Gesellschaft und Lifestyle / Ökokiste
Minimalismus – Frühjahrsputz im Kopf
Was macht eine minimalistische Lebensweise aus und wie kann man wirklich minimalistisch Leben? Joshua geht der Sache auf den Grund.
Geschätzte Lesezeit: 7 Minuten
„You think you have to want more than you need, until you have it all you won’t be free.“
Dieses Zitat aus dem Song „Society“ von Eddie Vedder zeigt, was es bedeuten kann, minimalistisch zu denken, und beschreibt eine Einstellung zum Konsumverhalten. Einen anderen Blick auf das Thema Minimalismus nehmen Kunst, Architektur und Musik ein: Was Minimalismus in diesen Bereichen bedeutet, ist meist definiert und somit leicht zu identifizieren. Betrachtet man Minimalismus als Lebenseinstellung, wird es schon etwas schwieriger mit einer einheitlichen Definition. Was bedeutet Minimalismus und was treibt Menschen dazu an, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen und ihr Leben nach dieser Maxime auszurichten? Sind „Tiny Houses“ und andere minimalistische Konzepte nur der Ausdruck des zunehmenden Wunsches nach Individualisierung oder Hinweis auf eine Gesellschaft, die sich gegen den Konsumwahn aufbäumt?
Der Film „Into The Wild“, aus dessen Soundtrack das Anfangszitat dieses Artikels stammt, ist symptomatisch für die Minimalismus-Bewegung. Die Handlung des Films basiert auf der Geschichte des jungen Amerikaners Christopher Johnson McCandless, der sich nach seinem College Abschluss dazu entscheidet, alle Zelte hinter sich abzureißen. In der Hoffnung, sein Glück in der Natur zu finden, macht er sich auf eine Reise durch den Westen der USA bis nach Alaska. Er wurde zur Symbolfigur eines alternativen Lebensstils. Was den Naturliebhaber dazu bewegte, zumindest zeitweise, ein minimalistisches Leben als Aussteiger zu führen und der Konsumgesellschaft zu entfliehen, kann nur spekuliert werden. Als Sohn einer wohlhabenden Familie und mit einem guten College Abschluss ausgestattet, scheinen Existenzängste jedenfalls unwahrscheinlich.
Was wäre, wenn ein großes Haus mit Garten und ein teures Auto in der Einfahrt doch nicht die Ziele sind, die es im Leben zu erreichen gilt?
Spuren auf eine Abkehr von der Konsumgesellschaft und dem modernen Leben kann man bereits 1854 finden. In diesem Jahr erschien das Werk Walden, das von Henry David Thoreau geschrieben wurde und als Standardwerk der Aussteigerkultur gilt. In dem Buch befasst Thoureau sich mit einem alternativen Lebenskonzept und berichtet von den Erkenntnissen, die er über einen Zeitraum von zwei Jahren in einer kleinen Waldhütte in Massachusetts sammelte. Ihn trieben vor allem die Verhältnisse der industrialisierten Gesellschaft dazu an, minimalistischer leben zu wollen.
„Ich wollte tief leben, alles Mark des Lebens aussaugen, so hart und spartanisch leben, dass alles, was nicht Leben war, in die Flucht geschlagen wurde.“
Henry David Thoureau
Heute, knapp 160 Jahre nach Erscheinen von Walden, gibt es immer noch Menschen, die den gleichen Wunsch nach einem minimalistischeren Leben verspüren und in ihren Alltag integrieren. Einige von ihnen treffen sich jeden 4. Donnerstag im Monat in Münster, um sich über das Thema Minimalismus auszutauschen. Auf die Frage, was Minimalismus für sie bedeute, antwortet eine der Teilnehmerinnen: „Es ist sehr persönlich, was für einen minimalistisch ist.“ Es kann also nicht einheitlich festgelegt werden, wie viel man genau besitzen darf oder soll, um als MinimalistIn zu gelten. Was eine minimalistische Lebensweise wirklich ausmacht, ist der bewusste Umgang mit Besitz. Wer sich ehrlich fragt, was er in seinem Leben an materiellem Besitz braucht, wird herausfinden, was es bedeutet, minimalistisch zu denken. So kann die Erkenntnis, dass man sich mit zu viel Besitz belastet, ein erster Anfang für den Start in ein minimalistisches Leben sein. Eine andere Teilnehmerin des Münsteraner Treffs fing beispielsweise aufgrund eines Umzugs in eine kleinere Wohnung an, sich mit der Frage nach der Sinnhaftigkeit ihres Besitzes auseinanderzusetzen. Auch hier liefert Eddie Vedder die passende Textzeile:
