Bildung und Karriere / Reportage
Zu Mittag bei den Mennoniten in Mexiko – Ein Leben wie im 16. Jahrhundert?
Leben wie im 16. Jahrhundert? Das ist die Lebensart der Mennoniten. Naja, zumindest theoretisch. Amelie hat bei den Mennoniten zu Mittag gegessen. Eine etwas andere Reportage.
Geschätzte Lesezeit: 6 Minuten
„Galletas“, ruft mir ein Junge am Straßenrand zu. Ich schaue ihn entgeistert an. Nicht die Tatsache, dass er Kekse verkauft, bringt mich aus der Fassung, sondern sein Aussehen. Er trägt eine dunkelblaue Latzhose und einen Strohhut. Darunter lugen glatte, weißblonde Haare hervor. In seinem sommersprossigem Gesicht blitzen eisblaue Augen. Langsam wie ein Polaroid entwickelt sich eine Frage in meinem Kopf: Warum verkauft ein skandinavischer Junge Kekse am Straßenrand… hier in Mexiko?
Ein paar Wochen später sitze ich an einem übergroßen Esstisch aus massivem, dunklem Holz. Auf der einen Seite des Tisches stapeln sich Backbleche mit Teigkringeln, die andere bietet Platz, den Teig auszurollen. Dort steht ein kräftiges Mädchen, fast zwei Köpfe größer, aber einige Jahre jünger als ich. Ihr Haar ist nicht so hell wie das des vermeintlich skandinavischen Jungen, den ich im Dorf gesehen hatte. Es ist eher ein dunkles Weizenblond. Doch auch sie ist eindeutig europäischen Ursprungs. Während ihre groben Hände den Teig geschickt zu langen Würsten drehen, schnattert Ewa, das ist ihr Name, lebhaft vor sich hin. Über was sie redet, verstehe ich leider nicht. Sie spricht Deutsch – allerdings in einem Dialekt, der an Plattdeutsch oder auch Niederländisch erinnert. Ich schaue auf meine Notizen, dann wieder auf Ewas Mund, aus dem weiterhin die gedehnten, freundlich klingenden Laute fließen. Na, das habe ich mir ja schlau überlegt, tadle ich mich innerlich. Wie will ich denn eine Reportage über die Mennoniten in Mexiko schreiben, wenn ich nicht einmal deren Sprache verstehe?
Zur Vorbereitung hatte ich mich natürlich über die Glaubensgemeinschaft informiert. Die Mennoniten verdanken ihren Namen dem Theologen Menno Simons, der sich zu Zeiten der lutherischen Reformation der aufrührerischen Täuferbewegung anschloss. Ihre „skandalöse“ Forderung: die Abschaffung der Kindertaufe. Aufgrund ihrer radikalen Auslegung des christlichen Glaubens erlebten die Mennoniten seit jeher Ausgrenzung und Vertreibung. Insbesondere ihr Glaube an Gewaltfreiheit zwang sie, in Kriegszeiten immer wieder umzusiedeln, um dem Wehrdienst zu entgehen.
So löste auch der Erste Weltkrieg eine weitere Emigrationswelle der verbliebenen Mennoniten in Deutschland aus. Viele flohen nach Kanada. Doch als dort die gesetzliche Schulpflicht eingeführt wurde, zogen die streng Konservativen in die USA, nach Mexiko oder noch weiter südlich. Durch die geografische Trennung und die unterschiedlichen „Härtegrade“ des Glaubens lässt sich die Freikirche, die weltweit 2,1 Millionen Anhänger*innen zählt, nur schwerlich über einen Kamm scheren. Ihr kleinster gemeinsamer Nenner: die Erwachsenentaufe, das Gemeindeverständnis als Freikirche und die pazifistische Grundhaltung.
Während die Mennoniten in Europa eher als liberal gelten, finden sich in Lateinamerika überwiegend die Altkolonier-Mennoniten, die der Moderne skeptisch gegenüberstehen. Dabei entscheidet jede Gemeinde selbst, wie sehr sie sich dem technologischen Fortschritt öffnet – oder verschließt.
Wie zur Bestätigung krempelt Ewa sich die Ärmel ihres altmodischen Kleides hoch. Es ist aus einfacher Baumwolle, lila mit hellem Blumenmuster, und reicht bis über die Knie. Haben sich die Menschen im 16. Jahrhundert wohl genauso gekleidet? Ich suche den Raum nach weiteren Beweisstücken eines altertümlichen Lebens ab. Der Fleischwolf auf der Anrichte erscheint mir definitiv ein Artefakt aus vergangener Zeit. Auch der dunkle Holztisch mitsamt dem Schemel, auf dem ich sitze, könnte genauso vor fünf Jahrhunderten schon existiert haben. Der kitschige Kalender aus Hochglanzpapier und die Plastikstühle an der Kopfseite des Tisches eher weniger. Die drei betagten Damen mit Häubchen, die auf den Kunststoffstühlen sitzen, wiederum schon. Es gibt Gemeinden in Paraguay und Bolivien, die noch immer ohne Elektrizität leben. Wo ziehen Mennoniten ihre Grenzen? Wie entscheiden sie, welche Errungenschaften der Neuzeit sie akzeptieren? Immer mehr Fragen sammeln sich in meinem Notizbuch. Dabei wollte ich doch Antworten finden!
