Gesellschaft und Lifestyle / Studium
Erkenntnisse von einem anderen Kontinent 1/3: Was mich Brasiliens Umgang mit dem Thema Sicherheit über Politik und Gesellschaft lehrte
Ein Auslandssemester am anderen Ender der Welt: Im ersten Teil der Reihe geht es darum, was Lisa durch Brasiliens Umgang mit dem Thema Sicherheit über Politik und Gesellschaft lernte.
Geschätzte Lesezeit: 9 Minuten
Herzlich Willkommen zu meiner 3-teiligen Reihe über meine acht Monate in Südamerika In den folgenden Artikeln möchte ich euch mit auf die Reise nehmen und euch an meinen Erkenntnissen und Reflexionen nach nun fast einem Jahr, das seit meinem Aufbruch vergangen ist, teilhaben lassen. Vieles verarbeite ich erst jetzt, denn die Eindrücke meines Auslandssemesters in Brasilien und meiner anschließenden Reise durch Kolumbien und Peru sind intensiv gewesen, aber oft zu schnell an mir vorbeigezogen. So wünsche ich mir, ein wenig dieser Zeit neu zu erleben, indem ich euch davon erzähle und meine persönlichen Erkenntnisse daraus ziehe. Ich hoffe, ihr könnt dies am Ende ebenso.
Teil 1/3: Was mich Brasiliens Umgang mit dem Thema Sicherheit über Politik und Gesellschaft lehrte
Hier bin ich nun in meinem Zimmer in einer Paderborner WG – gut 3 Monate nach meiner Rückkehr, zurück auf der Seite der Welt, die wir alle kennen. Natürlich gäbe es auch viel über die schönen Landschaften und Strände, die tolle Kultur und Musik und die unglaubliche Gastfreundschaft und Freundlichkeit der Menschen in Brasilien zu schreiben und das werde ich in einem anderen Artikel bestimmt auch noch tun. Doch ich möchte mich hier und jetzt auf ein Thema beschränken, das mir seit meiner Zeit dort im Kopf geblieben ist und mich unter anderem auch sehr in meiner Meinung über Politik und meinem Engagement gegen eine Stigmatisierung von Minderheiten geprägt hat. Durch viele Berichte in den Medien, um die immer katastrophaleren Entwicklungen des Landes, sehe ich es als meine Aufgabe, auch meine Sicht darzustellen. Es geht um das Thema und das Konzept der öffentlichen Sicherheit.
Die gesellschaftlichen Verhältnisse in Brasilien sind aus mitteleuropäischer Sicht in vielerlei Hinsicht rückständiger und haben mich einige Aspekte meines täglichen Lebens anders sehen lassen. Vieles vom äußeren, aber auch eigenem Identitätsverständnis der Menschen dort hängt von Herkunft, Wohnort, Einkommen und leider auch Hautfarbe ab. In viel härteren Dimensionen als hier in Deutschland. Wo du wohnst, sagt so viel mehr über dich aus als bei uns. Deine gesellschaftliche Stellung, dein Bildungsgrad und, von Vorurteilen geprägt, auch deine kriminelle Energie bestimmen, wohin und wie weit du im Leben kommst. Die Hauptstadt Rio de Janeiro, wo ich die meiste Zeit verbracht habe, weist eine Besonderheit in Großstädten Südamerikas auf, durch die viele der herrschenden Probleme entstehen. Die sogenannten Favelas (Armenviertel) liegen in der gesamten Stadt verteilt und beschränken sich nicht, wie in vielen anderen Städten, auf die Außenbezirke. Hier treffen, manchmal fast Tür an Tür, die weit auseinandergedrifteten Schichten Arm und Reich aufeinander und bilden oft die Brennpunkte des städtischen Lebens. Die berühmte Traumpromenade Copacabana ist, wenn man näher hinsieht und sich nicht von all den hübschen Menschen in Bikinis blenden lässt, voll von Bettlern und Menschen, die unter den unwürdigsten Umständen auf der Straße leben. Oft sind auch obdachlose Kleinkinder unter ihnen. Viele Male haben mir ihre Blicke und ihr unbeholfenes Handaufhalten nach Geld fast das Herz gebrochen. Direkt hinter dem nobelsten Viertel Leblon, wo die Schönsten und Reichsten wohnen, liegt hinter den Bergen „Dois Irmaos“ die größte Favela Rio de Janeiros – Rocinha genannt.
