeckten entbrennt im Anschluss ein Wettbieten und die seit Jahrzehnten nicht mehr gedruckten Bücher erhalten eine Neuauflage. Beim riverrun Verlag sind drei davon bereits erschienen, im Sommer 2021 folgt das Vierte und vermutlich vorletzte Buch namens „dem“. Auch in Deutschland erschien nun beim Verlag Hoffman und Campe mit Ein anderer Takt (A Different Drummer) Kelleys Erstlingswerk.
Von dieser Renaissance hatte Kelley selbst nichts mehr. Er stirbt im Februar 2017 an Nierenversagen im Alter von 79 Jahren. Nach der Rückkehr in seine Heimatstadt New York unterrichtete er bis zu seinem Tod an der Sarah Lawrence University kreatives Schreiben und arbeitete auch privat weiter an mehreren Manuskripten. Seine neuen Bücher wurden aber zu Lebzeiten nicht mehr veröffentlicht. Wie bei vielen afroamerikanischen Künstlern sind Attribute wie “verloren” oder “vergessen” extrem kritisch zu betrachten, da sie zu oft die eigentlichen Hintergründe dieser Geschehnisse verschleiern. Auch die neu gefundene Aufmerksamkeit wird dies nicht mehr richtigstellen. Aber auch die zu späte Auseinandersetzung kann Möglichkeiten mit sich bringen. Denn die Bücher Kelleys sind auch nach 50 Jahren leider noch aktuell.
Scheuklappen
Drummer ist ein kurioses Werk. Zum einen ist es schockierend (und ehrlich gesagt deprimierend), dass Kelley ein solches Buch 1962 im Alter von nur 24 Jahren veröffentlichte. Zum anderen ist die Handlung, und vor allem wie sie erzählt wird ungewöhnlich. Drummer erzählt die Geschichte eines einzelnen Tages im Juni 1957 im fiktiven Südstaatenort Sutton in einem ebenfalls fiktiven und ungenannten Bundesstaat im Süden der USA. Kelley skizziert zunächst die Geschichte der Kleinstadt. Der berühmteste Sohn der Stadt war der Konförderiertengeneral Dewey Willson, dessen Statue die Mitte des Ortes schmückt und dessen Nachfahren das meiste Land in der Gegend gehört. Vielmehr gäbe es über Sutton und den namenlosen Staat auch kaum zu berichten, wäre nicht an einem Sommertag die gesamte schwarze Bevölkerung gen Norden aufgebrochen. Der Beginn dieses Exodus, der die Gegend als den einzigen Bundesstaat ohne einen einzigen schwarzen Bewohner zurücklässt, geht angeblich von einem einzigen Mann aus; dem Farmer Tucker Caliban.
Tucker wacht eines morgens auf, salzt seine Felder, erschießt sein Pferd, brennt sein Haus nieder und verlässt mit seiner hochschwangeren Frau die Stadt. Drummer erzählt im Folgenden die Geschehnisse des Tages, aber hier zeigt sich das Interessante an Kelleys Roman. Der Exodus wird nicht aus der Sicht der schwarzen Bevölkerung geschildert, sondern ausschließlich aus der Perspektive der weißen Bewohner von Sutton. Für einen heutigen Leser ist der Auszug der afroamerikanischen Menschen aus dem Jim Crow – Süden vermutlich wenig verwunderlich. Aber Kelley lässt den Leser alleine mit alleingelassenen Weißen, die sich händeringend nach einer Erklärung für den enigmatischen Tucker und die anderen Aufbrechenden bemühen.
Dabei skizziert Kelley hier keine marodierende Meute wütender Rassisten – zumindest nicht zu Beginn. Viel eher interessiert ihn eine weiße Blindheit, eine fast umgreifende Unwissenheit und fehlende Wahrnehmung gegenüber ihrer Umwelt. Die Entwicklung trifft sie komplett unerwartet. Ein Großteil der Bewohner kommt an der Veranda des alten Mister Harper zusammen, einem verkappten West Pointer, um sich über die seltsamen Machenschaften auszutauschen. Die Antwort liegt für viele der hiesigen Südstaatler in der Folklore des eigenen Ortes. Einst wurde ein großer Sklave am großen Sklavenmarkt eingeschifft, 7 Fuß groß und muskelbepackt. Der General Willson setzte es sich in den Kopf den “Afrikaner”, wie er nur genannt wird, zu bändigen. Der Sklave schaffte es jedoch seine Ketten zu sprengen und zu fliehen und konnte vom Umland aus immer wieder einzelne Sklaven befreien. Schließlich tötete Willson “seinen” Afrikaner, der zum Zeitpunkt seines Todes ein Baby in den Armen hielt: den Ur-Urgroßvater Tucker Calibans.
