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¡Buen Camino! – Unterwegs auf dem Jakobsweg
Fangen wir am Anfang an... und zwar 334 Kilometer vor Santiago, in Oviedo. Hier begann Ende August mein Jakobsweg. Joshua schreibt über seine Pilgerreise.
Geschätzte Lesezeit: 10 Minuten
Nach einem kurzen Smalltalk über die Leiden des Wanderns hatten die beiden jungen Amerikanerinnen ohne Zögern angeboten, sich meinen Knieschmerzen anzunehmen. Sehr froh über den Zufall, ausgerechnet irgendwo im Nirgendwo zwei Physiotherapeutinnen zu treffen, musste ich überrascht feststellen, dass es sich bei meinen Helferinnen weder um Physiotherapeutinnen noch um eine andere Art von Expertinnen auf dem Gebiet der Schmerzlinderung handelte. Etwas verwundert schaue ich zu, wie die beiden konzentriert und voller Glauben an ihre Sache vor mir knien und anfangen für mein schmerzendes Knie zu beten – die Augen fest geschlossen und den Mund voller Fürbitten. Wir befinden uns in einer kleinen Herberge ca. 80 Kilometer vor Santiago de Compostela und alle Anwesenden inklusive mir fragen sich, was hier gerade vor sich geht.
Fangen wir vielleicht etwas früher an… und zwar 334 Kilometer vor Santiago, in Oviedo. Dort habe ich Ende August meinen Jakobsweg gestartet.
Zunächst muss man wissen, dass es nicht den einen Jakobsweg gibt. Viele Wege führen bekanntlich nach Rom und ebenso viele Wege führen zur Kathedrale von Santiago de Compostela, dem selbsterklärten Ziel von jährlich hunderttausenden Pilgern. Die Kathedrale als festes Ziel ist jedoch das Einzige, was die unterschiedlichen Jakobswege gemeinsam haben. Der Start, die Länge und der Grad der Schwierigkeit variieren von Jakobsweg zu Jakobsweg. Der Camino Francés (Camino = Weg, Francés = französisch) ist der wohl bekannteste aller Jakobswege. In Deutschland nicht zuletzt wegen Hape Kerkelings Bestseller Ich bin dann mal weg bekannt, startet der Camino Francés an der spanisch-französischen Grenze und erstreckt sich über knapp 800 Kilometer. Der Camino Primitivo, der in Oviedo startet, ist mit knapp 340 Kilometern zwar wesentlich kürzer, gilt aber aufgrund der vielen Höhenmeter, die man überwinden muss als der schwierigste der bekannteren Jakobswege.
Pilgern heute vs. Damals
Die Geschichte des Pilgerns auf dem Jakobsweg geht zurück auf den Apostel Jakobus, dessen Gebeine der Legende nach in der Kathedrale von Santiago de Compostela im Nordwesten von Spanien liegen.
Damals wie heute heißt es, dass der Jakobsweg bereits vor der eigenen Haustür startet. Im Gegensatz zu den Möglichkeiten in der Anfangszeit des Pilgerns können Pilger heutzutage jedoch bequem mit Flugzeug, Bus oder Auto den Start ihres Jakobswegs selbst bestimmen. Ein weiterer Faktor, der das Pilgern heutzutage erheblich unbeschwerlicher macht, ist die zunehmende Kommerzialisierung und die damit einhergehenden Übernachtungs- und Versorgungsmöglichkeiten auf dem Camino. Einige Dörfer, die vor dem großen Hype um den Jakobsweg noch nicht einmal eine Kneipe besaßen, trumpfen jetzt mit mehreren Bars, Restaurants und Herbergen auf, sodass es für Pilger einfach ist, kurze Etappen zu planen und ausgiebige Pausen zu machen, ohne dafür Proviant einpacken zu müssen. Ein Hoch auf den Kommerz!
Das Ausmaß der Kommerzialisierung und des Hypes um die Pilgerwege ist auch von Interesse für das Pilgerbüro in Santiago. Dort schlägt jeder Pilger auf, der sich die Urkunde (Compostela) für seinen erfolgreich absolvierten Pilgerweg abholen möchte. Das Pilgerbüro erstellt nicht nur die Compostela, sondern erhebt auch verschiedene Daten jedes einzelnen Ankömmlings, um daraus Statistiken über Motivation, Strecken und Anzahl der Pilger ausweisen zu können. Diese Statistiken geben einen guten Einblick in die Besucherzahlen: Während im Jahr 1978 gerade einmal 13 Pilger den Weg in das Pilgerbüro fanden, waren es im vergangenen Jahr über 300.000 Pilger.
