Reportage

Delhis Mogulerbe – Muslim*innen in Indien

Das schrille Pfeifen von Autohupen und die Neonlichter der vielen kleinen Restaurants, Apotheken und Supermärkte beherrschen das Stadtbild von Delhi […]
| Joshua Sans |

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Joshua Sans

Das schrille Pfeifen von Autohupen und die Neonlichter der vielen kleinen Restaurants, Apotheken und Supermärkte beherrschen das Stadtbild von Delhi bei Nacht. An den Rändern der Straßen tummeln sich Einheimische, Straßenhunde und vereinzelt Tourist*innen. Mitten in diesem hektischen Treiben wühlt sich ein Plakat durch die Menschenmenge. Unauffällig und doch sehr deutlich schreien die Worte „NO NRC, NO CAA, NO NPR“ nach Aufmerksamkeit. Zusammen mit anderen Transparenten hängt das Plakat am Zaun eines der vielen abgeschirmten Protestcamps, die man in diesen Tag in der indischen Hauptstadt findet.  Als ich das Plakat fotografieren möchte werde ich von einem Polizisten mit den Worten „No pictures!“ dazu aufgefordert, mein Handy wegzustecken. Die Vorwürfe gegen die indische Regierung, die in dem Protest Ausdruck finden und das Kleinhalten der Protestcamps durch die Polizei verbildlichen die Spannungen zwischen den Protestierenden und der Regierung. Sie werfen auch die Frage auf, wogegen genau sich der Protest richtet.

Um diese Frage beantworten zu können, reicht es nicht aus, sich nur aktuelle Entwicklungen anzuschauen. Die Tatsache, dass die meisten der protestierenden Menschen Muslim*innen sind, ist ein wichtiger Teil der Antwort. Aus diesem Grund soll dieser Artikel die Geschichte von Muslim*innen in Indien thematisieren und darüber hinaus ihre aktuellen Situationen als größte religiöse Minderheit des Landes beleuchten. Die Recherchen sind im Rahmen einer Exkursion des Instituts für Islamwissenschaft der WWU Münster entstanden.

Das Delhi Sultanat

Die Geschichte muslimischer Präsenz in Indien beginnt um das Jahr 1000 als Mahmud von Ghazni aus der Dynastie der Ghaznawiden mit seinen Truppen bis weit in die Gangesebene vordrang. Die aus dem heutigen Afghanistan stammende Dynastie der Ghaznawiden gründete sich aus ehemaligen Militärsklaven der Samaniden und wurde Ende des 12. Jahrhunderts von den Ghuriden, einer anderen muslimischen Dynastie aus Afghanistan, gewaltsam abgelöst. Erst die Ghuriden schafften es, Delhi zu erobern und den dort herrschenden Rajputen Fürsten zu stürzen. In Folge eines Mordanschlags an Mohammed von Ghur, dem Herrscher der Ghuriden, übernahm Qutb-ud-Din Aibak die Herrschaft und begründete das Sultanat von Delhi. Einst als turkstämmiger Sklave gekauft, wurde Aibak als Soldat ausgebildet, eine Praxis, die damals nicht unüblich war. Um seinen Machtanspruch als Sultan von Delhi zu demonstrieren, errichtete Aibak den Qutb-Komplex, der neben zwei Moscheen auch andere architektonisch beeindruckende Gebäude beherbergte. Zur Errichtung dieses Komplexes zerstörte Aibak die Hindu Tempel, die sich zuvor auf dem Gelände befanden. Er nutzte einige Teile dieser alten Tempel, um sie in seinen Bauwerken zu integrieren. Diese neu verwendeten Teile alter Bauwerke werden Spolien genannt.