„Schreibt se dat auf?“, fragt Hella in den Raum. Hella ist die Dame des Hauses und mit ihren voluminösen Unterarmen unverkennbar Ewas Mutter. Ihr stattlicher Körper steckt ebenfalls in einem Baumwollkleid – blau mit dunklem Blumenmuster. Ihre Augen sind trüb und wirken durch die dicken Brillengläser überdimensional groß. Mennoniten heiraten nur innerhalb ihrer Glaubensgemeinschaft; entgegen des Vorurteils aber niemals in der Familie. Da jedoch oft innerhalb der örtlichen Gemeinde geheiratet wird, tauchen aufgrund des „überschaubaren Gen-Pools“ in vielen Familien Sehschwächen, Diabetes und weitere genetische Krankheiten auf. Trotz milchiger Augen betrachtet Hella mich aufmerksam. Mir widerfährt der Gedanke, dass ich für sie mindestes so seltsam bin, wie sie für mich. Ich erkläre in Hochdeutsch, dass ich mir Notizen mache, um später einen Artikel zu schreiben. Dabei tippe ich mit meinen Fingern auf einer imaginären Tastatur. Ich füge hinzu, dass ich auf einem Computer, einer Maschine schreibe, und frage, ob sie weiß, was das ist.
„Dat is nix für mich, für Mennoniten.“ „Warum?“, hake ich bemüht vorsichtig nach. Innerlich juble ich auf: Endlich komme ich dem Rätsel ihrer widersprüchlichen Konventionen auf die Spur! In dieser Gemeinschaft hat man sich darauf geeinigt, selbst nur Kutsche zu fahren, aber man darf sich in Autos mitnehmen lassen. Es ist verboten, ein Handy zu besitzen, aber sie können eines benutzen. Warum ist das Eine erlaubt, das Andere aber nicht? „Warum?“, frage ich Hella, diesmal mit Nachdruck. „Ich weiß nicht.“, weicht sie aus. Ich will noch nicht aufgeben und bohre nach, ob Computer verboten seien. Sie zuckt nur mit den Schultern und spricht nicht weiter.
Die Daumenregel, ob eine technologische Errungenschaft akzeptiert wird, ist, wie sehr sie der Gemeinschaft nützt. Da die meisten Mennoniten von Landwirtschaft leben, gehören Traktoren oft zu den bewilligten Ausnahmen. Auch diese Gemeinschaft baut Mais und Viehfutter im großen Stil an. Der mexikanische Staat macht sich die emsige Arbeitsmoral der Mennoniten zunutze, verriet mir der Taxifahrer auf dem Weg zur Kommune. Eine besondere Stellung in der Gesetzgebung erlaubt ihnen, großflächig Land zu bestellen und im Gegenzug dürfen sie unbehelligt nach den ausgefallenen Geboten ihres Glaubens leben. „Son un poco… raro. Sie sind ein bisschen seltsam“, gibt mein Fahrer verlegen zu, als ich ihn nach seiner Meinung aushorche. Der guten Seele scheint es jedoch nicht zu behagen, schlecht über Andere zu reden – auch nicht über Mennoniten. So viel Toleranz rechne ich ihm hoch an. Ich war enttäuscht, als ich bei meinen Recherchen fast ausschließlich Berichte fand, in denen Mennoniten als inzestuöse Alkoholiker mit Gehirnwäsche dargestellt werden. „Sie sind wirklich sehr, sehr fleißig. Und sie machen hervorragendes Brot.
Ich kann ihm nur zustimmen. Nachdem die Bleche verstaut sind und der Tisch von Teigresten befreit ist, nimmt Hella sich keine Sekunde zum Durchschnaufen. Sie beginnt umgehend mit den Vorbereitungen für das Mittagessen. Einem klobigen Holzschrank entnimmt sie einige Gläser mit eingelegtem Fleisch sowie eine übergroße Zwiebel und legt alles auf der gefliesten Arbeitsfläche ab. Daraufhin zieht sie etwas aus einer Schublade, das aus meinem Blickwinkel von ihrem üppigen Körper verdeckt wird. Plötzlich leben die anderen Frauen auf, die sich bisher im Hintergrund gehalten hatten. Sie gackern mit vielen Ohs und Ahs und machen mich neugierig auf dieses aufsehenerregende Ding. Hella tritt einen Schritt zur Seite, um nach der Zwiebel zu greifen. Mit einem Mal verstehe ich jedes Wort der Damen, obwohl sie noch immer in ihrer altertümlichen Sprache reden. „Ah und wie funktioniert das?“ „Man tut hier einfach so einen Teil der Zwiebel rein. Dann drückt man das runter und zack hat man Würfel. Ganz einfach!“ Ich traue meinen Augen nicht. Auf der blank polierten Anrichte in diesem mennonitischen Haushalt in Mexiko steht: ein Nicer Dicer Plus – der praktische Gemüseschneider vom QVC-Kanal.