Neben den Vorteilen hat die Kommerzialisierung jedoch auch ihre Schattenseiten. Diese zeigen sich vor allem auf den letzten 100 Kilometern vor Santiago. Dort treffen nicht nur der Camino Francés, der Camino Primitivo und der Camino del Norte zusammen, sondern dort starten auch alle Pilger, die das Mindestmaß an Kilometern absolvieren, um sich die Compostela zu verdienen. Die von anderen Pilgern liebevoll genannten Tourigrinos (Mischung aus den Worten Tourist und dem spanischen Wort für Pilger, Peregrino) stellen laut Statistik den größten Teil der Pilger aus dem vergangenen Jahr dar und sind ein Grund dafür, dass die letzten Etappen vor Santiago eher einer überfüllten Ameisenstraße ähneln als einem entspannten Wanderweg.
Alltag eines Pilgers
Der Alltag der Pilger unterscheidet sich vor allem durch die unterschiedlichen Fortbewegungsmittel. Wer die Compostela am Ende seiner Reise in den Händen halten möchte, muss den Jakobsweg entweder zu Fuß, mit dem Fahrrad, per Esel bzw. Pferd, im Rollstuhl oder mit dem Schiff bestreiten. Den mit weitem Abstand größten Teil nehmen die Fußpilger ein.
Auch die Unterkunft und die dort anwesenden Zimmergenossen bestimmen den Alltag auf dem Camino. Der Großteil der Pilger kommt in öffentlichen oder privaten Pilgerherbergen unter, von denen es auf den bekannten Jakobswegen reichlich gibt. Die Qualitätsunterschiede in diesen Herbergen können enorm sein. Während einige nur mit dem Nötigsten ausgestattet sind, laden andere Herbergen dank Sauna oder anderem Luxus zum Verweilen ein. Unabhängig von der Qualität geht ist in den Herbergen meist sehr international zu, sodass sich Erzählungen von gemeinsamen Abenden auf dem Camino immer anhören wie der Anfang eines schlechten Witzes: Ein Deutscher, ein Spanier, ein Italiener und ein Franzose sitzen zusammen…
Üblicherweise teilt man seine Unterkunft mit 20-30 anderen Pilgern, was dazu führt, dass man wenig bis keine Privatsphäre hat und morgens schon mal morgens um fünf Uhr von einem besonders ambitionierten Pilger geweckt wird. An dieser Stelle ein kleiner Appell an alle, die auch planen den Jakobsweg zu machen: Seid nicht die Art Pilger, deren Wecker mitten in der Nacht klingelt und die dann auch noch anfangen ihren Rucksack im Zimmer zu packen!
Entscheidet man sich irgendwann zähneknirschend dazu, es nicht nochmal mit Einschlafen zu versuchen, sondern selbst aufzustehen, dauert es nicht lange bis man unterwegs ist, da das Packen des Rucksacks im Idealfall schnell und unkompliziert vonstattengeht. Wer nämlich mit Bedacht packt, kommt mit wenig Gewicht aus und stellt schnell fest, welche Vorzüge eine minimalistische Lebensweise haben kann. Da alles, was man mit sich trägt, in einen Rucksack passen muss und man so wenig Gewicht wie möglich mit sich tragen möchte, ist man gezwungen, nur das Wesentlichste mitzunehmen. Das führt unweigerlich dazu, dass man Dinge wie eine Waschmaschine oder einen Trockner neu zu schätzen lernt.
Verlässt man die Herberge, hat man in den meisten Fällen 20-30 kilometerlange Tagesetappen vor sich. Diese unterscheiden sich je nach Region und sind mal mehr, mal weniger anstrengend und mal mehr, mal weniger schön. Wie anstrengend eine Tagesetappe ist, hat nicht nur etwas mit ihrer Distanz oder den Höhenmetern zu tun. Es hängt vor allem von der Motivation und von der Anzahl der Blasen ab, die man mit sich schleppt und die einen schmerzlich an die Tatsache erinnern, dass man seinen Füßen normalerweise nur einen Bruchteil dieser Belastung zumutet. Ebenso treue Begleiter wie die Blasen an den Füßen sind die gelben Jakobsmuscheln und Pfeile, die den Pilgern die Richtung weisen. In Zeiten von Google Maps kann es sehr erholsam sein, sich nur mithilfe von Muscheln und Pfeilen durch eine Strecke von 334 Kilometern zu navigieren.