Die frische Luft und die Weitläufigkeit in den Ruinen des Qutb-Komplexes bieten eine angenehme Abwechslung zu den sonst so vollen und lauten Straßen Delhis. Streifenhörnchen laufen über die großzügigen Wiesenflächen und lassen sich von Touristen füttern. Der weitreichende Ausblick über das Areal und die zahlreichen Ruinen lassen erahnen, wie monumental diese Stätte einst gewesen sein muss. Besonders beeindruckend ragt das Minarett „Qutb Minar“ in den Himmel. Während der Stil des Minaretts typisch für den indischen Moscheenstil ist, ist dessen Größe einzigartig. Mit über 60 Metern Höhe stellt der Turm eine deutliche Machtdemonstration Aibaks dar. Neben den beiden Moscheen und dem eindrucksvollen Minarett findet sich auf dem Areal des Qutb-Komplexes auch die Ruine einer Madrasa. Madrasas, aus dem Arabischen „Ort des Studiums“, sind Schulen in denen neben religiösen Inhalten auch andere Fächer wie Sprachen, Mathematik, Astrologie oder Medizin gelehrt wurden.

Joshua Sans Imposant ragt das Qutb Minar Richtung Himmel.
Joshua Sans Der Moscheehof ist von Spolien aus Hindu- und Jain-Tempeln umrahmt.
Joshua Sans Besonders kunstvoll wirkt die Fassade der Gebetshalle im Qutb-Komplex.

Das Mogulreich und seine Architektur

Von Delhi aus breitete sich das Sultanat über den gesamten indischen Subkontinent aus. Dieser Erfolg war allerdings nicht von langer Dauer, da sowohl hinduistische Herrscher aus Indien als auch muslimische Herrscher aus Zentralasien eigene Machtansprüche in den Gebieten des Sultanats geltend machen wollten. So fiel der Mogulherrscher Timur im 14. Jahrhundert in das Sultanat ein, was wiederum hinduistische Fürsten nutzten, um ihrerseits Gebiete des Delhi-Sultanats zurückzuerobern. Erst Babur, ein Nachfahre Timurs, konnte im Jahr 1526 das Sultanat von Delhi erobern und begründete dadurch das Mogulreich. Es sollte für knapp 350 Jahre eines der wichtigsten Machtgebilde auf dem indischen Subkontinent sein und wurde erst im 19. Jahrhundert durch die britische Herrschaft über Indien im Zuge des Kolonialismus abgelöst.

Die aus der Dynastie der Timuriden stammenden Moguln kamen ursprünglich aus den Gebieten des heutigen Afghanistan, Iran und Usbekistan. Nach der Zerschlagung des Delhi Sultanats durch Babur wurde das Mogulreich durch dessen Nachfahren erweitert und gefestigt. Das Zentrum der Macht waren auch unter den Moguln die Gebiete um Delhi, im Norden Indiens. Schätzungen zufolge zählte zu seiner Hochzeit, im Jahr 1700, fast ein Drittel der Weltbevölkerung zur Bevölkerung unter der Herrschaft des Mogulreichs.

Trotz vieler Zerstörungen wichtiger Stätten des Mogulreichs nach dessen Untergang, finden sich heute noch zahlreiche Mogulgräber und andere Bauten in Nordindien. Vor allem die Grabstätten der Mogulherrscher mit ihrem unverkennbaren Baustil und den großzügigen Gartenanlagen sind prunkvolle Zeugnisse des einstigen Großreichs. Dabei vereint der Mogulstil sowohl persische als auch indische Einflüsse. Typisch für die verschieden Mogulbauwerke ist zunächst die Verwendung von rotem Sandstein und später weißem Marmor. Ein Paradebeispiel für die Verwendung von weißem Marmor und den späten Mogulstil ist das Taj Mahal. Das Bauwerk, das der Mogulherrscher Shah Jahan als Mausoleum für seine Frau Mumtaz Mahal erbauen ließ, ist nicht nur das bekannteste Zeugnis der Mogulbaukunst, sondern auch das berühmteste Bauwerk Indiens. Wie viele der Bauten aus der Mogulzeit ist auch das Taj Mahal mit einem weitläufigen Garten umgeben. Diese Gärten sind ein typisches Merkmal für den Baustil der Mogulherrscher und teilen das oft quadratische Areal in symmetrische Stücke auf. Die Vorliebe zur Symmetrie findet sich auch in der Ummauerung von typischen Mogulbauten. Üblicherweise lassen sich die quadratischen Anlagen, auf denen sich die Gräber der Mogulherrscher befinden, von mehreren Seiten betreten. Dabei sind bereits die Eingangstore selbst kunstvoll verziert und von imposanter Höhe.

