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Master of Arts in der Kategorie Wortsport

Von kopflosen Pegidisten und Applausraketen
| Nelly Langelüddecke |

Geschätzte Lesezeit: 8 Minuten

Nelly Langelüddecke

Sechs Menschen auf einer circa 15 Meter langen Bühne. Sie und allein ihre Stimme, Mimik und Gestik und sehen sich einem 800 Menschen starken, studentischen Publikum gegenüber. „Poetry Slam“ (dt. Autorenwettstreit) hat als Phänomen mitten in Münster eine neue Institution. Im Herzen der Stadt fand zum zweiten Mal der begehrte Hörsaalslam statt, ausgerichtet von den Allgemeinen Studierendenaussschüssen von Uni, FH und katholischer Hochschule. Ohne Hilfsmittel wie Verkleidungen oder Instrumente stellten sich die Poeten am Abend des 30. Mai der Applausbewertung der Zuschauer. Vor der kostenlosen Bändchenausgabe bildeten sich auch dieses Mal lange Schlangen.

Geräuschkulisse wie in einem Bienenstock: Stimmengewirr, hier und da ein lauter Zwischenruf, Menschen, die auf ihr Handy starren, um ihre Freunde zu finden, Menschen, die aus der drückenden Schwüle kommend, den Hörsaal H1 betreten, Menschen, die sich an ihren eisgekühlten Getränken festhalten. Der Saal ist bis auf den letzten Platz besetzt. Auf der trostlos-leer wirkenden Bühne steht eine Flipchartwand, auf der die Namen der Poeten in der Reihenfolge ihres Auftretens stehen, davor technikaffine Erdenbürger, die mit Kabeln und Schnüren hantieren, um die Mikrofone zu installieren.

 

Hörsaal
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Erster Akt: Die Vorrunde

Vorhang auf. Zwei Männer mit Wollmütze und Hut springen quietschfidel auf die Bühne. „Die einzigen Moderatoren Deutschlands, die sich konsequent selbst ansagen müssen“, Jens Kotalla und Marian Heuser, werden durch den Abend führen. Sie erklären, wie die Bewertung der Kandidaten stattfinden wird: 7 Punktetafeln mit den Werten 1 bis 10 werden im Publikum verteilt (wobei 1 bedeute, dass der Slammer „die Grenzen der Peinlichkeit und des schlechten Geschmacks“ neu definiere, 10 hingegen, dass „man mit dem Vortragenden gerne kopulieren würde. Mehrmals!“). Der Saal brodelt vor Gelächter und Applaus. Sozialpädagoge Jens lobt das Publikum für seine bisherige Klatschleistung.

Jens selbst liefert das sogenannte „sacrifice“, einen Text, der außerhalb der Wertung liegt. Hier wird getestet, ob die Zuschauer mit den Punktetafeln hantieren können und auch sonst guter Stimmung sind. Los geht’s mit dem Thema Mayonnaise. Der Vortragende mit dem „höchsten Dienstgrad Mayor“ steht dem „Mayonismus“ vor und beschwört dunkle Remoulade-Mayonnaise-Antagonismen. Ein guter Start in den Abend.

Während die erste offizielle Kandidatin, Svenja Gräfen, eine augenzwinkernd-feministische Hasstirade auf Jugendliche schwingt, seltsame Phänomene der Pubertät erläutert („Manga-Mädchen in Fußgängerzonen“) und sich dabei an ihre eigene Jugend erinnert, wird es mit Theresa Sperlings Text „Sezierung“ das erste Mal an diesem Abend tiefgründig. Es geht um die Reduzierung von Frauen auf ihren Körper und um sexistischen Aussagen wie: „Wenn man dir ‚ne Tüte über den Kopf ziehen würde, wärst du echt ein guter Fick“. Theresa positioniert sich: „Fickt euch alle, denn ich bin auch schön! Was ihr sagt, kann mich nicht mehr brechen. Es interessiert mich nicht mehr, es tangiert mich nicht mehr, es seziert mich nicht mehr.“ Ein rührendes Plädoyer dafür, in Menschen hineinzuschauen, zu ihrem wahren Kern, der über die äußere Hülle hinausgeht, vorzudringen. Was für Worte! Mit einem tosenden Applaus erhält Theresa mit 48 Punkten fast die Höchstpunktzahl.

Weiter geht es mit einer Posse über technische Generationenkonflikte in Sachsen-Anhalt. Zur Begeisterung aller sächselt der Leipziger André Herrmann die fiktiven Dialoge mit seinen Eltern, die sich über nichts mehr ärgern als den kaputten Fernseher inklusive „Receiver“ (gesprochen wie geschrieben!).

