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Aber ich bin doch nicht rassistisch?
"Ich behandle alle Menschen gleich, ich bin nicht rassistisch." - warum diese Aussage schwierig ist und wo das Problem von systemischem Rassismus eigentlich liegt.
Geschätzte Lesezeit: 19 Minuten
Vielleicht habt ihr mitbekommen, was in der Talkshow Die Letzte Instanz im WDR mit Thomas Gottschalk und Co in Sachen Alltagsrassismus und Antiziganismus abging. Und wenn nicht – Hier die Kurzfassung: Der WDR hat vier weiße Gäst*innen zu einer Talkshow mit einem weißen Moderator eingeladen, um über Rassismus(erfahrung) zu sprechen.
Unsere Protagonisten und Protagonistin der Runde: Micky Beisenherz, Thomas Gottschalk, Janine Kunze und Jürgen Milski sowie Steffen Hallaschka als Moderator. Sie besprechen die Inhalte hierbei nicht nur aus weißer, privilegierter Perspektive, sondern auch voller rassistischer Einwürfe und Ideen – Genaueres folgt.
Der ganze, zu Recht viel diskutierte, Vorfall ist allerdings ein bisschen wie die Titanic: Er kratzt nur an der Spitze des Eisbergs.
Antiziganismus
Antiziganismus ist der Begriff für die Diskriminierung, Ausgrenzung und Anfeindung von Sinti und Roma.
Da ham’ wir auch direkt den Salat, den Eisbergsalat sozusagen. Denn der*die eine oder andere von euch mag vielleicht schockiert oder überrascht gewesen sein. Was?! Sowas rassistisches wie diese Talkshowrunde, die aus vier, beziehungsweise fünf, weißen, privilegierten Leuten besteht, die das Thema Rassismus komplett unaufgeklärt und diskriminierend ergründen, existiert hier im Jahr 2021 noch? Ja. Und gerade hier. Es ist leider kein Grund schockiert oder überrascht zu sein.
Diese Formen von Rassismus umgeben uns ständig im Alltag, allerdings sind sie für „uns“ häufig wenig sichtbar. An dieser Stelle sei erwähnt, dass ich keineswegs nur weiße Menschen mit dem Artikel ansprechen möchte, aber mit dem „uns“, Menschen, die wie ich weiß sind, in dasselbe Boot auf eine kleine, wackelige Bootstour des Nachdenkens mitnehmen möchte.
Ha! Ja, dich möchte ich abholen mit dem Pronomen “wir”. Okay, schippern wir mal weiter und lassen die Diskussion von sprachlichen Manipulationstaktiken in den Medien mal kurz hinter uns. Auf in die hohe See.
Was ich nicht selbst erfahre, existiert nicht?
Diskriminierung bleibt oft von Nicht-Betroffenen unbemerkt. Es herrscht Unsichtbarkeit und schlichtes Unwissen. Meist fehlt es an Sensibilisierung.
Das Bildungssystem zeigt sich in puncto Aufklärung von Diskriminierung schwach: Im optimistischsten Fall unbeholfen wohlwollend und verletzend; im pessimistischen Fall aktiv revisionistisch und verharmlosend. Und die Verantwortung für Aufklärung über systemische (!) Diskriminierung und Machtstrukturen bei Erziehungsberechtigten allein zu sehen, ist auch keine Lösung. Dass die öffentlich-rechtlichen Medien wiederum auch sehr sichtbare Probleme mit Repräsentation und Aufklärung haben, ist evident.
In der besagten Talkshowfolge fällt der Gedanke, dass sich alle, die gegen die Nutzung des Z-Wortes laut werden, nur anstellen würden. Mehr noch: Die Kritik dieses im Nationalsozialismus geprägten Begriffs sei “nervig”. Der Diskurs um den Verzicht auf einen Begriff zur Brandmarkung, Teilweise mit zwangsgestochenen Tätowierungen, von circa fünfhunderttausenden verfolgten und ermordeten Sinti und Roma sei “nervig”. Die Kritik an Rassismus, Antiziganismus und faschistischen Begriffen wird auf “Nervigkeit”, etwas kleines, nichtiges, lästiges, wie eine Mücke, reduziert.
Das ist wirklich allerspätestens der Punkt, an dem alle, die wie ich, so weiß sind, wie zu lang von Onkel Ulli im tiefsten Bayern gekochte Käsespätzle, hellhörig werden müssen. Im wahrsten Sinne des Wortes.
Hellhörig werden, für betroffene Menschen, die genau darüber sprechen wollen. Wir müssen zuhören und lernen. Wir müssen People of Colour zuhören. Wir müssen rassistische, antiziganistische, antimuslimische und antisemitische Strukturen erkennen, abbauen und in Grund und Boden stampfen.