Joshua Sans Diese Gitterfenster, indisch „Jalis“ sind typisch für den indo-islamischen Baustil.
Joshua Sans Auch die Zentralkuppel und die Eingangstore mit Spitzbogen finden sich in vielen indo-islamischen Gebäuden, wie hier am Grab von Firuz Schah Tughluq.
Joshua Sans Das Mausoleum von Itimad-ud-Daula wirkt wegen der Verwendung von weißem Marmor wie eine kleine Version des Taj Mahal.

Der Mogulherrscher Akbar

Einer der experimentierfreudigsten Bauherren unter den Mogulherrschern war Dschalāludin Mohammed Akbar, der meist schlicht Akbar genannt wird. Er herrschte von 1556 bis 1605 über das Mogulreich und prägte es im Verlauf dieser Jahre durch seinen für damalige Verhältnisse ungewöhnlichen Herrscherstil. Ihm wird eine hohe Toleranz gegenüber anderen Religionen zugeschrieben, was sich beispielsweise in der Errichtung einer Audienzhalle äußerte, in der Akbar regelmäßig Vertreter verschiedener Religionen empfing, um mit diesen in einen Dialog zu treten. Außerdem schaffte Akbar die religiöse Steuer für Nicht-Muslime ab und heiratete die indische Rajputen-Prinzessin Hinra Kuwari. Der Eindruck von Akbar als Herrscher, der sowohl offen für architektonische Neuerungen als auch für einen religiösen Pluralismus war, festigt sich bei einem Besuch seiner bedeutendsten Bauwerke.

Fatehpur Sikri und das Grab Akbars

Ein Schwarm Vögel gleitet durch die Dächer, die sich in verschiedenen Höhen und Formen aus der Anlage von Akbars einstigem Regierungssitz, Fatehpur Sikri, erheben. Der Mogulherrscher ließ den Palastkomplex im 16. Jahrhundert als neue Hauptstadt des Mogulreichs erbauen. Fast der gesamte Komplex ist aus jenem roten Sandstein gebaut, der so typisch für den Mogulstil ist. Darüber hinaus erscheint die Anlage durch den Mix verschiedener Stilrichtungen sehr verspielt und einzigartig in ihrer Gestaltung. Auch die spärlich gesäten Grünflächen der Anlage wirken ungewöhnlich, verglichen mit anderen Mogulbauten. Es scheint fast so als wäre neben den zahlreichen Gebäuden kein Platz mehr für Rasenflächen oder Bäume gewesen. Anders verhält es sich am Mausoleum von Akbar. Die riesige Anlage bietet viel Raum für Wiesen und Bäume. Sie ist so groß, dass man schon aufmerksam suchen muss, um die Gazellen, Affen und Pfauen zu finden, die hier leben. Die verschiedenen Bauwerke auf der Grabanlage zeugen einmal mehr von Akbars Begeisterung für Kunst und seinen Hang zur Experimentierfreude. Eine der auffälligsten Besonderheiten ist das Hauptgebäude in der Mitte der Anlage, in welchem sich das Grab befindet. Anders als üblich, zeichnet sich Akbars Mausoleum durch die Abwesenheit einer Zentralkuppel auf dem Dach aus. Damit hebt sich Akbars Grab deutlich von denen seiner Vorgänger ab. Auch die Ornamentik an den Torbauten der Anlage sowie dem Hauptgebäude muten, verglichen mit anderen Mogulgräbern, eher ungewöhnlich an.