„I think I need to find a bigger place. ‚Cause when you have more than you think, you need more space.“
Doch ist es einzig und allein der Wunsch nach einem, im wahrsten Sinne des Wortes, aufgeräumten Leben, der Menschen zum Nachdenken über Minimalismus anregt? Nach dieser Vorstellung könnte auch ein Großgrundbesitzer, dessen Einfahrt 30 Luxusautos schmücken, von sich behaupten Minimalist zu sein. Er müsste nur vor sich selbst rechtfertigen können, dass er diesen Luxus auch wirklich bräuchte. Dieses überspitzte Beispiel wird wohl ein hypothetisches bleiben. Einer der Gründe hierfür ist, dass viele MinimalistInnen, so auch die des Treffs in Münster, nicht nur eigennützige Motive in einer minimalistischen Lebensweise suchen. Für sie spielt neben der Befreiung von materiellem Besitz zum Zwecke der eigenen Entlastung auch das Thema Nachhaltigkeit eine Rolle. Laut der Teilnehmerinnen sei der CO2 Ausstoß eine wichtige Motivation. Das zeigt sich auch an ihrem Lebensmittelkonsumverhalten. Sie alle setzen sich bewusst mit der Herstellung von Lebensmitteln auseinander, sind teilweise Vegetarier oder zumindest Flexitarier. Wie eine der Minimalistinnen bezeugt, sogar vorrangig aus dem Grund der Nachhaltigkeit und weniger aus einer tierschützenden Motivation heraus.
Ein Begriff, der bei dem Treff und im Zusammenhang mit Nachhaltigkeit oft fällt, ist Zero-Waste. Anhänger dieser Idee versuchen, es mit ihrem persönlichen Abfall so minimalistisch wie möglich zu halten. Hier gilt es vor allem, die Verpackungsfreude der Lebensmittelindustrie zu umgehen, indem man bewusst keine Lebensmittel mit extra Verpackung einkauft. Wer dies in einem normalen Supermarkt versucht, wird wahrscheinlich schon in der Obst- und Gemüseabteilung verzweifeln, bevor er bei dem Vorhaben, Reis, Brot oder Olivenöl ohne Verpackung zu kaufen, völlig aufgibt. Daher gibt es auch in Münster Läden wie „natürlich unverpackt“, die sich darauf spezialisiert haben, Lebensmittel ohne Verpackung anzubieten. Ein Blick aufs Sortiment verrät, dass sich nicht nur Lebensmittel, sondern auch Gebrauchsartikel wie Waschpulver und Körperlotion unverpackt kaufen lassen.
Lies auch: Ein Interview mit der Besitzerin eines Ladens für unverpackte Lebensmittel
Dieser kleine Exkurs zeigt, wie sehr eine minimalistische Denkweise sich auf weite Lebensbereiche auswirken kann. Hauptsächlich geht es im Zuge einer minimalistischen Lebensweise allerdings immer noch um den Sinn und die Menge von materiellem Besitz. Spätestens, wenn einen im Baumarkt von der Verpackung eines goldenen Bit-Sets, die Worte „Limited Edition“ anstarren und die innere Sammellust wecken, muss man sich fragen, ob die Gesellschaft nicht doch mal für einen kurzen Moment innehalten sollte. Die Nachfrage, die künstliche Verknappung wie „Limited Editions“ sie in einigen Branchen auslösen, ist beträchtlich. Sozialwissenschaftler bezeichnen dieses Konzept als Konsumkapitalismus. Die Annahme ist, dass die Nachfrage im Mittelpunkt der Wirtschaftsordnung steht und daher bewusst erschaffen wird. Der Politikwissenschaftler Benjamin Barber fasst es so zusammen:
„Früher produzierte man Waren, um Bedürfnisse zu befriedigen; heute produziert man Bedürfnisse, um Waren zu verkaufen.“
Bei allen abgedroschenen Zitaten und polemischer Konsumkritik muss man es sich nicht direkt zur Lebensaufgabe machen, den Kapitalismus zu überwinden, um minimalistisch leben zu können. Allerdings kann es nicht schaden, das eigene Kauf- und Konsumverhalten ab und an zu hinterfragen. In diesem Kontext kommt eine wichtige Fragen auf:
Brauche ich das limitierte Bit-Set in goldener Farbe für meinen Akkuschrauber wirklich?