Es liegt ihm also im Blut, postulieren die Bürger Suttons. In der Flucht in einfache Lösungen zeigt Kelley hier die Scheuklappen, die der Rassismus der weißen Bevölkerung aufsetzt. Wie allen Schwarzen, soll Tucker ein zerstörerischer und irrationaler – eben ein niederer – Zug angehören, der von einer Generation in die nächste weitergegeben wird. Dass es Umstände geben könnte, von struktureller Diskriminierung bis hin zum Lynchmord, die einen Menschen dazu bringen könnten sein wenig Hab und Gut zu zerstören und seine Heimat zu verlassen, kommt ihnen nicht in den Sinn. Noch weniger ihre eigene Rolle und deren Aufrechterhaltung. Es erinnert an eine verdeutlichte Darstellung der Worte James Baldwins: “Was auch immer Weiße nicht über Schwarze wissen verdeutlicht, präzise und unerbittlich, was sie nicht über sich selbst wissen.”
Ein Schritt vor, Zwei zurück
Von dieser Gruppierung und dem Unverständnis des Kollektivs lässt Kelley die Sicht der Einzelnen einfließen. Die Charaktere sind sich, anders als die meisten Anwohner, nicht so sicher, ob Tucker wirklich einfach den Verstand verloren hat – und dass ihm dies ohnehin vorbestimmt war. Die Protagonisten Kelleys sind augenscheinlich progressiver als ihre Mitbürger oder hatten zumindest einst das Potenzial dazu. Denn die beiden Nachfahren General Willsons, David und sein Sohn Dewey, reflektieren scheinbar kritisch über ihre Umwelt. Doch über mehrere Kapitel wird recht schnell deutlich, dass die kurzlebigen Bemühungen für Gerechtigkeit, die beide betrieben haben, nur von kurzer Zeit waren. David schrieb für eine linke Zeitung und auch Dewey verkehrte am College in ähnlichen Kreisen. In beiden Fällen reichen geringste Hürden, um die Willsons von ihren Bestrebungen abzubringen und zurück nach Sutton zu treiben; ein reflexives Zurückfallen in die Strukturen, die sie zwar verachten aber die ihnen auch ein bequemes Leben ermöglichen.
Ihre eigene Tatenlosigkeit wird ihnen durch Tuckers Zerstörung noch deutlicher. Aber Tucker Caliban, dessen Familie seit Generationen für die Willsons arbeitete, ist für sie ein Einzelfall, ein ehrgeiziger und engstirniger Mensch der sich sein eigenes Schicksal schmieden will. Aber in ihren Erinnerungen sind seine Eigenarten niemals Teil eines größeren Bildes und liefern lediglich Anstoß zum Selbstmitleid. Beiläufig – und doch wiederholt – lässt Kelley durchblicken, dass David und Dewey bei ihren grübelnden Gängen durch Sutton die anderen schwarzen Bewohner, die mit ihren Reisekoffern und Bustickets aufbrechen, nicht bemerken.
Die, die sich der Besserung und Veränderung des getrennten Südens verschrieben hatten, können das große Bild, nun da es um sie herum geschieht, nicht mehr sehen. Drummer kritisiert an diesen Stellen die Kurzlebigkeit weißer liberaler Bemühungen, die sich verflüchtigen können, wenn die Reformer wie die Willsons sich aus ihren Protagonisten-Rollen herausgedrängt sehen. Kelley führt seine Charaktere immer an einem Wasser entlang, aus dem sie selbst nicht zu trinken vermögen – aber doch zu suchen scheinen. Kelley durchleuchtet das Rassismus-Problem nicht aus der Perspektive von Opfern, sondern aus der von verkappten Tätern und scheiternden Verbündeten. Drummer zeigt in diesen Momenten immer wieder gnadenlos, wo und wie Rassismus fortbestehen kann. Er steckt hier in Strukturen und in den Menschen die von ihnen profitieren und die es nicht fertig bringen, sie einzureißen.
