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Erasmus in Istanbul – Ein Semester zwischen den Kontinenten

Warum es mich für einen Auslandsaufenthalt in die Türkei zog
| Amelie Haupt |

Geschätzte Lesezeit: 6 Minuten

Amelie Haupt

Ich hatte genau drei Kriterien für das Land, in dem ich mein Auslandssemester machen würde. Es sollte:

  1. Neu und möglichst exotisch für mich sein.
  2. Ein sonniges Klima haben.
  3. Nicht teurer als Deutschland sein.

Ich bin die Liste meiner 40 Optionen für Partneruniversitäten meiner Hochschule durchgegangen und hatte schnell einen Treffer: Die Bilgi Universität in Istanbul.

Meine Entscheidung war klar, ich wollte wieder mal ein Abenteuer erleben. Also hieß es für mich: auf zur Metropole am Bosporus. Eine Stadt mit 20 Millionen Einwohnern, die sich auf die Kontinente Europa und Asien verteilen. Damit ihr eure Wahl vielleicht ein bisschen fundierter trefft als ich, gebe ich euch hier eine Übersicht über meinen Aufenthalt und ein paar Eindrücke, wie es war in einem Land zu studieren und zu leben, das von einem undemokratischen Irren regiert wird.

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Die Uni

Die Bilgi Universität hat einen sehr guten Ruf. Das liegt zum einen daran, dass sie eine sehr liberale Stellung hat und (für türkische Verhältnisse) eine sehr teure Privatuniversität ist. Besonders schön am Erasmussemester ist, dass man sich seine Kurse, mit wenigen Einschränkungen, selbst aussuchen darf. Ich wählte Kognitive- und Soziale Psychologie, Entrepreneurship, einen Englischkurs für Soziologie und Türkisch. Nie hatte ich so einen leeren Stundenplan und doch hatte ich mehr als genug zu tun. Aber nicht weil ich musste, sondern weil ich wollte! Die Prüfungen bestanden nämlich überwiegend aus Multiple-Choice-Fragen und bei den Erasmus-Studierenden wurde ohnehin ein Auge zugedrückt. Doch gerade, weil ich mich das erste Mal seit Beginn des Studiums nicht unter Prüfungsdruck gesetzt fühlte und alle Kurse selbst gewählt hatte, habe ich in jedem Fach mehr gemacht, als nötig war und schloss das Semester mit einer glatten 1,0 ab. Das hat mir nicht nur den Schnitt ordentlich nach oben gezogen, sondern mich auch eine wichtige Lektion gelehrt: Chill‘ Mädchen, und deine Noten werden besser!

Organisation

Zum Glück kümmerte sich die Universität um einigen Orga-Kram und ich konnte das Visum sowie meine Transportkarte in der Uni beantragen. Mit der Transportkarte konnte ich jedes öffentliche Verkehrsmittel (inklusive der Fähre!) in ganz Istanbul zum halben Preis nutzen. Zusätzlich bot die Uni noch einen Shuttleservice an, der unter anderem von der Haltestelle vor meiner Haustür bis zum Campus fuhr. Aber obwohl die Uni beim Antrag des Visums behilflich war, so war das Sammeln der nötigen Dokumente und Behördenstempel die reinste Schnitzeljagd. Zusammen mit einer italienischen Erasmusstudentin lernte ich die Stadt und ihre Bürokratie kennen und hatte sogar ein bisschen Spaß dabei. Falls noch mal jemand behaupten sollte, Deutschland wäre ein bürokratisches Land, der soll sich mal durch das türkische Verwaltungssystem kämpfen. Kein Türkisch zu sprechen, macht die Sache übrigens nicht einfacher, da Englisch fast nur von jungen und gut gebildeten Menschen gesprochen wird.

Wohnung

Mein Zimmer war zwar nur 9 Quadratmeter groß, aber dafür standen mir zwei Balkone und ein großes Wohnzimmer zur Verfügung. Dazu kamen noch zwei weitere Erasmusstudentinnen und zwei Türkinnen, die sich ein Zimmer teilten, die zu meinem Wohlbefinden beitrugen. Wir verstanden uns gut und unternahmen auch hin und wieder etwas zusammen. Ich zahlte übrigens 350 €, genauso viel, wie ich vorher in Köln für ein Kellerloch zahlte, das lediglich 3 Quadratmeter größer war.

Hervorragend war auch die Lage meines neuen Wohnsitzes: Direkt an der Haltestelle Osmanbey, nur eine Station bis zum Taksim-Platz, wo der Trubel stattfindet. Die Wohnung zu finden, war übrigens ein Kinderspiel. Ich hatte einen Buddy zugewiesen bekommen, bei dem ich auch die ersten zwei Nächte verbrachte und der sich bei seinen FreundInnen nach einer Wohnung umhörte. Drei Tage nach meiner Ankunft hatte ich meine Unterkunft. Wenn das doch nur in Köln so einfach wäre!

