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Zwischen Altstadtromantik und IT Boom: Ein Wochenende in Tallinn

E-Voting, freies WLAN– selbst in den Tiefen der Wälder – und junge Start Ups bis zum Abwinken. Nach meinem Wochenende in Tallinn lässt mich die Begeisterung über Estlands Fortschrittlichkeit nicht mehr los.
| Laura Klöppinger |

Geschätzte Lesezeit: 7 Minuten

Nick Tomlinson | Pixabay

Wälder soweit das Auge reicht, glasklare Seen und eine artenreiche Fauna – so hatte ich mir Estland bisher immer vorgestellt. Dass das Land aber weitaus mehr zu bieten hat, als nur eine eindrucksvolle Natur, wurde mir während meines Ausfluges in der Hauptstadt ­– Tallinn – bewusst. Da Tallinn von Südfinnland, wo ich zurzeit studiere, nur eine Fährfahrt entfernt ist, nahm ich mir vor, die historische Altstadt zu erkunden, um mehr über Estlands Geschichte und Kultur zu erfahren.

Auf Reise

Es ist Freitag, 5 Uhr morgens in Turku, Finnland. Mein Wecker klingelt. Verschlafen sehe ich auf das Display meines Handys. Ich verfluche mich kurz dafür, die früheste Fähre gebucht zu haben, raffe mich aber dann auf und kippe mir eine große Tasse Kaffee hinunter. Meinen Bus nach Helsinki darf ich schließlich nicht verpassen. Nach zwei Stunden Busfahrt komme ich, noch komplett verschlafen, in der finnischen Hauptstadt an. Ich laufe einmal quer durch Helsinkis noch halb schlummernde Innenstadt, bis ich schließlich das Hafengebiet mit seinem Fährterminal erreiche. Kurz nachdem ich eingecheckt habe, dürfen wir auch schon auf das Schiff. Ich begebe mich ans Deck und beobachte, wie die Fähre langsam ihren Weg aus dem Hafen lenkt, vorbei an kleinen Inseln und Felsen, bis ich nur noch die Weiten des Meeres um mich habe – ich atme die frische Morgenluft ein, spüre den kalten Wind in meinem Gesicht und lasse Finnland für ein Wochenende hinter mir.

Nach drei Stunden ist es dann auch schon so weit und das Schiff steuert auf den Tallinner Hafen zu. Aus der Ferne kann ich bereits die Umrisse der Stadtmauern erkennen. Als wir an Land gehen, mache ich mich direkt auf den Weg in das Herz Tallinns: die mittelalterliche Altstadt. Dort soll auch meine Unterkunft liegen. In Tallinn bekommt man bereits für weniger als 10 Euro die Nacht ein Hostelzimmer, direkt in der Altstadt. Mit großem Luxus darf man allerdings nicht rechnen, jedoch ist es ein tolles Gefühl mitten im lebhaften Stadtgeschehen zu wohnen.

Zurück in der Zeit

Nach meinem kurzen Aufenthalt im Hostel begebe ich mich zurück in die Altstadt und wandere, ohne bestimmtes Ziel aber neugierig, über das Kopfsteinpflaster, vorbei an den mittelalterlichen Stadtmauern, bunten Häuserfassaden sowie kleinen Lokalen und Cafés. Wären die vielen Touristen nicht hier, hätte ich genauso gut denken können, ich sei in einer unsichtbaren Zeitmaschine hier gelandet: Menschen verkleidet als Henker versuchen die Touristen in die historischen Museen zu locken, an kleinen Marktständen werden Schafswolle und Mandeln verkauft und das Läuten der Kirchenglocken untermalt die mittelalterliche Atmosphäre. Aufgrund der vielen kleinen Gassen, die von den Hauptwegen abgehen, verliere ich immer wieder die Orientierung – dies macht aber nichts – denn genau auf diese Art entdeckt man spontan die kleinen Schönheiten einer Stadt, seien es niedliche Cafés, alte Brunnen oder mit Efeu bedeckte Mauern.

Nachdem ich den ganzen Tag kreuz und quer durch die Altstadt gelaufen bin, werde ich schließlich hungrig. Den Tag lasse ich im beliebten Pfannkuchen Restaurant „Kompressor“ ausklingen. Dort bekommt man für weniger als fünf Euro einen ordentlich gefüllten Pfannkuchen serviert. Ich entscheide mich für die nordische Variante mit Hering und Zwiebeln – besser hätte mein erster Tag nicht enden können. Satt und zufrieden begebe ich mich in mein Hostel und plane gedanklich schon mal meinen nächsten Tag, bis ich schließlich einschlafe.

