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Farücktes aus Istanbul
Von Erdogan und anderen Seltsamkeiten - Einblick in die wilde Welt am Bosphorus.
Geschätzte Lesezeit: 5 Minuten
Verlässt man seine altbekannten Routen des täglichen Lebens und zieht hinaus in andere Städte, Länder und Kulturen, dann wird man viele Momente erleben, in denen man sich denkt: „Hä? Was? Warum? Wozu? Oha! Ohjeeee…“
Genau von diesen wunderlichen Erlebnissen und Andersartigkeiten werde ich euch heute berichten. Ich habe die letzten zwei Monate in Istanbul verbracht und allmählich bekomme ich das Gefühl, mich einzuleben. Die Stadt ist mit ihren rund 20 Millionen Einwohnern quasi der Endgegner unter den Großstädten, was das Zurechtfinden nicht gerade erleichtert. Zudem ist Istanbul voller Kontraste, was die Stadt total aufregend macht, einen allerdings auch immer wieder in mehrdeutige Situationen wirft, die nicht leicht zu verstehen oder sehr überraschend sind. Damit ihr wisst, wovon ich spreche, ein paar Beispiele aus meinem Alltag:
Farbenblinde Autofahrer: Grüne und roten Ampeln müssen hier eine andere Symbolik haben. Anders kann ich mir das Verhalten der Fahrer und Fußgänger nicht erklären: Manchmal halten die Autofahrer bei Rot, manchmal aber auch bei Grün, meistens fahren sie aber. Fußgänger gehen eigentlich immer über die Straße, falls jedoch ein Auto kommt, muss man sich beeilen, denn der Autofahrer wird nicht mal mit der Wimper zucken und schon gar nicht seinen Fuß auf die Bremse setzen. Meine Taktik ist, dass ich immer im Schatten einer anderen Person die Straße überquere. Falls also das Auto doch zu schnell ist, dann hab‘ ich noch einen menschlichen Puffer zwischen der Motorhaube und mir.
Wasser in Plastikbechern: Hä? Das ist alles was mir dazu einfällt. Ich habe keinen blassen Schimmer, warum um alles in der Welt, man Trinkwasser nicht in einer Flasche, sondern in einem viereckigen Plastikbecher abfüllen sollte. Die Türken, die ich gefragt habe, haben nur mit den Schultern gezuckt. „Ist halt so“…Ehhh…Aha?!
Alle hassen Erdogan: Istanbul, zumindest die zentralen Stadtteile und seine Menschen, ist ziemlich europäisch und westlich gesinnt. Man sieht mehr Köpfe als Kopftücher und junge Leute denken, wie bei uns, mehr über Beziehungen, Jobs und Freizeit nach, als über Ehemänner, Kinder und Allah. In den religiösen Vierteln sieht das natürlich anders aus und ich bin als deutsche Außenseiterin natürlich vielmehr mit den weltoffenen internationalen Menschen zusammen, aber dennoch: Ich habe noch nicht eine einzige Person getroffen, die etwas Positives über Erdogan zu sagen wusste. Der lebt nämlich nicht so ganz im 21. Jahrhundert und findet, dass Frauen und Männer nicht gleichberechtigt sein sollten und, dass Istanbul noch mehr Moscheen braucht, weil die bisherigen 3000 Moscheen einfach nicht genug sind. Sehr sympathisch ist auch sein Vorhaben, sein Amt als Präsident mit mehr Macht zu versehen, um länger und umfangreicher regieren zu können. Sein großes Vorbild für diese Idee: Putin.
YouPorn adé: Error 404 – Page Not Found. Die meisten Internetseiten mit pornografischen Inhalten sind im türkischen Internet nicht zugänglich. Erdogan sieht wohl die Familienplanung bedroht. Allerdings gibt es natürlich Mittel und Wege, diese Sperre zu umgehen, die man mit Hilfe der Google-Suche leicht findet. Ich habe das natürlich aus rein journalistischem Interesse recherchiert.