Nach dem Mittagessen – das überraschenderweise aus mexikanischen Tacos bestand – bedanke ich mich aus tiefstem Herzen bei den liebenswerten Damen für ihre Gastfreundschaft. Ich verabschiede mich und trete aus der schattigen Veranda heraus in die bereits sinkende Sonne. Mein Kopf fühlt sich seltsam leer und gleichzeitig unendlich schwer an. Ich hatte mir von diesem Kennenlernen erhofft, die fremde Lebensweise der Mennoniten besser nachvollziehen zu können. Nun türmen sich noch mehr Rätsel vor mir auf. „Ein Nicer Dicer Plus“, murmle ich kopfschüttelnd, während ich über den staubigen Schotterweg laufe, zurück in meine gewohnte, moderne Welt.
Quellen:
https://www.zeit.de/1997/52/mexiko.txt.19971219.xml
https://www.stern.de/familie/leben/mennoniten-in-bolivien–das-fuerchterliche-idyll-3480082.html
https://www.stern.de/reise/fernreisen/mennoniten-in-mexiko-leben-wie-im-19–jahrhundert-3217976.html
https://www.vice.com/de/article/yv4bgb/geister-vergewaltigungen-in-bolivien-0000549-v9n8
https://de.wikipedia.org/wiki/Mennoniten
https://de.wikipedia.org/wiki/T%C3%A4ufer
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Interessanter Artikel. Ich muss aber leider widersprechen. Der „kleinste gemeinsame Nenner“ der 2,1 Mio. Mennonit*innen weltweit ist nicht die Skepsis gegenüber der Moderne. Das ist leider ein vielverbreitetes Missverständnis. Der kleineste gemeinamste Nenner der Mennonit*innen ist ein bestimmtes Gemeindeverständnis (als Freikirche außerhalb staatlicher Strukturen), die Ablehnung der Kindertaufe und die Umsetzung der Evanglien, insbesondere Bergpredigt ((„Theologie der Tat“ statt rein theoretischer Abhandlungen, wobei das schon sehr unterschiedlich ausgelegt werden kann). Dass die Mennonit*innen die Moderne ablehnen, stimmt nicht – im Gegenteil: Mennonit*innen waren zum Teil Vorreiter der Moderne (freikirchliches Gemeindeverständnis, Betonung der Religionsfreiheit/Gewissensfreiheit, Durchsetzung der Kriegsdienstverweigerung etc.). Auch waren z. B. die Mennonit*innen der USA Initiatoren der Fair-Trade-Bewegung (erinnert sich noch jemand an „Jute statt Plastik?und waren/sind Unterstützer der Fiedens- und Bürgerrechtsbewegung (ein Mitstreiter und Redenschreiber Martin Luther Kings war z. B. Mennonit oder man denke an die derzeitige kanadische Gesundheitsministerin). Es gibt heute sowohl sehr traditionelle als auch sehr liberale mennonitische Gemeinden, es gibt eine aktive Schwulen- und Lesben-Bewegung innerhalb mennonitischer Kirchen, genauso wie Leute, die das für unvereinbar mit dem christlichen Glauben halten. Mennonit*innen oder Täufer*innen sind also sehr breit aufgestellt, es gibt sehr unterschiedliche Gemeinden/Kirchen. Auch in Deutschland/Europa wird man ganz unterschiedliche mennonitische Gemeinden finden (von sehr liberal bis sehr konservativ) – und man muss wissen, dass die mennonitischen Gemeinden, die sich in Lateinamerika angesiedelt haben, ja gerade diejenigen waren, die sich (wenn man so will) unter dem zunehmenden Anpassungsdruck an die modernene Gesellschaften in Russland oder später Kanada kulturell zunehmend traditionalisiert haben (eine ähnliche Entwicklung wie die Amischen, die früher auch nicht immer Skeptiker der Moderne gewesen sind).
Hallo Ole,
Ich bin tatsächlich beim Schreiben auch immer wieder über diese Stelle gestrauchelt und bin dir für deine Korrektur sehr dankbar! Ich habe den Text entsprechend angepasst und denke, dass die Passage den Tatsachen nun eher gerecht wird :-)
Lg,
Amelie