Kultur und Medien

„Der Schriftsteller ist der natürliche Feind der Diktatur“ – Zum Tod von Ismail Kadare

Am 1. Juli ist der weltberühmte albanische Schriftsteller Ismail Kadare in der Landeshauptstadt Tirana gestorben. Ein Nachruf auf einen zeit seines Lebens umstrittenen Autor.
| Deike Terhorst |

Geschätzte Lesezeit: 5 Minuten

Gjirokastra

Die südalbanische Stadt Gjirokastra, dem Geburtsort von Ismail Kadare. Foto: Pixabay

Er wurde immer wieder als Anwärter auf den Literaturnobelpreis gehandelt. Nun ist Ismail Kadare am 1. Juli im Alter von 88 Jahren an den Folgen eines Herzinfarktes gestorben. Der Schriftsteller, der 1936 in der südalbanischen Stadt Gjirokastra geboren wurde, galt als der wichtigste literarische Vertreter seines Landes. Er wurde mit zahlreichen nationalen und internationalen Preisen ausgezeichnet, sein Gesamtwerk umfasst mehr als 80 Romane, Theaterstücke, Drehbücher, Gedichte, Essays und Erzählungen, die in 45 Sprachen übersetzt wurden. Das macht ihn zum meistübersetzten Autor albanischer Sprache.

„Heute schicken Albanien und die Albaner ihr literarisches Genie in den Pantheon der Ewigkeit, der Balkan den Dichter seiner Mythen, Europa und die Welt einen der bedeutendsten Vertreter der modernen Literatur. […] Ismail Kadare wird uns immer mit Respekt in Erinnerung bleiben, da er wie kein anderer […] die europäische Ausrichtung der albanischen Nation gefördert hat. Leb wohl, unser Großer!“

Bajram Begaj (Präsident von Albanien) beim Staatsbegräbnis am 3. Juli 2024

Kadares Frühwerk hatte in der damaligen sozialistischen Volksrepublik für Irritationen gesorgt. 1956 war er vom Regime zum Literaturstudium nach Moskau geschickt worden und hatte die Tauwetterperiode unter Chruschtschow miterlebt. Als er nach dem politischen Bruch zwischen der Sowjetunion und Albanien zurückkehren musste, schrieb er 1963 im Alter von 26 Jahren den Roman „Gjenerali i ushtrisë së vdekur“ (dt.: Der General der toten Armee). Darin wird ein italienischer General in Begleitung eines Priesters nach Albanien geschickt, um die sterblichen Überreste seiner im Zweiten Weltkrieg gefallenen Landsleute ausfindig zu machen und nach Italien zu überführen. Beide sprechen dabei immer wieder über die Sinnlosigkeit des Krieges. Mit seinem fantastisch-mythischen Debüt abseits des geforderten sozialistischen Realismus zog Ismail Kadare dermaßen viel ideologische Kritik auf sich, dass er auch außerhalb des ansonsten hermetisch abgeriegelten Albaniens registriert wurde.

Zeitlebens unter Kritik

Über Jahre war er Anfeindungen und Drohungen ausgesetzt, erhielt 1975 zeitweise Publikationsverbot und wurde zur Zwangsarbeit aufs Land verbannt. Der Schriftsteller musste selbst am Höhepunkt seiner Karriere fürchten, in die unablässig arbeitende Maschinerie der Verfolgung zu geraten. Er wurde bespitzelt und seine Akte bei der Sigurimi zählt zu den umfangreichsten, die der Geheimdienst je angelegt hat. So war Ismail Kadare einerseits Aushängeschild des Regimes, andererseits Gefangener seiner Rolle. Seine Manuskripte ließ er teilweise nach Frankreich schmuggeln, wo sie übersetzt und publiziert wurden. Das Versteckspiel mit den staatlichen Autoritäten endete 1990 mit dem Zusammenbruch des Kommunismus in Albanien.

Kurz zuvor war Kadare nach Paris gegangen und dafür als Volksverräter geschmäht worden: Erst 1999 bezog er wieder eine Wohnung in Tirana. Nun galt er als Stolz des ganzen Landes. In seiner früheren Wohnung aus sozialistischen Tagen wurde ihm das „Studio Kadare“ eingerichtet, ein allein seinem Schaffen gewidmetes Museum, sein Geburtshaus in Gjirokastra wurde nach einem Brand wiederaufgebaut.

Ewiger Nobelpreiskandidat

Ismail Kadare war 15-mal für den Literaturnobelpreis nominiert, wurde aber nie ausgezeichnet. In der Logik des Preises (politische Aspekte werden in den Begründungen der Schwedischen Akademie immer wieder prominent erwähnt) leuchtet das sogar ein, denn Kadares politische Rolle im kommunistischen Albanien blieb umstritten. Im Kreuzfeuer der Kritik stand zeitlebens seine Unterstützung des Diktators Enver Hoxha, der das Land bis 1985 nach stalinistischem Vorbild regierte. Als Mitglied der „Partia e Punës“ (dt.: Partei der Arbeit) war der Schriftsteller zudem 12 Jahre lang Parlamentsabgeordneter und gehörte der politischen Elite des Regimes an. Womöglich muss man in diesem Zusammenhang aber Folgendes bedenken: Wer im Albanien unter Hoxha überleben, publizieren und gelesen werden wollte, musste nicht nur Kompromisse eingehen, sondern – sei es aus berechtigter Angst, Berechnung oder Überzeugung – dem Machtapparat seinen Tribut zollen.