Es herrscht bei den Menschen eine große Angst gegenüber der fast täglich stattfindenden Kriminalität in den Favelas der Stadt, die meist von verschiedenen Drogenbanden kontrolliert werden. So entstand, unter anderem auch durch einige sehr voreingenommene Fernsehberichte des großen brasilianischen Medienunternehmens GLOBO und einige mit der Regierung zusammenarbeitende Medienberichterstattungen, eine große Abneigung gegenüber denFavela-Bewohnern an sich. Mit ihnen wird oft nur das Schlechte der Bevölkerung von Rio verbunden und ihre meist dunkle Hautfarbe wird oft als Grund für plötzliche, unbegründete Durchsuchungen der Polizei benutzt.
Lies auch: Kein fließendes Wasser am Rand der Welt. Hannah hat ein FSJ in Kenia gemacht.
In all diesen Strukturen absolvierte ich mein Auslandssemester, beobachtete, führte viele Gespräche und erlebte öfter Alltagsrassismus als mir lieb war. Eines Abends bei einem unserer üblichen Ausflüge an den Strand von Ipanema wurden Polizeikontrollen durchgeführt. Alle weißen Touristen um uns wurden ignoriert, nur die Menschen mit einer dunkleren Hautfarbe wurden aggressiv aufgefordert, ihre Taschen zu leeren. Direkt neben mir saß ein kleiner Junge mit seinem Vater, um einfach nur den schönen Sonnenuntergang zu genießen und wurde ganz verängstigt, als die Polizei seinen Vater mit erhobener Stimme aufforderte alles zu zeigen was er dabei hatte.
Auch mein Seminar „Medien und Repräsentationen von Favelas“ öffnete mir immer mehr die Augen über diese Zustände und konfrontierte mich mit der „cultura de medo“ (Kultur der Angst) in dieser Stadt und diesem Land. Meine Professorin ist in einer Favela aufgewachsen und es ist eigentlich ungewöhnlich, dass „jemand wie sie“ an einer Universität unterrichtet. Immer mehr sah ich Kleinigkeiten in meinem Alltag unter einem neuen Blickwinkel. Die vielen Zäune um alle Häuser, die Portiers in fast jedem Haus, die ungeschriebenen Regeln, wo man zu welcher Zeit sein konnte und wo nicht. Gleich zu Beginn meines Aufenthaltes hatten mich viele Einheimische vor diesen und jenen Straßen gewarnt und mir nachdrücklich geraten, nach Sonnenuntergang dort nicht mehr langzugehen. Die ersten Wochen war ich sehr verstört von diesen gut gemeinten Ratschlägen und wusste nicht, wie ich mich verhalten soll… und ich fragte mich, will ich so leben? Dann kam bald mein besseres Verständnis der politischen Verhältnisse hinzu. Viele Politiker machen in diesem Land, was sie wollen. Hier sollte zum Beispiel der weltweit bekannte Skandal um die Ölfirma Petrobras genannt sein, der aufzeigt hat, wie wirtschaftliche starke Firmen und die Politik systematisch zusammenarbeiten, um sich gegenseitig finanzielle und politische Vorteile zu verschaffen. Ein wenig Hoffnung in diesem Fall bringt hier die Operation „Lava Jato“, die diverse Verantwortliche in einem Jahrhundertprozess bereits vor Gericht und auch ins Gefängnis gebracht hat. Die Ermittlungen dauern aber immer noch an, da die Kreise unglaublich groß sind und viele verschiedene Baukonzerne und Politiker involviert waren. Dieses Ausmaß an Korruption in Wirtschaft und Politik ist leider oft zu finden und die Gewaltbereitschaft einiger Militärs ist ebenfalls ohnegleichen – brutale Militäroperationen, um die Favelas zu „befrieden“, bei dem meist mehr Unschuldige verletzt oder getötet werden als Drogenbosse gefangen.