Es gibt so viele gute, aufklärerische Creators of Colour. Am Ende dieses Artikels findet ihr einige Quellen verlinkt.
Und wir müssen nicht nur zuhören, sondern auch Konsequenzen für uns im Alltag ziehen. Nicht nur sagen: “Ach, ich bin ja nicht rassistisch.” – Problem gelöst. Wir müssen nicht nur passiv nicht rassistisch sein, sondern aktiv anti-rassistisch handeln, also gegen Rassismus vorgehen. Strukturen, die dafür sorgen, dass marginalisierte Gruppen unterdrückt werden, zerschlagen. Aber ich tu doch niemandem was, reicht das nicht? Warum ist das mein Problem? Ich bin doch nicht rassistisch.
Wir alle haben Rassismen in unseren Köpfen, die wir noch abbauen müssen. Das ist kein endgültiges Urteil, sondern ein Prozess, der schlichtweg anzugehen ist. Schauen wir uns das doch mal näher an.
“Aber ich bin wirklich nicht rassistisch uwu.” Allerdings hat dieses Mind-Set ein paar Probleme. Zunächst einmal nennen sich nicht mal die heftigsten, ideologisch geprägten Rassist*innen rassistisch. Selbst Martin Sellner, der Leiter der Identitären Bewegung, einer rechtsextremen, faschistoiden Gruppierung der Neuen Rechten in Österreich, bezeichnet sich nicht selbst als Rassist, sondern kleidet das Konzept bewusst in das euphemistische Wort “Ethnopluralismus” ein.
Ethnopluralismus
Ethnopluralismus? Plurale, also vielfältige Ethnien? Das klingt doch erstmal gut. Was soll denn daran schlimm sein? Der Begriff ist bewusst euphemistisch, also beschönigend gewählt. Tatsächlich steckt dahinter die Idee von „Man muss alle Ethnien schön und sauber voneinander trennen.” Wir denken kurz an Rassentrennungsideen und ethnische Säuberungstheorien des Dritten Reiches. Zudem nimmt das Konzept Implikationen, und tatsächlich auch explizit gemachte, Gewichtungen zwischen verschiedenen Ethnien vor.
Die Einstellung “Ich bin nicht rassistisch.” ist gut gemeint, ich weiß. Und selbst wenn wir unseres Wissens nach “nichts aktiv rassistisches tun”, heißt das zwei Dinge nicht. Zum einen wissen wir nicht, ob unsere Einschätzung richtig ist. Zum anderen positionieren wir uns durch Passivität. Wir verhindern nichts, wir gehen gegen nichts vor.
Es ist ungefähr wie ein Stau auf einer Autobahn. Zwar fährt niemand aktiv rückwärts, aber nach vorne bewegt sich eben auch nichts. Man schleicht maximal Zentimeter für Zentimeter voran, wenn überhaupt. Nur dass Du dir vorstellen musst, dass in dieser Staumetapher noch große Bulldozer eingefügt werden, fette Karren, die alle Autos, die nicht weiß lackiert sind, nach hinten schieben und die Autos unterschiedlich viel Treibstoff und Wartungen erhalten. Und in dem Prozess geht eben auch viel kaputt oder der Treibstoff geht allmählich zu neige und man kann nicht mehr.
Einzige Lösung? Auf E-Scooter umsteigen, die mit Lithiumbatterien fahren, welche wiederum unglaublich schlechte Abbaubedingungen haben und zusätzlich auch noch grundlegende Ressourcen wie die Wasserversorgung indigener Völker bedrohen. Joa. Sieht nicht gut aus für unsere Metapher. Da müssen wir wohl alle zu Fuß gehen – und zwar zu Protesten.
Aber es hört nicht bei einmaligen Demos auf. Du gehst hin, Du gehst zurück. Du kannst die Konfrontation mit dem Thema ein- und ausschalten. Von Rassismus Betroffene haben diese Wahl nicht.
Du gehst für einen Tag hin. Womöglich gibt es dir sogar ein gutes Gefühl und am gleichen Abend lässt du die selbstgebastelten Pappschilder mit instagrammable Sprüchen in der Abstellkammer schon wieder verstauben. Du entspannst dich im Bett und bestellst bei Amazon ein Warbonnet für die nächste Karnevalsfeier. Dass diese stereotyp dargestellte Federschmuckvariante der indigenen Völker Amerikas so heißt, weißt Du nicht. Du hast einfach “Indianer Kostüm” gegoogelt und das erste und günstigste Ergebnis genommen. Kannst Du auch direkt trendy beim nächsten Festival nach Corona tragen. Nebenbei flechtest Du Dir Cornrows ein und kochst Dir danach schön Uncle Bens. Darauf klatschst Du Dir ordentlich Zi- äh rote Paprikasoße drauf. Darauf einen Schokokuss.