Fazit: Zur eigenen Musik
Tucker Caliban wird zwar zum Fixpunkt der Geschichte, bleibt aber kaum greifbar für seine Umwelt. In Rückblenden anderer Charaktere bekommt man die Fragmente eines Mannes geschildert, der sich immer wieder fragt ob seine Existenz als Opfer von Diskriminierung alles ist, was er sich erhoffen kann. Mit dieser Frage unterbricht er die Grabrede für seinen Vater, der als braver, genügsamer Mann gelobt wird. Aber es liefert auch das Bild eines Mannes, der sich auf diesem Weg nicht von den üblichen Institutionen der Civil Rights-Bewegung helfen lassen will: Bei einem Dinner mit Freunden seiner Frau weigert er sich, den Dollar Beitrag für die örtliche Bürgerrechtsgruppe zu bezahlen. Er fragt, was diese je für ihn getan haben und schwört, sich selbst zu helfen.
Überhaupt wird die organisierte Form des Widerstandes hier zwielichtig beleuchtet. Ein Repräsentant einer weiteren kirchlichen, schwarzen Aktivistengruppe, der Reverend Bradshaw, erreicht Sutton in einer Limousine samt Chauffeur und fragt die Ortseinwohner nach Tucker Caliban aus. Doch auch er scheint nach der eigenen Kerbe zu suchen in die er schlagen kann; seinem Platz im größeren Bild. Ähnlich wie die Willsons ist er losgelöst von den Entwicklungen, die von selbst, als logische Folge gegebener Umstände begannen. Er kommt zu spät. Es ist schon alles passiert, weil es immer passieren musste.
Tucker erklärt dem jungen Harold Leland, als dieser ihn fragt warum er denn gehen müsste, dass, wenn er es jetzt nicht verstehe, er es nie verstehen würde. Der Titel A Different Drummer (Ein anderer Takt) ist eine Anlehnung an die Worte von Henry David Thoreaus: “Wenn ein Mensch nicht mit seinen Begleitern Schritt hält, liegt es vielleicht daran, daß er einen anderen Trommler hört. Laß ihn nach der Musik ausschreiten, die er hört, egal wie bedächtig oder weit entfernt diese klingt.” Kelley zeigt immer wieder auf, wie die Menschen Suttons die Musik nicht hören können und was dies mit ihnen anrichten kann.
Die Spannung für den Lesenden entsteht in der Auseinandersetzung mit der Frage, inwieweit man in der Lage ist dem Takt zu folgen. Gerade die Momente, wo sich zunächst Unverständnis und Stille breit machen sind erleuchtend, denn man versteht – anders als die Menschen Suttons – sich nicht nur auf den einzelnen zu konzentrieren, der aus der Reihe tanzt. Drummer zeigt, immer aus der Sicht von Menschen die sie nur beinahe hören, wo die Musik spielt. Dies ist sowohl inhaltlich als auch formell sehr interessant. Es erwartet aber auch eine Bereitschaft zur Selbstkritik, um auch die verborgeneren Facetten des Buches wertschätzen zu können. Denn die Verfehlungen der Protagonisten sind nicht zu außergewöhnlich, um sie nicht auch wiedererkennen zu können.
Die Folgen eines tief verwurzelten Rassismus, ob in Amerika oder anderswo, die auch heute noch zu spüren sind, erfordert eine anhaltende kritische Auseinandersetzung. Durch eine Vorführung des Scheiterns dieser Auseinandersetzung, zeigt Kelley bereits in seinem ersten Buch was dies mit Menschen anrichten kann. Wer sich darauf einlassen kann und nach der Musik oder ihrem Ausbleiben suchen will, ist mit A Different Drummer gut beraten.
Unterstützen
Wenn dir der Beitrag gefallen hat, würden wir uns über eine kleine Spende freuen.
Noch mehr Stories? Folge seitenwaelzer:
Max Klas
Angehende Münsteraner Kultfigur. Interessiert sich für Literatur und Filme und träumt vom Schalker Meistertitel.
Im Wandel (Teil 2): Wie die Literatur Frauenbilder widerspiegelt
Im Wandel (Teil 1): Frauenbilder der westlichen Welt
Tatsächlich gelesen: Fünf Freunde oder das Phänomen der Nostalgie (Enid Blyton)
Tatsächlich gelesen: Naokos Lächeln (Haruki Murakami)
Tags: A Different DrummerA Drop of PatienceDancers on the ShoredemEin Anderer TaktLiteraturrassismusRezensionSchwarze LiteraturWilliam Kelley