„Diktatur und Literatur sind wie zwei wilde Tiere, die einander ständig an der Gurgel packen. Der Schriftsteller ist der natürliche Feind der Diktatur.“

Ismail Kadare im Jahr 1991

Bei der Verweigerung des Nobelpreises spielte darüber hinaus auch Kadares unbestreitbarer Nationalismus eine Rolle. Häufig hat er den rebellischen Stolz der Albaner verherrlicht, die Leidensfähigkeit eines kleinen, in seiner Geschichte mehrfach von der Auslöschung bedrohten Volkes, das dem Zwang wie den Verlockungen der Assimilation widerstand und sich seine sprachliche und kulturelle Identität zu bewahren vermochte. Einen Kampf, den er bereits in seinen ersten Romanen führte, setzte er bis zuletzt fort und kritisierte, dass die Türkei die osmanische Zwangsherrschaft über den Balkan zur goldenen Ära umzufälschen versucht. Der Schriftsteller warnte zudem davor, dass der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan über Kulturstiftungen, Moscheen und Schulen Albanien zur Provinz eines neo-osmanischen Reiches zu degradieren plant. Diese imperiale Außenpolitik deutete Kadare als „kulturelle Aggression“.

Botschafter seiner Heimat

Aus rein literarischer Perspektive steht Ismail Kadares Werk jedoch außerhalb jeden Zweifels. Das Wirken des Wunderbaren im Alltag, düstere Vorkommnisse, skurrile Gestalten und präzise Beobachtungen, das alles hat er miteinander verbunden. Wer Kadares Bücher liest, taucht ein in die Legenden und Mythen Albaniens, seine Texte handeln von der Identität und der Geschichte eines Volkes. Die international erfolgreiche britisch-albanische Sängerin Dua Lipa sagte über den Schriftsteller, er habe ihr geholfen, die Sprache und Kultur ihres Heimatlandes zu verstehen. Kurzum: Ismail Kadare hat Albanien über Literatur der Welt zugänglich gemacht.

Einer seiner schönsten Romane ist dabei die bereits 1971 erschienene autobiografische „Kronikë në gur“ (dt.: Chronik in Stein). Die wechselnde Besetzung Gjirokastras während des Zweiten Weltkriegs wird darin aus der Sicht eines Kindes gesehen und gedeutet. Dieses versteht zwar manche Zusammenhänge falsch, erlebt aber andere dafür umso intensiver. So entsteht aus Kadares individuellen Erlebnissen und Erfahrungen ein ergreifendes zeitgeschichtliches Buch.

Geprägt vom Leben in einer Diktatur

Der Schriftsteller setzte sich darüber hinaus intensiv mit den Mechanismen des Totalitarismus auseinander. Zentrales Thema war hierbei das alltägliche Leben in einer kommunistischen Terrorherrschaft nach stalinistischem Vorbild. Sein letzter Roman „Der Verbannte“ erschien in deutscher Übersetzung im Jahr 2017. Mit diesem Buch leitete Kadare seine stark autobiographisch bestimmte Spätphase ein und tritt in der Figur eines Autors auf, der ins Fadenkreuz eines Despoten gerät – und sich dabei genauso zwiespältig verhält, wie es dem Verfasser selbst immer wieder nachgesagt wurde.

Kadare lebte in den vergangenen Jahrzehnten zwischen der französischen und der albanischen Hauptstadt. Letztes Jahr verlieh ihm der französische Präsident Emmanuel Macron bei einem Besuch in Tirana den Titel „Großoffizier der Ehrenlegion“. Der in und außerhalb von Albanien geschätzte Autor legte weiter Buch um Buch vor: „Der Anruf“ ist in der deutschen Übersetzung für Anfang nächsten Jahres angekündigt. Es bleibt abzuwarten, ob Kadare als unverzichtbare Stimme der Gegenwartsliteratur mit diesem Werk seinen Status als literarisches Bindeglied zwischen Albanien und der Welt auch post mortem festigen kann.

Unterstützen

Wenn dir der Beitrag gefallen hat, würden wir uns über eine kleine Spende freuen.



Noch mehr Stories? Folge seitenwaelzer:

Deike Terhorst

ist im berüchtigten Emsland aufgewachsen, wo man sich Moore mit Spezi (emsl. für Cola-Korn) schön trinkt. Hatte irgendwann einen klaren Moment und ist fürs Geschichtsstudium in die große Stadt aka Münster gezogen. Arbeitet mittlerweile im Lokaljournalismus. Digitaler Dinosaurier mit Instagram-Allergie. Powert sich gerne beim Tischtennis aus. Verrückt nach Kreuzworträtseln. Spricht Albanisch. Wäre ohne Terminplaner komplett lost (hab gehört, das sagt man jetzt so).

unbekannt

Tatsächlich gelesen – The Hound of the Baskervilles (Sir Arthur Conan Doyle)

Cover Unter 100Daniel Rublack | seitenwaelzer.de

Unter 100 #05 – Filme vorgestellt in höchstens 99 Worten

Zwei Männer lachen im Auto© 2024 CTMG, Inc. ALL IMAGES ARE PROPERTY OF SONY PICTURES ENTERTAINMENT INC

Seelenverwandte Ballerei – Review „Bad Boys: Ride or Die“

Katrina_S | Pixabay

Lese-Lust im Sommer – Empfehlungen der Redaktion

Tags:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Wir benutzen Cookies, mit der Nutzung unserer Webseite erklärst du dich damit einverstanden. Hier gibt's weitere Infos.