Einmal an der nächsten Herberge angekommen, erwarten den Pilger je nach Budget selbstgekochtes Essen oder ein leckeres Pilgermenü, das meistens um die zehn Euro kostet und keine Wünsche offenlässt. Es sein dann man ist Vegetarier, Veganer oder hat andere spezielle Essenswünsche.
Ebenfalls wichtig für all jene, die sich die Compostela im Pilgerbüro abholen möchten, ist der Pilgerausweis, auch Credencial genannt. Dieser muss mit genügend Stempeln belegen, dass man auch tatsächlich auf dem Jakobsweg unterwegs war. Die Stempel bekommt man in jeder Herberge und in vielen Bars und Restaurants. Das wiederum hat einige pfiffige Geschäftsleute auf den Plan gebracht, das ultimative Tourigrino Pilger Erlebnis anzubieten. Fährt man nämlich mit dem Bus von Bar zu Bar, kann man seine Credencial füllen, ohne diese lästigen kilometerlangen Tagesetappen mit eigener Körperkraft überwinden zu müssen! Auch hier nochmal ein Hoch auf den Kommerz.
Motivation der Pilger
Die Motivation der verschiedenen Pilger könnten unterschiedlicher nicht sein. Den Löwenanteil der Pilger machen eben jene Pilger aus, die nur die letzten 100 Kilometer gehen (bzw. mit dem Bus fahren). Oftmals ist die Compostela Motivation genug für diese Pilger. In Spanien kann es bei der Bewerbung um einen Job nämlich helfen, wenn man diese zum Lebenslauf dazu legen kann. Neben den Tourigrinos gibt es selbstverständlich die religiös motivierten Pilger. Die beiden jungen Amerikanerinnen, die so überzeugt für mein Knie beteten, gehörten ohne jeden Zweifel zu dieser Sorte und wurden nach eigenen Angaben im Traum von Jesus dazu berufen, den Jakobsweg zu gehen. Diese Form der Motivation gehört nach meinen eigenen Erfahrungen allerdings zur Ausnahme. Der weitaus größere Teil der Pilger, die ich kennengelernt habe, suchte nach einer Auszeit vom Alltag bzw. nach einer Art spiritueller Selbstfindung.
So habe ich während meiner Reise viele verschiedene Menschen kennengelernt. Da waren zum Beispiel Billie und Fergus, ein Paar aus Neuseeland, das seine Jobs aufgegeben hat, um die Welt zu bereisen. Da war Nizar aus Israel, die einen Teil des Weges Barfuß zurücklegte und John, der 51-jährige Engländer, der mitten in den Bergen seine kurze Wanderhose gegen eine Jeans tauschen musste, da er sich direkt am Anfang der Wanderung einen schlimmen Sonnenbrand zugezogen hatte. Es gibt aber auch jene Menschen, die im Gedächtnis bleiben, obwohl man nur zwei, drei Sätze mit ihnen gewechselt hat. So auch ein älterer Mann aus Sevilla, den ich mitten in einem der vielen Eukalyptuswälder in Galizien getroffen haben. Er hat sich dazu entschieden auf den „Luxus“ einer Herberge zu verzichten und einfach im Wald zu übernachten. Aus Dankbarkeit für meinen alten Schlafsack hat er sogar seinen Wein mit mir geteilt! Der wohl beeindruckendste Pilger, den ich auf meinem Camino getroffen habe, war ein Mann aus Tschechien, der seit elf Jahren unterwegs ist und schon über 55.000 Kilometer zurückgelegt hat. Begleitet haben ihn dabei ein Esel und zwei Hunde. Nach eigenen Angaben hat er auf seinen Reisen über 47 Tiere gerettet und in ein neues Zuhause vermittelt.
Die Liste der inspirierenden Leute auf dem Camino ließe sich noch ewig fortführen, genauso wie die Liste der nervigen Leute, von denen man sich wünscht, sie nicht in der nächsten Herberge anzutreffen.
Man trifft aber auch Menschen, die mit dem Jakobsweg harte Schicksalsschläge, wie etwa eine schwere Krankheit oder den Tod eines Angehörigen zu verarbeiten versuchen. Es ist erstaunlich, wie leicht man Menschen auf dem Camino näher kennenlernt und wie schnell sich einem diese Menschen öffnen. Aus diesem Grund ist es nicht unüblich, dass man den Jakobsweg allein startet und auf dem Weg nach Santiago neue Freundschaften und Weggefährten findet.