Hin zur Autonomie

Am nächsten Morgen entscheide ich mich, bei einer Free Walking Tour mitzumachen. Mit leicht bibbernden Knien von den Minustemperaturen und dem starken Ostseewind folgen wir unserer Stadtführerin durch die Altstadt. Erster Stopp: der Freiheitsplatz, an dem wir eine Einführung in die Geschichte Estlands bekommen. Das Land wurde in der Vergangenheit fortlaufend von anderen Ländern besetzt. Neben der Dänischen und Schwedischen Krone hatte auch Russland und Nazi-Deutschland das Sagen gehabt. Besonders die Herrschaft unter der Sowjetunion hat Wunden hinterlassen. Gleich zweimal stand das Land unter russischer Herrschaft, zunächst von 1721 bis 1918 und erneut von 1940 bis 1991. Der Platz, auf dem wir stehen, soll an die Wiedererlangung der Unabhängigkeit erinnern. Aufgrund seiner schwierigen Vergangenheit mit Russland möchte Tallinn auch nicht als „östlich“ bezeichnet werden – da dies Assoziationen mit der Sowjetunion hervorruft.

„Kiek in de Kök“ Spuren der deutschen Hanse

Nach der kurzen Einführung in Estlands Geschichte, wandern wir die Treppen hoch Richtung Domberg, auf dem das Parlament und einige Botschaften liegen. Auf dem Weg dorthin kommen wir an zwei Verteidigungstürmen vorbei. „Kiek in de Kök“ wird einer der Türme scherzhaft von den Bewohnern genannt. Dies klingt allerdings so gar nicht estnisch und erweckt bei mir Assoziationen mit dem Niederdeutschen (ein Semester „Ältere Sprachstufen des Deutschen“ zahlt sich also doch noch aus). Unsere Stadtführerin erzählt uns, dass Tallinn im 14. Jahrhundert deutsche Hansestadt war. Zur Erinnerung an die Sprache der Kaufleute, erhielt der Turm seinen niederdeutschen Namen. Dieser geht übrigens darauf zurück, dass man vom Turm aus in manche Küchen der Stadtbewohner hineinsehen konnte.

Durch und durch Nordisch

Schließlich gelangen wir am Parlament an – die perfekte Gelegenheit mehr über Estlands Politik und Werte zu erfahren. Estland ist ein demokratisches und liberales Land. Es vertritt vor allem westliche Werte und fühlt sich eher mit seinem „großen Bruder“ Finnland verbunden, anstelle seines Nachbarns Russland. Glaube und Religion haben in dem Land keinen besonderen Stellenwert, weshalb Feste wie Ostern oder Weihnachten eher wegen des Zusammenkommens gefeiert werden. Wir erfahren, dass es in Estland nicht unbedingt üblich ist, sich das Ja-Wort zu geben, viele Paare bleiben unverheiratet. Unsere Stadtführerin erklärt uns, dass diese selbstbestimmte Lebensweise vermutlich daher kommt, dass Estland sich ständig von anderen Länder hat sagen müssen, wie das Land zu führen sei.

Firmengründung per Mausklick

Besonders fortschrittlich ist das Land in Sachen Technik. Estland ist ein wahrer IT Boomer und wird daher auch „E-Capital of Europe“ genannt. Nicht nur Skype haben die Esten erfunden – das Land ist auch Standpunkt unzähliger Startup Unternehmen. Überall gibt es kostenloses WLAN – selbst in den Tiefen der Wälder. Die Esten regeln zudem fast alle bürokratischen Angelegenheiten online. Innerhalb von 18 Minuten kann man im Internet seine eigene Firma gründen, Passerneuerungen oder auch Wahlen erfolgen mit ein paar Klicks im Internet. Mich überkommt eine leichte Spur von Neid – schmunzelnd denke ich daran, wie auf Deutschlands Bahnstrecken ständig der Empfang abbricht, an lange Wartezeiten im Bürgerbüro und wie viel immer noch mit Papier erledigt wird. Können wir uns bitte eine ordentliche Scheibe von diesem Land abschneiden? Seit ich durch Nordeuropa reise, frage ich mich immer wieder, ob man uns in Deutschland, was die Technik betrifft, für steinzeitlich hält. Ich habe das Gefühl, in der modernsten Stadt Europas gelandet zu sein.