Boah, man kann sich aber auch anstellen!
Betroffene sollen sich nicht so viel beschweren heißt es in der WDR Sendung “Die Letzte Instanz”, sich nicht “Jeden Schuh anziehen” und es sei völlig legitim, sich als eine Ethnie zu verkleiden und dann zu behaupten, dass man dadurch die Rassismuserfahrung nachempfinden könnte. Danke, Thomas Gottschalk, für letzteren Beitrag, wow.
Was macht man mit solchen Aussagen? Es folgte, nach lauter Kritik seitens vieler Rezipient*innen der Sendung, eine knappe Entschuldigung im Internet. Aber kein konkreter Ansatz oder Plan, wie der Programmaufbau verändert wird oder systemischer Wandel im gegebenen Kontext angegangen werden kann. Eine Konsequenz über ein verläufiges floskelhaftes Beteuern und eine Entschuldigung hinaus wird also nicht gezogen – oder zumindest nicht kommuniziert. Ein Wort, das wars. Oder im Falle des Moderators: Eine Nopology.
Im Hintergrund lacht irgendwo im Internet Martin Sonneborn von “Die Partei” und pocht darauf, das Punching Down und die Reproduktion rassistischer Stereotype über asiatische Menschen unter dem heiligen Schutzpatron der “Satire” stehen, und Satire alles darf und huihui…ui.
Punching Down
Punching Down … Wörtlich “Nach unten Schlagen” ließe sich im Deutschen direkter mit “Nach unten treten” übersetzen. In der spezifischen englischen Verwendung meint es jedoch die Anwendung von Humor zu Lasten marginalisierter Gruppen, die nicht von den herrschenden Machtstrukturen profitieren, sondern eh bereits von diesen benachteiligt werden. Punching Down schlägt nach unten und tritt quasi Leute, die bereits am Boden sind und versuchen aufzustehen. Der Begriff wird gewählt, um die ungleichen Machtverhältnisse zu verbildlichen.
Martin, vielleicht haben wir nicht gefragt, was Satire darf, sondern warum du verdammt nochmal deine Plattform, also eine Machtstruktur, die eben in einem höchstgradig politischen Kontext existiert, nutzt, um Rassismen und Sexismen und die Verharmlosung von Vergewaltigungen, nebenbei angemerkt, einfach zu wiederholen und in die Welt zu schreien, so als hätte das irgendeinen Mehrwehrt. Wie wäre es, Comedy über Faschismus und Kapitalismus oder … vielleicht die systemische Benachteiligung marginalisierter Gruppen zu machen und damit auf Probleme hinzuweisen? Ich meine … was erhoffst du dir von der „Dieter Nuhr und Lisa Eckhart School of Comedy„? Diskursverschiebung? Antisemitimus, Antiziganismus, Islamophobie, Rassismus und noch eine ganze Palette spezifischer Diskriminerungsformen salonfähig machen? Warum?
Erneut: Was hat das für einen Mehrwert? Für wen genau?
“Wählt die Partei. Denn sie ist sehr witzig.” Aber höchstens für diejenigen privilegierten weißen binären Cis-Männer – hab ich ablebodied vergessen? -, die bereits von historischen Machtverhältnissen profitieren und deswegen herzlich lachen können.Und falls ihr nebenbei über die Begriffe binär und cis gestolpert seid – Keine Sorge, ich hab da mal was vorbereitet.
Zurück zu Martin Sellner, Humor, Plattformen und Rassismus. Man kann weggucken, es hinnehmen oder sogar feiern und als letzte Instanz von Ausdruck und Satire feiern. Womit wir wieder beim Anfang wären: “Aber ich bin ja nicht rassistisch.”
Doch nicht hier in Deutschland
Egal ob Polizeigewalt und Racial Profiling, Ungleichheit im Zugang zu Bildung, Wohnungssuche, Jobsuche, Rassismus in der medizinischen Versorgung, Repräsentation, alltägliche Stigmata oder Gewalt gegen Black, Indigenous, People of Colour (abgekürzt BiPoc) und Querverschränkungen mit Themen wie Geschlecht, Sexualität, Behinderungen, Neurodivergenzen oder Armut: Der Haufen an Problemen, der noch heute vom Kolonialismus stinkend auf der Straße liegt, ist immens.
Da hilft es auch nicht, wenn ein Mensch wie ich, der sich zwar nicht auf allen Privilegien, doch aber einigen großen ausruhen darf, denkt: Hömma, ich erklär euch jetzt die Welt. Denn das wäre Quatsch. Da würde ich mich nur auf alten Machtstrukturen niederlassen. Ich möchte lediglich mit diesem Beitrag Aufmerksamkeit schaffen und anregen, sich doch bitte mit einer Nadel zu bewaffnen, zu seiner Scheiß-Filterbubble zu gehen und endlich die Blase platzen zu lassen. Und wie geht das?