All das wird mehr oder weniger unter dem Aspekt der allgemeinen Sicherheit der Bevölkerung und dem Frieden in der Stadt hingenommen. Es wird quasi ein Krieg geführt gegen einen Bevölkerungsteil, der generalisiert und nicht differenziert wird. Aber warum wehrt sich niemand dagegen? Irgendwann verstand ich, dass die meisten Menschen eine solche generelle Angst entwickelt haben, dass sie beinahe alles von der Politik und den Verantwortlichen hinnehmen würden, nur um sich sicherer zu fühlen und zum ersten Mal verstand ich dieses Gefühl. Viele erzählten mir von ihren Erlebnissen mit Kriminellen und dem Verbrechen in der Stadt. Eine Freundin von mir wurde bei Anbruch der Nacht auf einem Platz, auf dem sich immer viele Jugendliche trafen, von einem Typen mehrmals geschlagen, weil sie seine Drogen nicht annehmen wollte. Ein anderer Freund wurde auf einer der berüchtigten Straßen – die auch „Straße des Verlierens“ genannt wird – mit einer Waffe bedroht und ausgeraubt. Wieder eine andere Freundin wurde mitten am Tag in einem Park aufgefordert, ihr Handy rauszurücken und mit einem Messer bedroht. Wenn mir so etwas passieren würde oder ich auch nur davon hörte, würde ich dann nicht auch alles dafür tun, mich wieder sicher zu fühlen? Die Menschen, die mir Tag für Tag als „die Bösen“ präsentiert werden, verurteilen, meiden oder sogar hassen? In Brasiliens Politik passiert vieles unter dem Mantel von „mehr Sicherheit für alle“. Und gegen die Militäraktionen und das gewaltsame Einnehmen der Favelas sagt keine Mehrheit etwas, da man ja denkt, das Böse würde dort besiegt und „die Anderen“ bestraft.
Niemals würde ein mittelständischer Bewohner Rio de Janeiros eine Favela betreten. Das wird als ein enormes Risiko gesehen, das man lieber vermeidet. Ich als Touristin und zusammen mit vertrauenswürdigen, brasilianischen Freunden bin in einige Favelas gegangen, die als relativ sicher in meinem Umfeld galten und wurde von den Zuständen dort überrascht. In Santa Marta, eine der auch von internationalen Reisenden bewohnten Favelas in dem hippen Stadtteil Botafogo, fühlte ich mich so willkommen, wie bisher noch nirgendwo in der Stadt und wurde von fast jedem auf der Straße gegrüßt. Bei einem Einkauf in einem kleinen Kiosk unterhielten wir uns lange mit dem Besitzer und er lud uns zu seiner Geburtstagsfeier in ein paar Wochen ein. In der von Touristen oft besuchten Favela Vidigal herrschte eine freudige und geschäftige Stimmung auf den Straßen und wir genossen unsere Zeit dort sehr. Natürlich will ich keineswegs die Verhältnisse und stattfindenden Grausamkeiten in den Favelas kleinreden. Monate später konnten wir nicht nach Santa Marta zurück, da dort regelmäßig Schusswechsel stattfanden.
