Das Schweigen der Medusa: Über Gayl Jones Roman „Eva’s Man“
Medusa schweigt? ...auch im Roman "Eva's Man" von Garyl Jones. Max gibt einen Einblick und Überblick.
Geschätzte Lesezeit: 5 Minuten
21 Jahre nach dem Erscheinen ihres letzten Romans kehrte Gayl Jones dieses Jahr mit der Selbstveröffentlichung von Palmares zurück. Das Werk über die letzten Lager flüchtiger Sklaven im Brasilien des 17. Jahrhunderts wurde von Beacon Press aufgekauft und soll 2021 auf dem Markt erscheinen. Um diese Rückkehr etwas zu kontextualisieren und ihre Bedeutungskraft hervorzuheben, lohnt es sich zu Eva’s Man (1976) zurückzukehren. Es war Jones zweites Buch und ist ein ebenso komplexer wie wichtiger Einstieg in das Werk einer der enigmatischsten afroamerikanischen Autorinnen des 20. Jahrhunderts.
Das Buch ist die Erzählung einer inhaftierten Frau. Eva Medina Canada sitzt in einer psychiatrischen Gefängnisanstalt: Sie hat ihren Liebhaber Davies vergiftet und posthum kastriert. Die Psychiater, Wärter und ihre Mitinsassinnen fragen sie wieder und wieder nach ihren Beweggründen für den Mord und die Verstümmelung. Diese Fragen sind aber oft nur eine Ausrede, um ihre eigenen Interpretationen anzuführen. Sie sehen Eva, ihre ungekämmten Haare („I’m Medusa“ reflektiert sie immer wieder über ihr Erscheinen) und sie sehen was sie getan hat. Sie haben genug gesehen. Auf die meisten solcher Avancen reagiert Eva mit Schweigen. Die wenigen Antworten, die sie gibt, reichen nicht, um die Tat zu erklären. Das Buch ist die Erzählung einer misshandelten Frau. Die wenigen Seiten umfassen die Lebensgeschichte einer Frau, welche sich in jeder Lebenslage den sexuellen Übergriffen der Männer in ihrem Leben ausgesetzt sah.
„You know what I think,“ the psychiatrist said. „I think he came to represent all the men you’d known in your life.“
Es gibt einen Jungen, der mit einem Eis am Stiel Doktor spielen will. Da ist der Geliebte ihrer Mutter und ihr zu alter Ehemann. Ein reisender Mann im Bus und schlussendlich Davies, der sie in einer Bar aufliest und sie in einem Raum gefangen hält. In knappen 200 Seiten führt Eva durch ihr Leben. Dabei wählt Jones bewusst eine direkte, fast naturalistische Erzählart. Sie spricht nicht für Eva und will dies auch explizit nicht, wie sie in einem Interview schildert. Die Autorin tritt in den Hintergrund. Es gibt keine gut artikulierte und schöne Berichterstattung einer tragischen Lebensgeschichte. Eva erzählt, was diese Männer von ihr wollten und mit ihr gemacht haben – so direkt, wie es die Männer ihr gegenüber taten. Sie berichtet aber ebenso direkt davon, was sie von den Männern wollte. Es wäre zu einfach, Eva’s Man nur als Korrektur für die Vorurteile und Misshandlungen schwarzen Frauen gegenüber zu sehen, vor allem da Jones selbst ihre Bücher bewusst nicht als politische Statements schrieb.
Denn dieses Buch ist alles andere als einfach. Nicht nur die Direktheit des Buches und seine Thematik als Chronik jahrzehntelanger sexueller und psychischer Gewalt können dabei überwältigend sein. Eva erzählt ihre Lebensgeschichte ungeschönt aus ihrer Perspektive. Dabei teilt sie auch ihr inneres Wesen, ihre Gedanken. Dies bedeutet für die Lesenden, dass man keinen klaren Ablauf oder Struktur der Handlung erwarten darf. Man findet keine Aufzählungen aneinandergereihter Gewalt. Nein, jede Tat ist präsent, jeder Täter noch irgendwie da. Die Worte des aufdringlichen Moses, den sie mit 17 in einer Bar trifft, klingen noch in Davies Zimmer fast 30 Jahre später nach. Keiner dieser Männer und keine ihrer Vergehen sind die ersten, sie schlagen immer in offene Wunden.