Kandidat Nummer 4 ist Florian Wintels. Der jüngste Poet ist seit 2009 auf den Slam-Bühnen Deutschlands zu Hause und stellt sich in Münster so vor: „Schön, dass ich da bin.“ Schallendes Gelächter hallt ihm entgegen. Mit seinem Text entzündet er ein wahres Feuerwerk. Mit selbstironischen Pointen spricht er vermeintlich egozentrisch über „den besten Text der Welt“ und nimmt sein Poetsein aufs Korn. Er gestikuliert wild, nutzt nicht nur eine Oktave seiner Stimme, senkt sie von einem lauten Fortissimo auf ein sanftes Piano hinab. Rhythmisch und kurzzeitig rappend nimmt er die Bühne mit vollem Körpereinsatz in Beschlag. Florian deutet live auf der Bühne den Grund dafür an, dass sein meistgesehenes Video 120.000 Klicks auf YouTube hat. Von den Zuschauern wird er mit voller Punktzahl belohnt.

Björn Gögge aus dem Ruhrgebiet thematisiert im Anschluss die verbindende Kraft des Amateurfußballs, denn „Scheiß egal, wo du herkommst, Hauptsache, du bist mal losgegangen und hast den Ball aus den Brennesseln geholt!“. Diese Distanz zum institutionalisierten DFB-Verbandsfußball tut gut, gerade in Zeiten, in denen die Europameisterschaft ins Haus steht und Fußballer mit Migrationshintergrund von AfD-Politikern persönlich angegangen werden. Eine Hymne auf die Freundschaft, die dennoch nicht verhindert, dass Björn schon bevor der letzte Kandidat aufgetreten ist, keine Chancen mehr auf das Halbfinale hat. Moderator Jens kündigt die erste Applausrakete zu Björns Verabschiedung an. Erst klatschen, dann trommeln und schließlich kollektiv „Danke“ rufen. Hier ist heute jeder irgendwie Sieger.

Daniel Wagner beendet die Vorrunde. Der Slammer aus Heidelberg hat den weiten Anfahrtsweg auf sich genommen, um den Abend in Münster für sechs Minuten politisch werden zu lassen. „Wenn man bei einem Huhn den Kopf abtrennt, passiert etwas, was fast jeder kennt, nämlich, dass es noch weiterrennt. Fragt sich so mancher: ‚Ohne Gehirn marschier’n? Geht das auch bei Menschen oder nur bei Tier’n?‘ Nein, geht auch bei Menschen. Siehe Pegida!“ Damit trifft er den Kern, auch wenn seine Aussagen polarisieren („Hitler-Witze sind auch keine Endlösung“). Ein Teil des Saales scheint ihn für seinen derben Humor zu lieben, der andere lacht eher fassungslos auf. Eines muss man ihm lassen: Sein Wortwitz, mit welchem er die braunen Entwicklungen in Deutschland beschreibt, unterstreicht sein Plädoyer gegen Rechtspopulismus und bringt ihm eine gute Punktzahl ein, die gleichzeitig für das Halbfinale qualifiziert. Man darf gespannt sein, was da noch kommt.

Bühne
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Die Kofbedeckungen sitzen: Marian Heuser (li.) und Jens Kotalla

Zweiter Akt: Das Halbfinale

Mit Mathematik geht es nach der Pause weiter, besser gesagt, mit einer Schulaufgabe: „Wenn Jesus zu seiner Zeit mal einen Cent zu 5% Zinsen angelegt hätte, wie viel hätte er, beziehungsweise seine Nachkommen, dann heute?“. Daniel entführt uns in die Welt der Geldkurve, „die exponentiell in den Himmel steigt, genauso wie Jesus.“ Der Heidelberger zweifelt an, dass Geld sich einfach so vermehrt, vielmehr müsse man mit Waffen handeln, damit das geschehe. Je mehr Waffen hergestellt werden, „desto mehr Kriege gibt’s, desto mehr Waffen werden wieder gebraucht, desto mehr Kriege gibt’s, desto mehr Waffen werden wieder gebraucht“. Daniel bleibt in seinem hohen rhythmischen Tempo kritisch. Mehrfach unterbricht ihn das Saalgelächter.

Während Florian mit seiner gespielten Egozentrik erneut die volle Punktzahl erreicht, sorgt Theresa für stille Nachdenklichkeit im Publikum. Ihr Text „Was ich meinen Söhnen nie selber sagen würde“ handelt von ihren Ansichten als Mutter. Es geht darum, wie gerne sie ihre Kinder für ihren Unkonformismus in der Schule loben würde, einfach, weil er von starken Charakteren zeugt. Darum, wie sehr sie ihnen gerne Realitätssinn in der ersten Liebe an Herz legen würde. Darum, wie sehr sie sie gerne zur unbedingten Zivilcourage auffordern würde. Sie erkenne, wie dunkle Zeiten, in denen nur wenige Bürger Widerstand gegen ein System leisteten, sich heutzutage in Fremdenhass und Ausgrenzung neu manifestierten. „Und deswegen hoffe ich so sehr, dass du dich in der U-Bahn vor den diskriminierten Moslem stellst, auch wenn du seine Lebensweise für rückständig und befremdlich hälst. Dass du dich auf der Straße vor die belästigste Frau und den bedrohten Rentner stellst. Auch wenn du dafür am Ende – und ich weiß, eine Mutter sollte so etwas nie laut aussprechen – deinen Kopf hinhälst.“ Die zerissene Mutter, die solche Sätze im Alltag dennoch nie über die Lippen bringt, braucht nur ihren Text und das Mikrofon, um ins Finale einzuziehen.