Mit der Zeit lernte ich, diese Gegensätze der Stadt für mich einzuschätzen und mich mehr auf einen kleinen Kreis an Freunden zu verlassen, die mir sagten, wo ich sein konnte und wo nicht. Viele der Warnungen, die ich anfangs erhalten hatte, waren nun meiner Meinung nach zu übertrieben gewesen und hatten mich zu sehr verängstigt. Ich begriff, dass auch ich mich komplett hatte fallen lassen in ein Weltbild, das mir vorgesetzt worden war und ich es, nicht besser wissend, einfach geglaubt hatte. Nur durch eigene Erfahrungen und ehrliche, längere Gespräche mit Menschen denen ich vertraute konnte sich meine Wahrnehmung der Realität angleichen. Natürlich kann ich kein hundertprozentig authentisches Bild von Rio der Janeiro geben, das ist auch gar nicht meine Intention. Doch allein diese persönliche Entwicklung hat mir vieles gezeigt und mir klargemacht, wie schnell wir durch Angst und Beeinflussung ein vorgegebenes Weltbild annehmen und akzeptieren, was um uns herum passiert und auch politisch entschieden wird.
Ich möchte mit euch meine Erfahrung teilen, um darauf aufmerksam zu machen, nicht immer allen Generalisierungen Glauben zu schenken und im Sinne einer fairen und gerechten Gesellschaft immer nachzufragen und sich selbst eine Meinung zu bilden. Wir sind in Deutschland Gott sei Dank weit entfernt von den politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen Brasiliens, doch die Schwelle ist niedrig. Die Diskussionen und politischen Entwicklungen um die Flüchtlingssituation und die immer mehr aufkommenden Rufe nach Abschottung, europäischen Grenzkontrollen, aktuelle Diskussionen um Seenotrettungen und der allgemeinen Stimmung gegen Menschen anderer Herkunft zeigen, wie sehr uns Angst bestimmen kann und uns schnell Menschlichkeit und Rationalität vergessen lässt.
Brasilien ist vielleicht nicht gerade eines der Länder, das als besonders beliebt für ein Auslandssemester gilt. Ich musste mir vieles im Vorhinein in der Entscheidungsphase und Vorbereitungszeit auf meine Zeit in Rio de Janeiro anhören. Über die Gefahren und katastrophalen Zustände dort und warum ich sowas überhaupt machen will, dort sei doch alles so anders. Aber genau wegen dieser Andersartigkeit habe ich mich für diesen Ort entschieden. Ich wollte etwas völlig anderes sehen, egal ob besonders gut oder schlecht und es hat mir schlussendlich so viel gegeben. Wie oft wurde ich herzlich willkommen geheißen, mit einer großen Freude darüber, dass jemand nicht all die schlimmen Nachrichten und Eindrücke als einzige, brasilianische Realität annimmt und wurde nur um eins gebeten: „Du trägst nun auch zu unserer Wahrheit bei, kehr nach Hause zurück und erzähle unsere Geschichte in deiner.“
Dies ist nur eine davon und weitere werden folgen.
Zwischen den Kontinenten: Amelie hat ein Auslandsseemster in Istanbul gemacht. Jetzt reinlesen!
Unterstützen
Wenn dir der Beitrag gefallen hat, würden wir uns über eine kleine Spende freuen.
Noch mehr Stories? Folge seitenwaelzer:
Lisa Wakup
Gebürtig aus dem schönen Wuppertal, studiere ich nun, meiner Leidenschaft nachgehend, „Populäre Musik und Medien“ in meinem 6. Semester in Paderborn. Ich lebe für Gesang und Musik, interessiere mich unter anderem für unterschiedliche Kulturen, Sprachen, reise sehr gerne und will dem Feminismus sein angestaubtes Image nehmen! Über all das schreibe ich hier ab und zu und hoffe ihr habt Freude dran.
Im Wandel (Teil 2): Wie die Literatur Frauenbilder widerspiegelt
Im Wandel (Teil 1): Frauenbilder der westlichen Welt
Bookstock-Festival für alle Buchliebhaberinnen und -liebhaber
Neu in Münster? – Die Hotspots, die man kennen sollte
Tags: AngstArtikelaußerhalbAuslandAuslandssemesterBrasilienGesellschaftGewaltReiseReportageSemesterSicherheitSlumsStudierenSüdamerikaTippsUniViertel