Gerade jetzt, kurz nach Weihnachten, dem heiligen Fest des sinnfreien Konsums, kann es hilfreich sein, sich kritisch mit seinem Besitz und Konsumverhalten auseinanderzusetzen. Dafür hat der Mensch gleich die nächste Institution erschaffen – der gute Vorsatz fürs neue Jahr!
Meist beziehen sich die guten Vorsätze allerdings auf den übermäßigen Konsum von (ungesunden) Lebensmitteln während der Weihnachtszeit. Viele Menschen empfinden den Konsum im Nachhinein als übertrieben und wollen daher etwas an ihrer Ernährung und/oder ihrer Fitness ändern. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem materiellen Besitz hingegen findet oft nur während des Frühjahrsputzes statt. Solche groß angelegten Aufräumaktionen schaffen sowohl Ordnung im Haushalt als auch im Kopf. Beschränkt auf einen einzigen Tag sind sie allerdings kaum nachhaltig. Wenn man sich nun nicht nur einmal im Jahr mit dem Ausmisten beschäftigt, sondern immer wieder (vielleicht sogar unmittelbar vor Weihnachten…) mit Konsum auseinandersetzt, muss man irgendwann gar nicht mehr ausmisten.
Wie viele alternative Lebensmodelle muss sich auch der Minimalismus Kritik gefallen lassen. Viele Ideen werden als Modeerscheinungen abgetan, deren Anhänger nur Trends folgen, anstatt wirklich an einen höheren Zweck ihrer Handlungen zu glauben. Im Falle des Minimalismus lässt sich schwer sagen, ob es sich nur um einen Trend handelt, der bald wieder vorüber geht, oder ob ökonomische Systeme und habitualisierte Konsummuster sich nachhaltig auf das Glücksempfinden auswirken können und daher Bewegungen wie den Minimalismus bewirken. Die Tatsache, dass es minimalistische Ideen bereits in der Antike gab, spricht eher für letztere These.
Wer es nun selbst einmal mit dem alternativen Lebenskonzept Minimalismus ausprobieren möchte, für den haben die Münsteraner Minimalistinnen ein paar Ratschläge. Zuerst einmal solle man sich nicht zu sehr stressen und zu hohe Erwartungen an sich selbst stellen. Sich bewusst mit etwas anscheinend so Selbstverständlichem wie dem eigenen Konsumverhalten auseinanderzusetzen, erfordert Zeit und Geduld. Am Anfang solle man mit den Dingen und Verhaltensweisen anfangen, auf die man am ehesten verzichten könne, so die Minimalistinnen. Gerade das Thema Lebensmittel eigne sich besonders gut für den Anfang. Wenn es zu schwer ist, Essgewohnheiten zu ändern, kann man sich wenigstens beim Einkauf fragen, ob es das in Plastik eingepackte Gemüse sein muss oder ob nicht auch loses Gemüse eine Option ist. Generell sei es aber nicht hilfreich, sich an zu strickte Vorgaben zu halten oder sich von anderen Menschen demotivieren zu lassen. Wichtig sei vor allem, sich aktiv und reflektiert mit dem eigenen Konsum- und Wegwerfverhalten auseinanderzusetzen. Natürlich kann es auch nicht schaden, sich weitere Tipps von erfahrenen MinimalistInnen beim monatlichen Treff (jeden vierten Donnerstag im Monat) im Prütt-Café auf der Bremerstraße abzuholen!
PS: Während des Schreibens dieses Artikels klingelte der Postbote und brachte mir mein völlig unreflektiert gekauftes Paar neue Sneaker…
Dieser Artikel erschien zuerst in DRAUSSEN – das Straßenmagazin für Münster und Umland
Lies auch: Faire Klamotten – wie geht das? Ein Interview.
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Joshua Sans
Während meines Politik- und Islamwissenschaftsstudium arbeite ich nebenbei daran, aus dem Interesse am Schreiben Kapital zu schlagen, um so die Leiden der Lohnabhängigkeit etwas erträglicher zu machen. Neben pseudointellektueller Kapitalismuskritik interessiere ich mich vor allem für Sprachen, politische Theorie und Musik in (fast) all ihren Erscheinungsformen.
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