Joshua Sans Verglichen mit den Grabstätten seiner Vorgänger, wirkt das Mausoleum von Akbar eher verspielt.
Joshua Sans In dieser Audienzhalle soll Akbar die Vertreter verschiedener Religionen empfangen haben.
Joshua Sans Auch die Ornamente auf dem Eingangstors sind ein Zeichen für Akbars Hang zur Experimentierfreude.

Religiöse Bedeutung historischer Bauwerke

Während viele der Mogulgräber und der anderen historischen Bauwerke heutzutage eher als beliebte Touristenziele bekannt sind, ist mancherorts zu beobachten, wie alte Bauwerke von Besucher*innen als spirituelle Orte neu gedeutet werden. Ein Indiz dafür sind die roten und gelben Baumwollfäden, die oft an den steinernen Gitterfenstern, den sogenannten Jalis, befestigt werden. Sie werden stellvertretend für Wünsche an wichtigen Stätten angebracht. Diese Praxis ist üblich in Hindu-Tempeln und zeigt, wie sehr der Islam in Indien durch den Einfluss von hinduistischer Kultur geprägt ist. Ein Ort, an dem man diese spirituelle Wiederentdeckung besonders stark beobachten kann, ist die Ruine von Feroz Shah Kotla. Die Anlage wurde zur Zeit des Delhi-Sultanats von dem gleichnamigen Tuqhluq-Herrscher, Feroz Shah Tuqhluq, erbaut und ist, bis auf das Eingangstor zur Freitagsmoschee, nur noch in Form von Ruinen erhalten. Ein Spaziergang über die Anlage zu Beginn des Sonnenuntergangs macht die spirituelle Bedeutung dieses Ortes nicht nur sichtbar, sondern auch spürbar. Das, durch die dichten Wolken aus Abgasen dringende milchige Licht fällt auf die Überreste der Torbögen und Fenster der Ruinen, schafft es aber nicht, das Innere des pyramidenartig aufgebauten Hauptgebäudes der Anlage zu beleuchten. Trotz der Abwesenheit von Tageslicht sind die Gänge im Inneren in ein schwaches, aber dennoch warmes Licht gehüllt. Es kommt von den Kerzen und Ölschalen, die einige der Besucher*innen hier aufgestellt haben. Wie die gelb-roten Baumwollbänder auch, markieren sie die spirituelle Bedeutung des Ortes. Der angenehme Geruch des Duftöls verstärkt diesen Effekt. An einigen Stellen in und um die Ruine findet man neben den Lichtern auch eine Vielzahl von Briefen. Sie beinhalten Sorgen, Ängste und Wünsche der Besucher*innen und richten sich an die Dschinn, deren Präsenz in Feroz Shah Kotla als besonders stark angenommen wird. Dschinn sind nach muslimischer Vorstellung Wesen, die bereits im Koran erwähnt werden und ähnlich wie Menschen gut oder böse sein können. Ihnen werden eine Reihe von übersinnlichen Fähigkeiten und ein starkes Erinnerungsvermögen zugeschrieben.

Joshua Sans Die Kerzen in den Ruinen von Feroz Shah Kotla gehören zur Tradition der Dschinn-Verehrung.
Joshua Sans Nicht nur die Dschinn sollen Wünsche erfüllen. Hir haben Gläubige die typisch rot-gelben Bänder an einem Sufi-Schrein befestigt.

Aktuelle Situation von Muslim*innen in Indien

Wie sieht das Leben von Muslim*innen in Indien heutzutage aus und inwieweit lassen sich aktuelle Phänomene auf die Zeit der Sultane und Mogulherrscher zurückführen?

