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Brave New World und Island: Von Dystopie zu Utopie

Brave New World ist eines der bekanntesten Werke der englischen Literatur und das zu Recht: Huxley hat in seinem dystopischen Roman Problematiken hervorgesehen, die in unserer heutigen Zeit tatsächlich präsent sind. Dass der Autor 30 Jahre später einen Roman veröffentlichte, der das Szenario eines totalitären Staates komplett umkrempelt, wissen viele vielleicht gar nicht.
| Laura Klöppinger |

Geschätzte Lesezeit: 5 Minuten

Pixabay | Jonny Lindner

Jeder, der Brave New World gelesen hat, ist in eine Welt eingetaucht, in der es weder Individualität, Gefühle oder Freiheiten gibt. Aldous Huxley erschafft dort eine Gesellschaft, in der alles vom Staat vorbestimmt ist: Menschen werden in Laboren erschaffen, von Geburt an in gesellschaftliche Gruppen eingeteilt und davon abgehalten, über sich und ihre Gefühle nachzudenken. Kulturelle Bildung wird ihnen vorenthalten, damit sie kein kritisches Denken entwickeln können. Früh lernen sie, dass exzessiver Konsum besser ist als Wiederverwertung nach dem Motto: „Ending is better than mending“ (BNW).

Damit die Menschen die Diktatur, in der sie leben, nicht in Frage stellen, bekommen sie regelmäßig die Droge Soma verabreicht, die sie in einen Zustand der vollkommenen Zufriedenheit versetzen soll. Was mich an dieser Gesellschaft am meisten gestört hat, war die Tatsache, dass die Menschen nicht im Stande waren, Gefühle wie Liebe, Sehnsucht oder Schmerz zu empfinden. Daher ist mir auch der folgende Satz des Rebellen und Außenseiters John, der sich in der Schönen Neuen Welt verloren fühlt, besonders im Gedächtnis hängen geblieben: „I’m claiming the right to be unhappy“ (BNW).

Ein neues Weltbild

Nachdem ich den Roman gelesen hatte, behielt ich Aldous Huxley als einen Menschen im Kopf, der die Hoffnung an die Menschheit aufgegeben hat und nur noch die Abgründe im Menschen sieht. Doch als ich mich drei Jahre später intensiver mit dem Autor auseinandergesetzt habe, wurde das Bild ein anderes: In seinem letzten Roman Island (dt. Eiland), der 30 Jahre nach Brave New World erschienen ist, krempelt er nämlich das dortige Szenario um und führt uns eine Gesellschaft vor, die es gelernt hat, den Menschen als Individuum wertzuschätzen.

Island handelt von dem Journalisten Will Farnaby, der von seinem Chef den Auftrag bekommen hat, auf der pazifischen Insel Pala nach potenziellen Ölquellen zu forschen. Nachdem er (absichtlich) auf der Insel strandet, lernt er die Bewohner kennen. Diese, unwissend von seinem Vorhaben, unterrichten ihn in ihrer buddhistischen Philosophie und Lebensweise. Dadurch eröffnet sich ihm ein völlig neues Selbst- und Weltbild und schneller als erwartet verliert er seinen Auftrag aus den Augen. Und warum? Er hat eine Gesellschaft entdeckt, in der er vollkommen er selbst sein kann, die ihm zeigt, was es bedeutet, Mensch zu sein.

Natur vs. Technik

Doch worin unterscheiden sich Brave New World und Island so grundlegend voneinander? Warum wird das eine als Dystopie und das andere als Utopie klassifiziert? Der größte Unterschied liegt in der Beziehung zwischen Mensch und Umwelt. In Island vertreten die Bewohner den Leitsatz „Treat Nature well, and Nature will treat you well. Hurt or destroy Nature, and Nature will soon destroy you“ (Island). Die Natur ist für sie wertvoll und soll von allen respektiert werden. In Brave New World hingegen wird alles Natürliche, wie das Zeugen von Kindern, als abstoßend empfunden. Die technischen Fortschritte sollen die Natur immer weiter verdrängen. Auch das Altern sieht man den Menschen in dem totalitären Staat nicht an, dank der Technik, die dies ermöglicht.

Ein weiterer Unterschied besteht in den zwischenmenschlichen Beziehungen. Das Zulassen von Gefühlen und Emotionen hat auf Pala einen besonderen Stellenwert und wird als ein Zeichen von Stärke angesehen. Die Bewohner begegnen sich stets mit Empathie und Mitgefühl – Eigenschaften, die die Bewohner in Brave New World aufgrund ihrer Konditionierung nicht besitzen. Als der Außenseiter John der von allen umworbenen Lenina seine Gefühle gesteht, ist diese komplett verwirrt, da sie nicht in der Lage ist, etwas wie Liebe zu empfinden. Auch das Konzept der Monogamie ist ihr fremd, da sie von Kind auf gelernt hat, dass jeder jedem gehört.