Ein russisches Machtzeichen

Direkt gegenüber vom Parlament ragt eine weiß-orangene Kirche mit Zwiebeltürmen in den Himmel: die Alexander-Newski-Kathedrale. Bereits an meinem ersten Tag hatte ich mich über das Gebäude gewundert, da es nicht in das mittelalterliche Stadtbild passt. Die Kathedrale wurde damals von den Russen erbaut – ein deutliches Machtzeichen. Die Tallinner haben allerdings ein gespaltenes Verhältnis zu dem Gotteshaus, da sie es mit der damaligen „Russifizierung“ Estlands verbinden. Zudem sind gerade einmal 0.5 Prozent der Menschen mit Glaubensrichtung katholisch – noch ein Grund, warum sich kaum einer mit dem, was das Gebäude repräsentiert, identifizieren kann.

Möwen als Angestellte

Vom Domberg laufen wir weiter zum Garten des dänischen Königs. Von dort aus hat man nicht nur eine wunderbare Aussicht auf Tallinns rote Dächer, sondern auch auf das offene Meer. Während unsere Stadtführerin uns alte Sagen und Spukgeschichten über die Altstadt erzählt, macht eine Möwe es sich neben ihr bequem. Diese hat sogar einen Namen: Steven. Er ist als Mitarbeiter beim Touristenbüro „angestellt“ und hat die Aufgabe, die Touristen zu unterhalten. Unter denen ist er mittlerweile so beliebt, dass er schon seine eigene Instagram-Seite hat.

Marzipan gegen Liebeskummer

Am Ende unserer Tour gelangen wir schließlich am Marktplatz, mit seinem alten Rathaus und vielen kleinen traditionellen Lokalen, an. Der Platz war im Mittelalter Zentrum für die Kaufleute der deutschen Hanse. Jetzt ist er immer noch einer der belebtesten Orte der Altstadt. Als wir uns schließlich verabschieden, besuche ich noch die alte Ratsapotheke, die im 15. Jahrhundert gegründet wurde. Sie ist eine der ältesten Europas und immer noch in Betrieb. In einem Hinterraum kann man sehen, mit welchen Mitteln die Menschen damals versucht haben, Krankheiten zu heilen. Ich betrachte die eingelegten Schlangen, Igel und alten Apothekenutensilien in den Vitrinen. Beim Rausgehen fällt mein Blick auf einen Korb voller Marzipan: Uns wurde erzählt, dass die Menschen früher damit Liebeskummer heilen wollten. Die Marzipanleckereien werden immer noch als Andenken an die Touristen verkauft.

Es wird langsam dunkel, doch die Altstadt erweckt jetzt erst so richtig zum Leben. Immer mehr Menschen füllen die Lokale und Cafés. Ich begebe mich noch einmal zum Garten des dänischen Königs, lehne mich noch eine Weile gegen die Mauern und betrachte von oben, wie die Menschen durch die von Straßenlaternen erhellten Gassen wandern. Steven stolziert nicht mehr über die Mauern, vermutlich hat auch er Feierabend. Ich gehe schließlich zurück ins Hostel, da ich natürlich wieder die frühste Fähre gebucht habe. Als wir am nächsten Tag in Helsinki an Land gehen, blicke ich noch einmal auf das offene Meer zurück und lasse das Wochenende Revue passieren, bevor es auf die Heimreise geht.

Fazit

Tallinn – du hast mich beeindruckt. Die Tour durch deine Altstadt hat sich wie eine kleine Zeitreise angefühlt – in Vergangenheit und Zukunft. Du solltest in Sachen Technik Vorbild für viele Länder sein. Du wirst mich wiedersehen. Spätestens wenn dein Weihnachtsmarkt eröffnet und ich wieder Lust auf eine kleine Zeitreise habe.

Quellen:

www.mdr.de/nachrichten/osteuropa/politik/estland-revolution-unabhaengigkeit-sowjetunion-100.html

www.planet-wissen.de/kultur/baltische_staaten/estland/pwietallinndiegroesstensehenswuerdigkeiten100.html

www.visitestonia.com/en/why-estonia/tallinn-e-capital-of-europe

www.visitestonia.com/de/uber-estland/triff-steven-den-fliegenden-tourismusbeauftragten-tallinns

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