Bei einer Zahl von 172 Millionen machen Muslim*innen knapp 14 % der indischen Bevölkerung aus. Damit ist Indien nach Indonesien und Pakistan das Land mit der drittgrößten islamischen Gemeinschaft im globalen Vergleich. Der Anteil von Muslim*innen an der Gesamtbevölkerung Indiens war bis zur Mitte des letzten Jahrhunderts sogar noch größer. In diesem Zeitraum, genauer gesagt im Jahr 1947, fand eine der wichtigsten Zäsuren der jüngeren indischen Geschichte statt. Mit dem Ende der britischen Kolonialherrschaft und somit dem Beginn der Unabhängigkeit Indiens fand auch die Teilung des indischen Subkontinents statt. Grund für diese Trennung waren wachsende Konflikte zwischen der muslimischen Minderheit des Landes und der hinduistischen Mehrheit. Im Zuge der Teilung Indiens in die Länder Indien und Pakistan kam es zu einer Reihe von Auseinandersetzungen zwischen der hinduistischen und der muslimischen Bevölkerung. Das Ausmaß dieser Auseinandersetzungen kann als bürgerkriegsähnlich beschrieben werden. Schätzungen gehen von mehreren Hunderttausend aus, die im Verlauf der Auseinandersetzungen ihr Leben verloren haben. Doch nicht nur das: Etwa 20 Millionen Menschen wurden außerdem umgesiedelt, deportiert oder aus ihrer Heimat vertrieben. Erzählungen von Zeug*innen aus dieser Zeit lassen sich aufgrund der beschriebenen Grausamkeiten nur schwer lesen und werfen die Frage auf, warum das Thema außerhalb von Indien und Pakistan so wenig Beachtung findet. Eine Folge der Teilung Indiens und der damit verbundenen Spannungen zwischen Indien und Pakistan ist der Kaschmir-Konflikt.

Der Kaschmir-Konflikt

Der Kaschmir-Konflikt ist einer der wenigen Konflikte Indiens, die auch hierzulande mediale Beachtung finden. Die Region Kaschmir grenzt im Süden an Indien, im Westen an Pakistan und im Osten an China. Alle drei Staaten erheben Anspruch auf Teile der Kaschmir Region, was immer wieder zu gewaltsamen Konflikten führt. Innerhalb der Region liegt das indische Unionsterritorium Jammu und Kaschmir, das bis 2019 noch ein eigenständiger Bundesstaat im föderalen System Indiens war. Mit einer Verfassungsänderung, die der Region den Status als Bundesstaat aberkannt hat, verlor Jammu und Kaschmir weitgehend seine Autonomierechte. Als Unionsterritorium hat die Region nun keine eigene Regierung mehr, sondern untersteht unmittelbar der indischen Zentralregierung. Diesem Schritt gingen im Jahr 2019 einige Eskalationen des Kaschmir-Konflikts voraus. Begründet wurde das Entziehen der Autonomierechte seitens der indischen Regierung mit Unruhen, die als Folge des anhaltenden Konflikts in der Region stattfinden würden. Auf den ersten Blick mag dieser Konflikt eher wie ein zwischenstaatlicher als ein innerstaatlicher Konflikt anmuten. Besonders die Entwicklungen im letzten Jahr verdeutlichen allerdings, was für einen innenpolitischen Stellenwert der Kaschmir-Konflikt hat. Rund 70% der Bevölkerung Jammu und Kaschmirs sind muslimischen Glaubens, was den ehemaligen Bundesstaat zur Region mit dem höchsten Anteil muslimischer Bürger*innen des gesamten indischen Festlands macht.  Mit der Verfassungsänderung gingen außerdem eine Reihe von Einschränkungen für die Bevölkerung einher. So wurden das Internet und das Festnetz abgeschaltet und einige Regionalpolitiker unter Hausarrest gestellt. Sowohl die Verfassungsänderung als auch die Einschränkungen sind Folgen der hindu-nationalistischen Politik unter Indiens Premierminister Narendra Modi.

