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Zahnpasta, Ackerminze und die Chemieindustrie

„Ohne Chemie“ – diesen Ausdruck finden wir in der Werbung für Putzmittel, Kosmetika oder Kleidung. Das Problem daran: Es gibt keine Produkte ohne Chemie.
| Barbara Bong |

Geschätzte Lesezeit: 4 Minuten

Christian Nordhoff

„Ohne Chemie“ – diesen Ausdruck finden wir in der Werbung für Putzmittel, Kosmetika oder Kleidung. Das Problem daran: Es gibt keine Produkte ohne Chemie. Doch der Käufer bevorzugt „ohne Chemie“. Viele Menschen verbinden Chemie mit Gesundheits- und Umweltgefahren.

Bei mir als Chemikerin löst das Wort „chemiefrei“ Grauen aus: Und das liegt nicht (nur) daran, dass ich mich gerne mit Chemie beschäftige. „Ohne Chemie“ ist unmöglich. Chemie ist definiert als „Naturwissenschaft, die die Eigenschaften, die Zusammensetzung und die Umwandlung der Stoffe und ihrer Verbindungen erforscht” [1]. Diese Wissenschaft beschäftigt sich mit den Umwandlungen aller Stoffe. Du hast gerade ausgeatmet? Dann hat eine Umwandlung stattgefunden: Du hast Kohlenstoffdioxid-Gas ausgeatmet. Dieses Gas wird in deinem Körper produziert, indem Sauerstoff und Zucker in Kohlenstoffdioxid und Wasser umgewandelt werden. Nicht nur in unserem Körper begegnet uns Chemie täglich, sondern auch beim Wäschewaschen oder Zähneputzen bis hin zum Kuchenbacken. Aber warum bevorzugen dann so viele Menschen „chemiefreie“ Produkte?

Im Sprachgebrauch bezieht sich „ohne Chemie“ nicht auf die naturwissenschaftliche Definition, viel mehr wird zwischen chemischen Substanzen und Naturprodukten unterschieden. Chemische Substanzen wurden industriell hergestellt. Bei Naturprodukten handelt es sich um Substanzen, die in der Natur vorkommen. Diese werden häufig aus Pflanzen gewonnen. Die Pflanzen werden zwar mit menschlichem Zutun und oft mit Hilfe moderner Technologien angebaut, jedoch sind sie ein Produkt der Natur.

Menthol ist ein solches Naturprodukt, das in Zahnpasten, Kaugummis oder Salben enthalten ist. Menthol riecht nach Minze, hilft beispielweise bei Erkältungen und kann schmerzlindernd wirken. Dieser Naturstoff wird aus Pflanzen wie der Ackerminze gewonnen. Die Weltproduktion von Menthol beträgt etwa 19.000 Tonnen. Hiervon stammen 13.000 Tonnen aus natürlichen Quellen wie der Ackerminze. Zur Gewinnung der restlichen 6.000 Tonnen gibt es eine weitere Möglichkeit: die chemische Herstellung des naturidentischen Menthols.

„Chemie“ in Kosmetik – Was ist drin? Tamara informiert dich hier!

Bei dem naturidentischen und dem natürlichen Menthol sind die Anordnungen und Verknüpfungen aller Einzelteile des Stoffes gleich. Durch eine einzigartige Verknüpfung und Anordnung von bestimmten Atomen (den kleinsten, chemisch nicht weiter teilbaren Bauteilen) wird jede mögliche Substanz eindeutig beschrieben – wie ein bestimmtes Bauwerk aus vielen Bauklötzen. Die Bauteile können immer wieder unterschiedlich zusammengebaut werden. Je nach Anordnung ergibt sich dann ein anderes Bauwerk.