Erasmus

Mein Buddy hat mir den Einstieg sehr erleichtert und insgesamt empfand ich das Erasmus-Semester als gut organisiert. Man muss zwar in bisschen Papierkram machen, sowie einen Sprachtest, aber der Aufwand hält sich in Grenzen. Ich habe ca. 740 € für das komplette Semester bekommen. Das reicht natürlich nicht, um alle Kosten zu decken, aber einem geschenkten Gaul…

Reisen

Natürlich wollte ich auch etwas von der restlichen Türkei sehen und wählte ein populäres Reiseziel. Falls ihr schon einmal ein Bild von Heißluftballons über Steinformationen gesehen habt – das ist Kappadokya. Also reiste ich zusammen mit einer Freundin, einer amerikanischen Chemielehrerin, nach Göreme, im Landkreis Kappadokya, und machte eine Fahrt im Heißluftballon über Felsformationen. Die Landschaft dort war wirklich beeindruckend und für ca. 40 € bekamen wir eine all-inclusive-Tour durch die Region, bei der wir zum Beispiel eine Untergrundstadt erkundeten und den angeblich ersten Drehort von Star Wars besichtigten. Mein kleiner Urlaub war mehr als wohltuend, denn erst in der Stille der Natur merkte ich, wie anstrengend laut Istanbul eigentlich ist. Der kleine Touri-Ort, den man innerhalb von 15 Minuten durchlaufen konnte und der nur eine (!) Moschee hatte, deren Muezzin erschallte, war Balsam für meine großstadtgeschundene Seele.

Essen

Falafel sind nicht türkisch, sondern libanesisch. Ja, so habe ich auch geguckt. Dennoch gibt es natürlich zahlreiche türkische Leibspeisen. Mein absoluter Favorit: Baklava an jeder Ecke! Mein absolutes Highlight: Lammskopfsuppe um sechs Uhr morgens, um dem Kater vorzubeugen. Ich kann euch sehr ans Herz legen, mal in ein türkisches Restaurant zu gehen und ein paar richtige Gerichte zu bestellen. Die türkische Küche kann nämlich sehr viel mehr als nur Döner!

Kulturdifferenzen

Ich wollte ein exotisches Land und ich habe es auch bekommen. Es dauerte einige Nächte, bis ich mich an den allzu frühen Gebetsgesang gewöhnt hatte und nicht mehr davon aufwachte. Doch ich muss sagen, dass die Menschen, mit denen ich zu tun hatte, mir eher ähnlich als anders erschienen, trotz der unterschiedlichen Herkunft. Doch das lag vermutlich auch daran, dass Englisch eher von den gut gebildeten und liberalen Menschen gesprochen wird und man somit nur schwer in Kontakt mit Menschen kommt, die wirklich „anders“ sind. Ein Verhalten, das mir mehr als befremdlich ist, bemerkte ich immer wieder: Viele junge Menschen, die ich traf, logen ihre Eltern an. So erzählte mir ein Junge, dass sein Vater nichts von seinen Piercings wüsste. Das Nasenpiercing dreht er nach innen, sobald er nach Hause fährt und das Zungenpiercing hätte der Vater einfach nie bemerkt. Wenn er schon seinen Körperschmuck verheimlicht, so wird er auf keinen Fall verraten, dass er schwul ist. Er wirkte ein wenig erleichtert, dass er wenigstens mir gegenüber sowohl Piercings als auch sexuelle Orientierung offen zeigen konnte.

Tumult und Tränengas

Ja okay, ich kann das Thema schlecht auslassen. Auch wenn mein Semester noch vor dem Militärputsch im Juli 2016 zu Ende war, hat es auch vorher schon ordentlich gebrodelt in der Politik des Landes. Die Polizei ist nicht sehr zimperlich im Umgang mit Tränengas, egal ob eine Demonstration oder ein Fußballspiel stattfindet. Für eine Demokratin und Menschenrechtsliebhaberin, wie ich es bin, ist es auch ein seltsames Gefühl, mit dem Taxi im Stau zu stehen, weil in der Innenstadt gerade eine Zeitungsredaktion gestürmt wurde. Auch wenn ich nie konkrete Angst vor einem Attentat hatte, weil ich die Wahrscheinlichkeit in einer 20-Millionen-Stadt ausgerechnet neben der Bombe zu stehen für sehr gering hielt, war es dennoch eine ständig präsente Bedrohung.

Katzen und Fähren

Weil ich diesen Artikel nicht mit einem so unschönen Thema ausklingen lassen möchte, kommen nun noch zwei meiner ganz persönlichen Highlights des Alltagslebens in Istanbul.

Katzen. Überall sind Katzen! Selbst in der Uni-Bibliothek waren Katzen, die dort von einem tierliebenden Professor betreut wurden. Die Tiere auf der Straße sind meistens sehr handzahm und gehören niemandem, aber alle kümmern sich um sie. Das absolute Paradies für mich!

Meine zweites Alltags-Highlight: Fähren. Die Fahrt über den Bosporus dauert ca. 25 Minuten. Plötzlich verstummt der Straßenverkehr, stattdessen saust der Wind um die Ohren und lässt die obligatorische türkische Flagge wehen. Der Motor vibriert, die Luft schmeckt nach Salz und das Schiff schaukelt in den Wellen. Schwupps, ist man auf einem anderen Kontinent.

Fazit

War das Semester überwältigend und anstrengend? Ja, das war es. Würde ich es wieder machen? Definitiv! Ich habe meine Wahl zu keiner Sekunde bereut und habe Istanbul als eine moderne Stadt erlebt, die viel zu bieten hat. Für die offenen und gutherzigen Menschen, die ich dort getroffen habe, hoffe ich, dass dieser undemokratische Irre bald vom Thron gestoßen wird und das Land endlich seine eigene Identität finden kann.

Dieser Artikel stellt nur die Meinung der AutorInnen dar und spiegelt nicht unbedingt die Ansichten der Redaktion von seitenwaelzer wider.

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