Narendra Modi und die BJP

Der seit 2014 amtierende Premierminister Indiens, Narendra Modi, fällt immer wieder durch islamfeindliche Äußerungen und Handlungen auf. Diese Haltung spiegelt sich auch in zwei Maßnahmen wider, die Modi und seine Partei, die Bharatiya Janata Party (BJP), auf den Weg gebracht haben. Die erste dieser Maßnahmen ist das National Register of Citizens (NRC). Das NRC soll die Bürger*innen des Bundesstaates Assam erfassen, um es so den Behörden einfacher zu machen, vermeintlich illegale Migrant*innen zu identifizieren. Der Grund, warum es das Register bisher nur in Assam gibt, ist die geografische Lage des Bundesstaats. Es wird angenommen, dass eine Vielzahl von illegalen Migrant*innen aus dem benachbarten Bangladesch in Assam lebt. Bei genauer Betrachtung entpuppt sich das NRC als willkommene Maßnahme, die Teilen der Bevölkerung die Staatsbürgerschaft entzieht. Die letzte Zählung zur Aktualisierung der Daten für das NRC nahm etwa 31 Millionen der 33 Millionen Bürger*innen Assams in das Register auf. Es finden sich keine genauen Statistiken zu den knapp zwei Millionen Menschen, die nicht in das Register aufgenommen wurden. Kritiker befürchten allerdings, dass das NRC genutzt wird, um den Anteil der Muslim*innen an der Bevölkerung zu verringern. Bereits Buchstabendreher im Namensverzeichnis können dazu führen, dass Behördenmitarbeiter*innen Bescheinigungen nicht annehmen. Bei Muslim*innen kann auch der Namenszusatz Hadschi (weibliche Form: Hadscha), den man nach der Pilgerfahrt nach Mekka erhält, zu einer Nichtaufnahme in das NRC führen, da der Name nicht zwangsläufig in allen Dokumenten auftaucht. Darum ist es kaum verwunderlich, dass sich viele Stimmen gegen die Ankündigung der Regierung erheben, das NRC bundesweit einzuführen.

Die zweite Maßnahme, die in eine ähnliche Richtung stößt, ist der Citizen Amendment Act (CAA). Dieses Gesetz ermöglicht es Menschen, die aus religiösen Gründen aus den Ländern Pakistan, Bangladesch oder Afghanistan geflohen sind, die indische Staatsbürgerschaft zu erlangen. Ein Zusatz im Gesetz entlarvt die zunächst progressiv erscheinende Regelung allerdings ebenfalls als islamfeindlich. So ist es nur Hindus, Sikhs, Buddhist*innen, Jains und Parsen erlaubt, die indische Staatbürgerschaft zu beantragen. Muslim*innen, die aus einem der genannten Länder fliehen sind von der Regelung ausgeschlossen. Dies widerspricht dem in der Verfassung Indiens festgeschriebenen Prinzip des Säkularismus und hat wiederum eine Reihe von Protesten in Indien losgetreten.

All diese Maßnahmen fügen sich in das Bild einer Partei, die durch ihre hindu-nationalistische Politik Konflikte zwischen den hinduistischen und muslimischen Teilen der Bevölkerung schürt. Menschrechtsorganisationen wie Human Rights Watch gehen mit der BJP und der ihr nahestehenden Organisation Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS) hart ins Gericht und werfen beiden Organisationen vor, gewaltsame Konflikte zu provozieren und zu fördern. Genau aus diesem Grund haben sich in Delhi die vielen kleinen Protestcamps gebildet. Diese Camps ermöglichen zwar den Protest gegen die Regierung unter Narendra Modi, begrenzen ihn aber gleichzeitig auf solch einen kleinen und abgeschirmten Bereich, dass man schon hinter die Absperrung gehen muss, um etwas Genaueres von der Kritik und den Forderungen der Protestierenden mitzubekommen. Die gesamte Atmosphäre, das Polizeiaufkommen um die Camps und die Zäune, die sie eingrenzen, wirken so, als wolle man den Protest so klein wie möglich halten.

Joshua Sans Die Forderungen der Protestierenden richten sich gegen verschiedene Maßnahmen der Regierung unter Narendra Modi.
Joshua Sans Die protestierenden verleihen ihrer Wut durch das Aufhängen von Schildern eine Stimme, die vorbeigehende Passant*innen über die Grenzen der Zäune hinweg erreichen soll.