Die Natur hat den Naturstoff bereits fertig zusammengebaut. Der Mensch muss die Substanz nur finden und von den unerwünschten Stoffen trennen, die sich beispielweise in der gleichen Pflanze befinden. Das natürliche Menthol liegt in der Ackerminze vor und wird von den anderen Inhaltsstoffen der Minze getrennt, bevor es in Zahnpasta eingesetzt wird. Aus den einzelnen Bauteilen kann der Mensch aber auch ein identisches Bauwerk selbst konstruieren. Hierfür muss er die Teile in der gleichen Anordnung wie beim natürlichen Stoff zusammenfügen. Wenn dieses Bauwerk fertig gestellt ist, sieht es genau wie das natürliche Bauwerk aus. Das natürlich gewonnene Menthol und das naturidentische Menthol sind nicht zu unterscheiden.

Das „Nachbauen“ entspricht der chemischen Herstellung. Allerdings bauen die Chemiker meistens nicht aus einzelnen Bauteilen, also einzelnen Atomen, das Menthol. Stattdessen nutzen sie bereits vorhandene, verknüpfte Baueinheiten, die ähnlich wie die gewünschte Substanz aufgebaut sind. An diese Einheiten ergänzen sie neue Teile und bauen die Einheit leicht um, so dass das gewünschte Produkt entsteht. Beispielweise wird die Substanz Kresol verwendet, um daraus Menthol herzustellen. (Alle wahnsinnig Chemieinteressierten finden die genauen Herstellungsverfahren in der unten aufgelisteten Literatur Nummer Drei.)

Der Naturstoff ist jetzt aber nicht besser als der naturidentische Stoff, da beide Substanzen gleich sind und sich nur in der Herstellung unterscheiden. Im Gegenteil: Für das künstlich hergestellte Aroma gelten hohe Reinheitsanforderungen. Der Hersteller muss die Substanz aufwendig reinigen und prüfen. Somit wird sichergestellt, dass das Produkt keine unerwünschten Inhaltstoffe enthält, die beispielsweise den Geruch verschlechtern oder gesundheitsschädlich sind.

Naturidentische Stoffe werden eingesetzt, wenn die gewünschte Menge oder Qualität einer Substanz aus der Natur nicht gewonnen werden kann. Außerdem kann die naturidentische Variante Tiere schonen: Beispielsweise wird Ameisensäure künstlich hergestellt, damit es nicht aus den Insekten gewonnen werden muss. Somit kann „mit Chemie“ auch erwünscht sein, beispielweise bei Tierschützern. Für jede Substanz kann die chemische Herstellung oder die Gewinnung aus der Natur Vorteile haben. Hierfür müssen im Einzelfall viele Faktoren überprüft werden. Beispielweise benötigt die künstliche Herstellung oft nicht-erneuerbare Rohstoffe und viel Energie. Eine Pflanze hingegen benötigt einen guten Standort, um zu wachsen und große Mengen an Wasser. Tierische Naturstoffe können mit Leiden der Tiere verbunden sein. Entsprechend können wir nicht grundsätzlich annehmen, dass ein Produkt umweltfreundlich ist, wenn es „chemiefrei“ ist.

Hier geht es zu Teil 1 der Reihe – Barbara hat sich gefragt, ob das Thema Nachhaltigkeit nur ein Trend oder eine komplexe Wissenschaft ist.

Literatur:

1: www.duden.de/rechtschreibung/Chemie, zuletzt abgerufen am 30.09.2019.

2: H.-D. Belitz, W. Grosch, P. Schieberle, Lehrbuch der Lebensmittelchemie, 2008, Springer Verlag Berlin-Heidelberg.

3: H. Lautenschläger, Kosmetische Praxis 2006, 5, 8-10.

4: B. Schäfer, Chem. Unserer Zeit, 2013, 47, 174-182.

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Barbara Bong

Ich möchte den „Chemie-habe-ich-direkt-abgewählt-Menschen“ meine Liebe zur Chemie näher bringen. Weiterhin liebe ich Kaffee, Schokolade, Musik und natürlich das Schreiben, auch wenn ich im Hochdeutsch oft Wörter vermisse, denn nichts beschreibt einen Pfirsich passender als Plüschprumm („Plüsch-Pflaume“). Außerdem träume ich von einem blauen Hausboot und einem Miniatur-Elefanten als Haus(boot)tier.

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