Theresa Sperling - Was ich meinen Söhnen nie selber sagen würde

 

Dritter Akt: Das Finale

Durchatmen. Moderator Marian bemerkt süffisant, dass trotz der Tatsache, dass hervorragende Poeten aus ganz Deutschland zusammen gekommen sind, das Finale zwischen Bad Bentheim (Florian) und Nordhorn (Theresa) ausgetragen werde, eine Distanz wie Münster/Münster-Nord. Die beiden Moderatoren schaffen es immer wieder, das Publikum daran zu erinnern, dass jeder Text neu bewertet werden muss, egal, was vorher geschehen ist. Um auszulosen, wer im Finale als erster seinen Text präsentieren muss (der Letzte hat immer einen klaren Erinnerungsvorteil beim Publikum!), leiten Jens und Marian ein launiges Ganzkörper-Schnickschnackschnuck zwischen den beiden Kontrahenten ein. Theresa wählt freiwillig den ersten Startplatz.

Auch in ihrem dritten Text knüpft sie an brandaktuelle Themen an. Als Lehrerin hat sie alltäglich mit Flüchtlingskindern und den auftretenden Kommunikationsproblemen zu tun. Das Kind von Wirtschaftsflüchtlingen „Amilia“, so der Titel des Textes und Name des Kindes, verschwindet eines Tages aus der Klasse, hinterlässt seiner Lehrerin aber einen Kugelschreiber. Erst in einer Postkarte erzählt es dieser von der Bedeutung des Stiftes. Er ist ihr eine Verbindung zur eigentlich liebgewonnenen neuen Heimat Deutschland, die sie so schnell wieder verlassen musste. Sie kündigt an, eines Tages zurückkehren zu wollen. Theresas Fazit: „Menschen kann man abschieben, ihr Träume aber nicht.“ Zwei Sekunden Stille. Der ein oder andere Zuschauer wischt sich heimlich eine Träne aus dem Augenwinkel. Dann: Donnernder Beifall, einige hält es nicht auf den Stühlen.

Allerdings hat auch Florian seine Chance verdient, daher: Reset-Taste drücken, auch wenn das aufgrund der Worte Theresas nicht allzu leicht fallen dürfte. Dem Bad Bentheimer gelingt diese Prüfung. Schon seine Art, die Bühne zu betreten, lässt den Saal leise glucksen. Der 23-Jährige macht sich über sich selbst lustig: „Hey, ich bin wieder da, ich sehe immer noch aus wie frisch geschlüpft.“ Dieser Mann weiß, wie man 800 Leute dazu bringt, in schallendes Gelächter auszubrechen. Sein Text „Schwester“, eine Art Märchen, ist zwar garniert mit allerlei situationsangepassten stimmlichen Oktavensprüngen und einer ausschweifenden Gestik, behandelt aber ein ernstes Thema: Akzeptanz von Homosexualität. Es geht um die enttäuschten Erwartungen eines scheinbar heterosexuellen, stereotypen Mannes an sein homosexuelles Kind. Bald stellt sich heraus, dass der Vater selbst eine weichere Seite hat, als er nach außen hin vorgibt. Pointenreich und akzentuiert stellt Florian die Frage in den Raum, was ist, wenn man mit seinen Urteilen falsch liegt.

Performancekünstler gegen stille Wortakrobatin: Die Moderatoren haben die unehrenhafte Aufgabe zu entscheiden, welcher Applaus für welchen Kandidaten der lautere ist. Äußerst knapp siegt das humoristische Spektakel über die kluge Weisheit. Florian hat den Master of Arts in der Kategorie Wortsport erlangt und kann sich seines Titels rühmen. Wie er es formuliert: „Am Ende eines solch furiosen Abends gibt es nur einen Sieger: Die Poesie.“ Kurze Pause, Applaus. „Nein Spaß, ich hab gewonnen!“

 

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Strahlende Teilnehmer eines gelungenen Abends (v.l.n.r.): Jens Kotalla, André Herrmann, Daniel Wagner, Theresa Sperling, Florian Wintels, Björn Gögge, Svenja Gräfen, Marian Heuser

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Studiert in Münster, liebt ihre Ehrenämter, turnt nebenbei in der Weltgeschichte herum und hat stets mit hochphilosophischen Gedanken zu kämpfen. Mal sehen, was sich davon in ihren Artikeln niederschlägt.

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