Mein Jakobsweg
Weder religiös motiviert, noch auf der Suche nach Selbstfindung, habe ich den Jakobsweg beschritten, weil ich Lust auf das Wandern hatte und weil ich das Heimatland meiner Großeltern abseits der üblichen Wege besser kennenlernen wollte. Dass der Jakobsweg doch einiges mehr zu bieten hat, wurde mir erst später bewusst.
Vor allem der Aspekt des Minimalismus hat mir gut gefallen. 2 T-Shirts, 2 Paar Socken, 2 Boxershorts und eine Hose. Mehr hat es an Klamotten nicht gebraucht. Auch der Rest der Ausrüstung und die Verpflegung waren im Vergleich zu meinem Alltag in Münster eher spartanisch. Daher boten die Wochen in Spanien nicht nur eine Erholung für mein Konto, sondern auch für mich selbst. Ich hatte Zeit, über viele Dinge nachzudenken und mich auf das Wesentliche zu besinnen.
Der zweite positive Aspekt waren die vielen guten Gespräche und Bekanntschaften, die ich auf dem Jakobsweg gemacht habe. Da man mindestens die Anstrengung des Tages mit den anderen Pilgern gemeinsam hat, finden sich leicht Gesprächsthemen, über die hinaus man sich schnell kennenlernt. Anfangs nur mit meinem Vater unterwegs, haben wir uns schnell mit Javier aus Madrid angefreundet, der unseren Weg dann bis zur Kathedrale von Santiago de Compostela mit uns geteilt hat. Der Moment, in dem wir zu dritt nach zwei Wochen kräftezehrender Wanderung die Kathedrale von Santiago erreichten, war einer der schönsten auf dem gesamten Camino.
Was mich sonst noch fasziniert hat, waren die vielen Menschen, die sich aus unterschiedlichen Beweggründen dazu entschieden haben, den Jakobsweg zu gehen. Ein Großteil der Leute, die man dort trifft, würde man wahrscheinlich nicht auf einem herkömmlichen Wanderweg antreffen. Unterhält man sich mit den vielen Pilgern, die mehr als einmal vor der Kathedrale in Santiago standen, kann man spüren, was für eine Faszination der Jakobsweg ausüben kann. Auch wenn diese Faszination mich während des Caminos nicht ganz so stark gepackt hat wie andere Pilger, so bin ich doch froh, die Erfahrung gemacht zu haben. Am letzten Abend haben wir dann auch den Großteil der Menschen wiedergetroffen, die wir auf dem Primitivo kennengelernt haben. Fast so als wäre es Schicksal, in einer großen Stadt wie Santiago genau die 15 Menschen zu treffen, die weite Teile des Caminos mit uns geteilt haben und fast so, als wollte mir der Jakobsweg seine Faszination noch ein letztes Mal unter die Nase reiben.
Das Einzige was ich anfangs unterschätzt habe war die körperliche Belastung, die eine solche Wanderung mit sich bringt. Wer ein bisschen sportlich ist, sollte in der Lage sein, jeden der unterschiedlichen Jakobswege zu überwinden. Was allerdings noch wichtiger ist als Sportlichkeit, ist ein gutes Durchhaltevermögen. Bei vielen Pilgern stellen sich im Laufe ihres Weges Probleme mit Füßen, Knien, Beinen, Rücken oder anderen Körperteilen ein. Je nach Grad der Schmerzen bedarf es daher neben einer ordentlichen Portion Schmerzmittel eine ebenso ordentliche Portion Durchhaltevermögen und Selbstmotivation. Was mich betrifft, so waren meine Knieschmerzen nach dem Gebet der beiden Amerikanerinnen trotz anfänglicher Skepsis verschwunden. Ob das wirklich an dem Gebet oder eher an der Tatsache lag, dass es auf den letzten 80 Kilometern kaum noch Höhenmeter zu überwinden gab, sei dahingestellt.
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Joshua Sans
Während meines Politik- und Islamwissenschaftsstudium arbeite ich nebenbei daran, aus dem Interesse am Schreiben Kapital zu schlagen, um so die Leiden der Lohnabhängigkeit etwas erträglicher zu machen. Neben pseudointellektueller Kapitalismuskritik interessiere ich mich vor allem für Sprachen, politische Theorie und Musik in (fast) all ihren Erscheinungsformen.
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