Szenesportart Jugger: Poolnudeln an Land und Herz in der Hand
Jugger ist eine spannende Sportart zwischen Rugby und Fechten. Doch hinter dem Sport steckt noch viel mehr - Redakteur*in Alex stellt euch in diesem Artikel die bunte Community und kuriose Szenekultur der jungen Kultsportart vor.
Geschätzte Lesezeit: 6 Minuten
Jugger ist eine Sportart, die auf den ersten Eindruck bizarr wirkt: Acht Menschen duellieren sich mit Poolnudeln auf einem Rasenplatz, während sich zwei andere um einen merkwürdigen länglichen Ball streiten. Das soll ein Sport sein? Auf jeden Fall! Jugger ist eine Teamsportart und zusammengefasst eine Mischung aus Rugby und Fechten. Das Spiel ist actionreich, strategisch interessant und variabel, wodurch es einen einzigartigen, kreativen und humorvollen Zugang zu Sport bietet.
Wie wird’s gespielt?
Mit sogenannten Pompfen (sechs verschiedenen Werkzeugen aus Material wie Poolnudeln, Carbonrohren und Schaumstoffbällen) ausgestattet, treten zwei Teams á fünf Spielenden gegeneinander an: „3… 2… 1… Jugger!“, schallt es von einer von vier Schiedsrichter*innen über ein sechseckiges Feld und schon rennen die Teams von gegenüberliegenden Seiten des Feldes aufeinander zu. Ziel ist es, wie bei so vielen Sportarten, einen Punkt zu machen. Das Punktesystem ist einfach: Das Team, das den Ball (Jugg) ins Tor (Mal) packt, hat die Runde gewonnen. Zu Beginn jedes Spiels liegt der Jugg in der Mitte des Spielfeldes und es gilt, ihn möglichst schnell für das eigene Team zu ergattern. Dafür gibt es neben den vier Pompfer*innen je Team noch eine*n Qwick, auch Läufer*in genannt, dessen*deren Aufgabe es ist, den Jugg ins gegnerische Mal zu befördern, während die Pompfer*innen das mit ihren Werkzeugen schmerzfrei, aber hauend, zu unterbinden versuchen. Denn wird jemand von einer Pompfe getroffen, so muss er*sie für kurze Zeit pausieren und darf erst nach dem Abzählen einer Zeitstrafe wieder weitermachen. Dafür ertönt während des Juggerspielens durchgehend eine rhythmische Tondatei, dessen Schläge, Steine genannt, gezählt werden, um die eigenen Pausen zeitlich zu bemessen. Früher wurde dafür sogar tatsächlich auf ein Schlagwerk gehauen wie beispielsweise eine Trommel oder ein Tambourin, heutzutage sind allerdings über Boxen abgespielte, regelmäßige Töne die Regel.
Pompfen – Medien, Maker, Mittelalter
Spannend ist Jugger medial nicht nur wegen dieser auditiven Komponente. Jugger ist eine Sportart, die sich aus einem komplexen Gefüge von miteinander wirkenden Medien zusammensetzt. Gemeint sind damit insbesondere: Die genutzten Werkzeuge, die Pompfen, welche zentral sind und eine überraschende Kombinationsvielfalt bieten. Denn mit insgesamt sechs Pompfenarten, darunter Schild, Langpompfe und Kette, kann gegeneinander angetreten werden. Das Ganze erinnert auch an Live Action Role Play beziehungsweise, um meine eigene Mutter zu zitieren: „Mittelalterliches Hin- und Her“. Nicht zufällig sind auch einige LARP-Enthusiast*innen Teil der Juggercommunity. Die Werkzeuge werden in der Szene überwiegend selbst mit Materialien wie Rohrisolation, Poolnudeln, Ductape und diversen Carbon- und Plastikstäben gebaut, wodurch auch das Herz von Bastler*innen höher schlägt.
Wie alles begann – Jugger als Dystopie
Wie eine so kuriose Ansammlung von Regeln und Praktiken zusammengemischt und zu einer Sportart wurde? Alles begann mit einem dystopischen Film – wie auch sonst? Denn 1989 erschien Jugger – Kampf der Besten, der an Filme wie Battle Royale (2000) und The Hunger Games (2012) erinnert. In dieser gespielten Welt wurde Jugger als blutiger Gladiatorenkampf geboren. Kurz danach kehrte Jugger 1993 auch in unsere Welt ein, als ein weitaus weniger blutiges, aber genauso spannungsvolles Spiel.