Hope Project

Mitten in dieser scheinbar gespaltenen Gesellschaft, gibt es trotz der restriktiven Politik Narendra Modis Organisationen, die sich für ein friedliches Zusammenleben einsetzen. So zum Beispiel das Hope Project der der Hazrat Khan Stiftung im historischen Viertel Nizamuddin in Delhi.

Der Kellerraum im Hauptgebäude des Hope Projects wird durch ein grelles, künstliches Licht erhellt. Es herrscht hektisches Treiben, Kinder spielen oder besuchen eine der vielen Klassen der Einrichtung. Insgesamt 55 Kinder können hier Zeit verbringen oder das Bildungsangebot der Stiftung wahrnehmen. Das Angebot reicht von klassischer Schulbildung bis hin zu praktischen, eher berufsorientierten Kursen. Sogar eine eigene Bäckerei mit professioneller Ausstattung befindet sich in den Räumlichkeiten des Hope Projects. Abendkurse ermöglichen es auch denjenigen unter den Kindern und Jugendlichen Bildung zu erlangen, die tagsüber arbeiten müssen. Zwar wird das Angebot des Projekts stadtteilbedingt hauptsächlich von Kindern aus muslimischen Familien wahrgenommen, allerdings richte sich das Angebot an alle Kinder des Viertels, unabhängig von religiöser Zugehörigkeit, erzählt der Leiter des Projekts. „Humanity ist the best religion“, fügt er hinzu.

Joshua Sans Das Hope Project bietet eine Reihe von Bildungsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche Aus dem Viertel Nizamuddin an.
Joshua Sans Der Ausblick vom Dach des Hope Project Gebäudes eröffnet den Blick in das Viertel.

Sufismus in Indien

Die Stiftung, die hinter dem Projekt steht, ist in der Tradition des Sufismus verankert. Der Sufismus wird oft als islamische Mystik bezeichnet und ist ein Sammelbegriff für spirituelle Strömungen innerhalb des Islam. In vormodernen Zeiten haben sich Sufis oft durch einen asketischen Lebensstil ausgezeichnet. Dieser Lebensstil und weitere Praktiken der Sufis sollten ihnen dabei helfen, Gott näher zu kommen. Mit Babur kam der Sufismus auch nach Indien, was sich heute noch an verschiedenen Stätten bemerkbar macht. So finden sich in Delhi einige Schreine, sogenannte Dargahs, die über den Gräbern von Sufi-Heilliegen erbaut wurden. Diese Orte erfüllen, wenn sie noch aktiv sind, mehrere Zwecke. Sie dienen zum einen als Ort der Entspannung, andererseits sind sie Orte an denen große Gemeinden von Gläubigen zusammenkommen, um gemeinsam zu beten oder den Klängen der Qawwali-Musik zuzuhören.

Einer dieser Schreine ist die Nizamuddin Dargah im gleichnamigen Stadtteil Delhis. Mitten in einem Geflecht von engen Gassen, an deren Rändern Händler Blumen und andere Devotionalien verkaufen, breitet sich ein mittelgroßer Platz aus, auf dem sich Menschen aller Altersklassen tummeln. Das Geräusch von Trommeln und der Geruch von Räucherstäbchen liegen in der Luft. Auf dem großen Baum am Rande des Platzes rasten einige der vielen Adler, die über den Dächern Delhis ihre Kreise ziehen. Das größte Gebäude, das an den kleinen Platz angrenzt, ist die Moschee. Doch die eigentliche Hauptattraktion des Geländes ist der Schrein von Nizamuddin. Im Inneren des Schreins befindet sich das Grab von Nizamuddin, welches mit zahlreichen Tüchern bedeckt ist. Wer möchte, kann Blumen oder andere Gaben auf das Grab legen. Wie die Ruine von Feroz Shah Kotla, wird auch dieser Ort dazu genutzt, Wünsche zu äußern und Sorgen loszuwerden. Je später der Abend, desto gefüllter ist der Platz vor dem Schrein, sodass man den weißen Marmorboden, der die Dargah umgibt, nur noch sporadisch aufblitzen sieht.