„Allah ist groß!“: So europäisch die größte Stadt der Türkei auch ist, ich werde fünf Mal am Tag daran erinnert, dass ich mich in einem muslimischen Land aufhalte, wenn ich die Worte „Allahu akbar“ höre. Ich finde den Azan, den Aufruf zum Gebet, je nach Qualität der Lautsprecher und Stimme des Muezzins sehr schön und meistens recht beruhigend. Einfach für ein paar Minuten dem Gesang lauschen und die Spiritualität genießen, auch wenn man nicht religiös ist. Das funktioniert allerdings nicht, wenn man direkt vor einer Moschee steht und die Gebetsrufer einem mit gefühlten 34.663 Dezibel ins Ohr schreien.
Stau – Fahren im Schneckentempo: Zur Rush-Hour ab 18 Uhr Abends braucht man im Verkehr Nerven aus Stahl und eine Engelsgeduld. Beide Fähigkeiten versuche ich noch immer zu erwerben. Manchmal benötige ich für eine Strecke nur 30 Minuten, manchmal 1,5 Stunden. Manchmal steht man für 15 Minuten an einer Kreuzung und dann geht es plötzlich im Eiltempo voran. Ich persönlich mag am liebsten die Fähren. Man hat einen schönen Ausblick, wahlweise frische Luft oder einen warmen Innenraum, Tee und Orangensaft werden serviert und die Fahrtzeit ist immer gleich.
Die Konkurrenz als Nachbar: Ein stadtplanerisches eher unökonomisches Phänomen, das ich mir noch immer nicht ganz erklären kann, ist folgendes: Es gibt ständig Orte, an denen man im kleinsten Umfeld, jede Menge Läden findet, die haargenau das gleiche Produkt verkaufen.
Am schönen Platz „Ortaköy Cami“ stehen auf einem kleinen Platz unzähligen Essensstände mit genau zwei Produkten: Gefüllte Kartoffel (Kumpir) und Waffeln. Nur diese zwei Leckereien gibt es an jedem der kleinen Imbissbuden. Sonst nichts.
Folgt man von dort aus der Küste nach Beşiktaş, betritt man ein Gewirr an Straßen, in denen ausschließlich von Morgens bis Nachmittags türkisches Frühstück serviert wird. In Karaköy hingehen findet man eine ganze Straße, in der nur Lampen und Kronleuchter verkauft werden.
In meinem hübschen BWL-Studium habe ich gelernt, dass man sich besser nicht dort ansiedeln sollte, wo die Konkurrenz bereits ist, aber davon scheint man hier nichts gehört zu haben.
Luxussteuer auf Mobiltelefone: Um mehr Geld in die staatlichen Kassen zu spülen, sind Handys, Konzerte, Alkohol und sonstige „überflüssige“ Konsumgüter mit der Luxussteuer belegt. Um nun zu vermeiden, dass Handys zu günstigeren Preisen im Ausland gekauft werden, hat sich der Staat etwas Pfiffiges ausgedacht: Jedes Handy, das nicht in der Türkei gekauft wurde, ist nicht im System erfasst. Möchte man das Handy nun länger als die 90 Tage, die als touristischer Aufenthalt gelten, benutzen, muss man sein Handy registrieren lassen – für schmale 138 türkische Lira. Umgerechnet sind das ca. 43 €.
Fotomodell Kemal Atatürk: Der Gründer der Türkei und wortwörtlich Vater der Türken ist allgegenwärtig. Ganz gleich, ob im Restaurant, beim Friseur oder auf Facebook – überall findet man sein heroisches Porträt oder einen „authentischen Schnappschuss“. Mal mit türkischer Flagge, mal ohne, vom jungen Atatürk oder vom väterlichen Alten.
Diese Heldenverehrung finde ich etwas befremdlich, was vermutlich an meinen ererbten deutschen Geschichtsgut liegt und die Zeiten zum Glück vorbei sind, in der wir ein Porträt vom Reichsgründer in der Küche hängen haben.
Außerdem irritiert mich die Diskrepanz zwischen Atatürk als Foto an der Wand und Erdogan als Präsident. Atatürk hatte bei der Gründung der Türkei schließlich die Idee von einem säkularen, also weltlichen, Staat. Wie kann ein ganzes Land Atatürk verehren, aber die konservative Partei AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) mehrheitlich in die Regierung wählen?
Aber hübsch ist der Kemal ja schon..
Quellen: http://www.zeit.de/politik/ausland/2015-11/wahl-tuerkei-ahmet-davutoglu-verfassung-aenderung
https://pbs.twimg.com/profile_images/2556942347/r0kisqs7a97fmy3esda3.jpeg
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