Der Sportart merkt man an, dass sie noch recht jung ist: Die Freude am Spiel und positive Sport- und Teamerfahrungen sind Kern der Sache. Jugger zeichnet sich durch persönliche Zugänge zu sportlichen Techniken und spielerischen Strategien aus, zentralisiert in der Übungspraxis. Es handelt sich um eine Sportart, die niedrigschwellig erlernt und nur mit einem starken Teamverbund, viel Kommunikation und Übung gemeistert wird. Dadurch eignet sich das Spiel sowohl für Neulinge als auch für alte Hasen: Denn während man taktisch und motorisch nie auslernt, sind die Grundregeln leicht zu verstehen.
Auf dem Weg zur Utopie
Was Jugger besonders macht, ist der Humor, den dieser Sport anzieht. Emblematisch dafür haben die Teams, welche es in ganz Deutschland, aber auch weltweit gibt, meist selbstironische bis (wort-)witzige Namen. So gibt es in Münster, der Geburtsstätte von seitenwaelzer, die „Schergen von Monasteria„. In Essen mischen die aufgeweckten „Erdmännchen“ die Szene auf. Und in Aachen werden durch das lokale Team „Aixcalibur“ statt Pompfen gedanklich noch Schwerter gezückt. Namenshighlights in ganz Deutschland sind außerdem die Berliner „Regenbogenkriegerinnen„, das ganz in Pink und Schwarz antretende Darmstädter Team „Pink Pain“ sowie das mit einem Ententanz zu Spielen einlaufende „Quak Pack“ aus Ente. Juggertuniere sind entsprechend bunt und laut (teilweise mit eigenem, witzigen Soundtrack) auf die bestmögliche Art.
Zum Ausgleich gibt es Teams, die sich bei der Namensgebung eher zurückhalten, um neue Leute nicht sofort zu verschrecken, wie den „Bochum Juggers e.V.“ aus … Bochum! Trotz unscheinbarem Namen ist dieser Verein ein großartiger Anlaufpunkt für den Szenesport. Dieser Verein zeichnet sich, aus eigener Erfahrung, dadurch aus, dass neue Spielende aller sportlichen Kenntnisstände und Fähigkeiten, unter Leitung von Tobias Kremer und Co-Leitenden, motivierend zur Sportart herangeführt werden. Dass der Bochum Juggers e.V., stellvertretend für Jugger insgesamt, allen eine Chance in Sachen Sport, egal welche Vorerfahrungen bestehen, ist nicht zu unterschätzen. Denn so können auch Menschen, die bereits negative Erfahrungen mit Teamsport gemacht haben, ihre alten Erfahrungen mit positiven überschreiben!
Hinzu kommt außerdem, dass es sich bei Jugger um einen Sport handelt, der nicht geschlechtergetrennt gespielt wird und dadurch auch viele transexklusive und misogyne Fragestellungen nicht aufruft oder zumindest reduziert, die beispielsweise in Fußball oder Leichtathletik prominent diskutiert werden. Dass das nicht nur klappt ohne Chaos oder Minderung von Spielspaß und Herausforderung, sondern die deutsche und internationale Sportlandschaft pluralisiert und bereichert, demonstriert Jugger auf Turnieren und in Trainings ganz casual nebenbei.
Fair Play wird großgeschrieben
Nicht wenige von uns mussten im Kontext vom Schulsport Erfahrungen mit Mitschüler*innen oder Lehrkräften machen, die irgendwo kryptisch zwischen pädagogischem Versagen, systematischem Mobbing und Vielleicht ist Sport einfach nichts für mich wabern. Dafür gibt es viele Gründe, unter anderem Geschlechterstereotype, Vorurteile hinsichtlich Körperbildern- und Gewichtsbewertungen, Ableismen und Klassismen sowie Leistungsdruck ungeachtet körperlicher Grenzen. Aus persönlicher Erfahrung spreche ich mich dafür aus, Jugger, und damit auch dem Konzept Teamsport, auch mit diesen biografischen Hintergründen eine Chance zu geben und positiv überrascht zu werden. Die Community und Kultur von Jugger ist sehr offen und freundlich. Auch im Vergleich zu anderen Sportvereinen- und -gruppen fällt auf, dass im Jugger Körper nicht auf eine negative oder herablassende Art kommentiert und verglichen werden. Und das macht erstaunlich viel aus: Mit einem Gefühl, dass man partizipieren kann, darf und soll, macht Sport direkt viel mehr Spaß.