Ein völlig anderes Bild zeigt sich beim Besuch eines kleineren Schreins in Old-Delhi. Fast menschenleer, kommt der weiße Marmorboden hier in seiner ganzen Schönheit zur Geltung. Der kühle Steinboden und die Weitläufigkeit des Platzes, der sich zwischen Wohnhäusern erstreckt, stellt eine willkommene Abwechslung zum hektischen Treiben auf Delhis Straßen dar. Kleine Gruppen von Kindern, die sich über den Platz jagen und ein älterer Mann, der in Gedanken versunken an einer Säule lehnt, vervollständigen den Eindruck des Schreins als Rückzugsort. Wie an dem Schrein von Nizamuddin auch, schmücken Räucherstäbchen und Ölkännchen den Platz und sind Zeugnisse des spirituellen Sufismus. Beide Schreine zeigen, wie tief die Geschichte von Muslim*innen in der Geschichte Indiens verwurzelt ist. Sie zeigen aber nicht nur wie Muslim*innen das Land geprägt haben, sondern auch wie sehr das Land die Ausübung des Islam geprägt hat. An solch aktiven Orten wie den Dargahs kann man sehr gut beobachten, wie einige hinduistische Bräuche ihren Einzug in den Alltag von Muslim*innen in Indien gefunden haben.

Joshua Sans Die Nizamuddin Dargah lockt täglich eine Vielzahl von Gläubigen an.
Joshua Sans Bei Tag entpuppen sich manche Schreine als Orte des Rückzugs und der Entspannung.

Fazit

Delhi präsentiert sich als eine Stadt, die reich an Einflüssen aus verschiedenen Religionen und Kulturen ist. Dies wirkt sich auf sämtliche Lebensbereiche wie Kulinarik, Kunst, Architektur sowie das allgemeine Zusammenleben aus und sorgt dafür, dass es an fast jeder Ecke der Millionenmetropole etwas Unerwartetes zu entdecken gibt. Es ist schwer als Tourist mit der einheimischen Bevölkerung über die Politik der Regierung und die anhaltenden Spannungen innerhalb der Gesellschaft ins Gespräch zu kommen. Das ist auch kein Wunder, wenn man sich die Rhetorik der BJP und des Premierministers Narendra Modi anhört. Immer wieder nutzt die indische Regierung auch historische Konflikte zwischen Hindus und Muslim*innen, um ihre Agenda voranzutreiben. Diese Methode stärkt den Stolz der Hindunationalisten auf die eigene Geschichte und stellt Muslim*innen als Invasoren dar, die keinen Platz in Modis Indien haben. Trotz dieser Spannungen und vor allem wegen der reichen Geschichte Delhis, lohnt sich ein Besuch dieser außergewöhnlichen Stadt. Auch, wenn man sich in Delhi zu jeder Zeit so fühlt, als stünde man irgendjemandem im Weg.

Weitere Eindrücke

Joshua Sans Nicht nur architektonisch hat Delhi viel zu bieten.
Joshua Sans Der Himmel über Delhi ist ein Paradies für Vogelbeaobachter.
Joshua Sans Eine ungewöhnlich leere Straße für Delhis Verhältnisse.
Joshua Sans Oft liegen die historischen Bauwerke mitten in bewohnten Vierteln.
Joshua Sans In Delhi teilt man sich die Straßen nicht nur mit Menschen und Hunden.
Joshua Sans Natürlich darf auch ein Besuch des weltberühmten Taj Mahal nicht fehlen.
Joshua Sans Die wohl leckersten Souvenirs kann man auf Delhis Gewürzmarkt kaufen.

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Joshua Sans

Während meines Politik- und Islamwissenschaftsstudium arbeite ich nebenbei daran, aus dem Interesse am Schreiben Kapital zu schlagen, um so die Leiden der Lohnabhängigkeit etwas erträglicher zu machen. Neben pseudointellektueller Kapitalismuskritik interessiere ich mich vor allem für Sprachen, politische Theorie und Musik in (fast) all ihren Erscheinungsformen.

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