Der Blick auf das Individuum

Auf der Insel Pala wird jeder Mensch als Individuum angesehen. Die Bewohner lernen deshalb auch schon von früh an, dass jeder Mensch einzigartig ist und dass jeder seine Stärken und Schwächen hat. Die Kinder wachsen in sogenannten Mutual Adoption Clubs auf. Das heißt, dass sie von mehreren Elternpaaren aufgezogen werden. So sollen sie eine vielseitige Erziehung bekommen und ein gesundes Sozialverhalten aufbauen. In Brave New World hingegen geht es darum, mit der Masse eins zu werden und nicht herauszustechen, weshalb auch jede Art von Rebellion gleich bestraft wird. Eltern gibt es in der Schönen Neuen Welt nicht, da die Menschen nicht mehr natürlich auf die Welt kommen.

Lies auch: Wie uns alte Science-Fiction-Klassiker unsere heutige Realität vor Augen führen.

Eines der zentralen Themen in Island ist die Achtsamkeitslehre. Die Inselbewohner leben stets im Hier und Jetzt und widmen jeder Tätigkeit und jedem Moment ihre vollen Aufmerksamkeit. Es gibt den sogenannten Mynah Bird, der über die Insel fliegt und immerzu ausruft: „Attention, Attention“ und „Here and Now“, um diese Lehre zu verbreiten. Durch regelmäßige Meditationen lernen die Bewohner, ihre Gedanken nicht zu bewerten und sich von ihrem Ego zu befreien: „Don’t look as a scientist or even as a gardener. Liberate yourselves from everything you know and look with complete innocence at this improbable thing before you“ (Island). Die Lehren und Weisheiten sind alle an den Buddhismus angelehnt und grenzen sich klar von der westlichen Lebensweise ab, die die Bewohner ablehnen. Die Palanesen üben sich darin, den Geist von negativen Gedanken zu befreien, in Brave New World hingegen werden den Bewohnern möglichst viele Glaubenssätze eingeflößt, wie bei einer Gehirnwäsche.

Was bedeutet es Mensch zu sein?

Brave New World und Island porträtieren Welten, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Eines haben die Romane allerdings gemeinsam: In beiden steckt ein großes Ausmaß an Gesellschaftskritik. Sie greifen Themen auf, die auch in unserer heutigen Zeit noch von Bedeutung sind, wie das Verhältnis von Mensch und Natur oder die westliche Konsumkultur. Wer Brave New World bereits gelesen hat, dem kann ich empfehlen, auch Island zu lesen, da der Roman ein interessantes Alternativszenario zu dem totalitären Staat in Brave New World darstellt. Aldous Huxley hat einen sehr nüchternen und wissenschaftlichen Schreibstil. Sobald man diese „Hürde“ aber erstmal überwunden hat und sich darauf einlässt, geht das Lesen schon viel einfacher daher. Und ich kann sagen: Es lohnt sich dranzubleiben. Mir haben beide Romane nämlich viel darüber gelehrt, was es bedeutet, Mensch zu sein, und wozu dieser eigentlich in der Lage ist. Er kann von seinem Ego gesteuert sein und die Natur zerstören oder seine Umwelt sowie Mitmenschen respektieren.

„The beauty of dystopia is that it lets us vicariously experience future worlds but we still have the power to change our own.“

Ally Condie

Die Frage bleibt: Wollen wir in einer Welt leben, in der zwar alles „perfekt“ scheint, dafür aber unsere Gefühle und Gedanken „betäubt“ werden, oder in der wir unser Menschsein akzeptieren und nicht ständig nach Selbstoptimierung streben? Dystopien und Utopien sind zwar immer nur theoretische Konstrukte, dennoch denke ich, dass in ihnen immer ein Stück Menschheit widergespiegelt wird. Gerade die Dystopie zeigt, auf was für eine grausame Zukunft der Mensch zusteuern könnte, wenn sich nichts an der jetzigen Situation ändert. Doch, das Gute ist, dass wir in der Lage sind, dies zu verhindern. Und genau aus diesem Grund hat Huxley vielleicht auch 30 Jahre später Island veröffentlicht. Er hat erkannt, dass Brave New World nicht das Schlusswort sein muss.

Quellen:
Huxley, Aldous; Bradshaw, David: Island. Re-issue. New York: Random House, 2009.
Huxley, Aldous: Brave New World. New York: Random House, 2008.

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Laura Klöppinger

… liebt die englische Sprache und Kultur, weshalb sie sich auch für das Anglistik (und Germanistik) Studium entschieden hat. Wenn sie nicht gerade liest oder Musik macht, diskutiert sie gerne über Doctor Who oder die neusten Indie-Rock Alben.

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