Auch gilt: Jugger ist anders als beispielsweise Fechten keine Sportart, die im kleinen Kreis mit hohem Preis praktiziert wird. Sie ist im Vergleich zu ähnlichen Sportarten finanziell niedrigschwellig. Hinzukommt, dass in der Szene aktiv über Maßnahmen, wie das Spiel fair und zugänglich gestaltet werden kann, gesprochen wird und, dank der relativen Neuartigkeit des Sports, noch immer an Abläufen und Regelungen geschraubt wird, um diese Ziele zu verfolgen. Noch vor Spaß oder Leistungen stehen daher beim Jugger, zumindest aus meiner Erfahrung mit dem Bochum Juggers e.V., Gerechtigkeit und Sicherheit auf der Tagesordnung. Denn die Regel Nummer Eins bei Trainings wie auch Turnieren lautet: Nicht verletzen! Sowohl im Umgang miteinander, als auch beim Umgang mit dem eigenen Körper und im Bau der Werkzeuge wird sehr genau darauf geachtet, dass Jugger ein risikoarmes Spiel für alle ist. Sicherheitsbekleidung benötigt man durch die Polsterung der Pompfen und die Spielweise jedoch nicht. Allenfalls Knieschoner werden teilweise nach Selbsteinschätzung genutzt, damit man sich sicherer und schneller auf das Knie fallen lassen kann. Sicherheit kennzeichnet auch die Turnierstrukturen im Jugger. Zum Beispiel gehören sogenannte Pompfen-Checks (Überprüfungen vor dem Spiel, dass alle benutzten Sportinstrumente die in der Community entwickelten Sicherheitsstandards erfüllen) und Awareness-Teams (Teile der Organisator*innen, die Ansprechpartner*innen für unfaires oder übergriffiges Verhalten, marginalisierende Erfahrungen oder Inklusionsfragen sind) zum strukturellen Standard. Dass Jugger eine verletzungsarme Teamsportart ist, würde man bei dem ersten Image „Leute hauen mit Dingen“ vielleicht nicht denken, überrascht allerdings auch positiv.
3… 2… 1… Jugger!
Für mich persönlich bereitet Jugger nicht nur viel Freude, sondern half mir auch meine eigene Kondition zu verbessern und mehr über Sprinten, Laufen, Teamsport, Muskelgruppen, Prävention von Rückenschmerz und Strategie im Sport und Bewegungsabläufe zu lernen. Und es ist ein absolutes Geschenk, so viele engagierte, freundliche und kreative Sporttreibende und ihre Geschichten und Wege zum Jugger kennenzulernen. Auf vielerlei Art kann ich daher nur dazu aufrufen, gerade im Sommer, wo Jugger im Freien gespielt wird, sich ein Team in der Nähe rauszusuchen und zu einem Probetraining vorbeizukommen. Auch bei vielen Universitäten gibt es Jugger im Angebot des Hochschulsports, so auch beispielsweise lokal in NRW unter anderem in Paderborn und Bochum. Viel Spaß beim Pompfen!
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Alex Schmiedel
Seit 2019 unterstütze ich das Team mit Illustrationen, Gestaltung, Artikeln und einer stets schwingenden intersektionaler Feminismus-Keule. Ursprünglich bin ich jedoch als Fan des Heldenpicknicks auf Seitenwaelzer gestoßen. Meinen Bachelor habe ich in Mediendesign in Münster absolviert und nun studiere ich Medienwissenschaft im Master in Bochum und arbeite im Bereich Mediendesign. Für Interactive Fiction, Podcasts, Animation und Musik schlägt mein Herz, ebenso wie für Aufklärung über diverse politische Themen, insbesondere Geschlechterdiversität und medizinische sowie antiableistische Gleichberechtigung.
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