“Sometimes they think I’m lying to them, though. I tell them it ain’t me lying, it’s memory lying. I don’t believe that, because the past is still as hard on me as the present, but I tell them that anyway.”
In diesem Zusammenspiel von Form und Inhalt ist es leicht, sich zu verirren. Oft gibt es wenige Hinweise darauf, welcher der Männer in einem bestimmten Moment spricht. Der erste Impuls, sich die einzelnen Eigenschaften der Charaktere zu merken, trifft irgendwann auf die Erkenntnis, dass dies weder Sinn noch Zweck hat. Gayl Jones wirft dem Lesenden die eigenen Laiendiagnosen direkt zurück, die selbstgefälligen Worte des Psychiaters decken sich mit den verfrühten Meinungen der Lesenden. Die Erzählung, als die Vermischung verschiedener traumatischer Episoden, verwischt die Grenzen zwischen Vergangenheiten und Gegenwart und ihrer Wiedergabe in Erzähl- und Gedankenwelt. Durch diese fließende und fragmentarische Erzählweise werden Lesende dazu verleitet, die Lücken in und um die Geschichte selbst zu füllen. Man versucht, Eva zu folgen, mit ihr zu denken und irgendwie zu verstehen. Das kann ebenso spannend wie frustrierend sein; auch hier sind die Übergänge oft fließend.
Evas Gedanken und ihre Erinnerungen werden dabei selten von ihren eigenen Worten unterbrochen. Ihre Motive – für ihre Tat, ihr Schweigen oder ihr Auftreten – werden immer wieder erfragt. Aber es schleicht sich das Gefühl ein, dass ihr Schweigen aus einer nüchternen Erkenntnis herrührt. Wenn sie in einer Bar belästigt wird und die Fragen eines Mannes knapp aber wahrheitsgemäß beantwortet, werden ihre Antworten beiseite geschoben. Der Mann – genau wie die vor und nach ihm – hatte ein Bild, welches schon existierte bevor er sich an Evas Tisch setzte. Ein solches Bild bedarf keiner weiteren Bestätigung durch die Betroffene. Die Fragen brauchen demnach auch keine Antworten, Evas Wahrheit oder ihr Schweigen sind Räume die von anderen gefüllt werden. Wozu also die Mühe?
“See what they are doing with this woman.”
Die Einblicke und Perspektiven, die Jones dem Lesenden zusteht, sind nicht ausreichend, um Eva Medina besser zu verstehen. Aber das Eintauchen in die Fragmente und Fetzen ihres Lebens fordern den Lesenden heraus, mitzudenken. Und jede gefüllte Lücke, jede eigene Annahme wirft die Fragen der eigenen Vorurteile und des eigenen Standpunkts wieder auf. Vielleicht versucht man Antworten zu liefern und Leeren zu füllen, die keine sind oder diese Arbeit nicht mehr benötigen. Alleine mit Eva fand ich mich beim Lesen oft auf mich selbst zurückgeworfen und dazu gezwungen, meine eigenen Gedanken zu hinterfragen. Wieso fiel es mir an dieser und jener Stelle so verführerisch leicht, die Löcher in der Erzählung zu füllen? Hatte ich wirklich zugehört und konnte ich das überhaupt? Eva’s Man gibt keine Hinweise oder klaren Antworten – wer diese findet, hat sie vermutlich mitgebracht. Es ist ein Roman, der zum Denken anregt, aber zu einfaches Denken sofort in Frage stellt.
Wer sich von der Thematik und Schilderung nicht abgeschreckt fühlt, findet hier eines der vielleicht herausforderndsten und interessantesten Bücher der amerikanischen Literatur.
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