Durch Zuhören, Lernen, Veränderung und persönlichen Einsatz in alltäglichen Situationen. Und zwar in allen Bereichen: Sei es im Job, in der Schule, in der Ausbildung, im Studium, im Bus, auf Veranstaltungen, bei deinen Freund*innen oder bei der “zum Glück nur ein bisschen haha” rassistischen Familie. Denn all diese Aspekte unserer Lebenswelt enthalten Machtstrukturen. Machtstrukturen, die von einer weißen, wohlhabenden und männlichen, ablebodied und neurotypischen, heteronormativen und binären Struktur von Normalität ausgehen. Zudem gehen sie von geld-, konsum- und profitorientierten Ideen, die sowohl Menschen als auch Umwelt auf der Strecke lassen, aus. Das sind viele Probleme. Und damit soll man sich befassen? Das ist doch so anstrengend! Ja, und auch zeitaufwändig, klar, aber es ist vor allen Dingen auch: Das Mindeste! Und es ist kein Vergleich zum Kampf ums Überleben. Zu lange wurde Arbeitskraft, Anstrengung und Zeit unter anderem in Form von Sklaverei, gemäß kolonialistischer Ideen, auf die Schultern von Black indigenous People of Colour ausgelagert. Arbeit musste zu Gunsten weißer Menschen von BiPoC geschultert werden und nun soll auch die Arbeit, die es eben ist (post)kolonialistische, rassistische Strukturen abzubauen, von und nicht mit oder in Anleitung von BiPoC gemacht werden? Bildungsarbeit ist Arbeit. Organisation und Umsetzung der Aufarbeitung einer kolonialhistorischen Vergangenheit ist Arbeit.
Daher müssen wir diesen Menschen eben nicht nur zuhören und passiv kostenfreie politische Aufklärungsarbeit konsumieren, uns einverleiben und genießen, sondern selbst Konsequenzen für unsere Handlungen ziehen, BiPoC Creators unterstützen, ihre Stimmen verstärken und uns mit Eigeninitiative über Rassismus und Kolonialgeschichte bilden.
Wir und die anderen – Das Problem von Othering
“Wir” – an dieser Stelle brechen wir mal mit dem konstruierten „Wir“ als Ansprache. Denn ein “Wir” impliziert immer auch einen Gegenpol, eine Abgrenzung, ein „sie“ oder schlimmer noch ein „die da“ oder ein entmenschlichtes „es„.
Wir und „das Andere„. Das Andere, das Fremde, hier kommt sogenanntes Othering ins Spiel. Othering ist ein Begriff, welcher die Abgrenzung zu spezifischen marginalisierten Gruppen problematisiert. Zunächst bezog sich Othering, grob übersetzt “Andersartigmachen” oder “Fremdmachen”, beispielsweise bei dem Philosophen Hegel nur auf die Selbstwahrnehmung und die Erschaffung des Anderen allgemein.
Die berühmte feministische Philosophin Simone de Beauvoir übertrug dies dann als Pionierin auf eine binäre Betrachtung von Geschlechtern.
Männer und “die Anderen”
Binär, im Sinne von zwei, meint in diesem Fall die Betrachtung einer Dualität eines männlichen und eines weiblichen Geschlechtes. De Beauvoir betrachtete also im Kontext Othering die Betrachtung von Männern als “normaler Referenzpunkt” und Frauen als “das Andersartige”.
Männer, Frauen und “Die Anderen”
Wer sich in Anknüpfung daran auch mit nichtbinären Geschlechtern befassen möchte, kann sich die auf De Beauvoir aufbauenden Texte der nichtbinären Philosoph*in Judith Butler anschauen. Gerade die Aufrechterhaltung eines binären, also zweigeteilten Geschlechtersystems, ist eng mit Kolonialismus verbunden. Ein Beispiel dafür ist die rigide und äußere Einteilung in Frauen und Männer und normative Befüllung dieser zwei Kategorien nach Ideen von denen eine weiße und männlich Machtposition profitiert. Im Zuge dessen ist sie unter anderem verbunden mit der Marginalisierung trans und nichtbinärer, beziehungsweise intergeschlechtlicher, Menschen. Geschlechterdiversität hat viele Formen und Namen und ist sowohl auf chromosomaler, hormoneller, kognitiver und sozialer Ebene etwas, über das wir weder im Biologie, Sozialwissenschaften, Politik, Geschichtsunterricht noch im Kunst-, Deutsch- oder Philosophieunterricht etwas lernen, obwohl das Thema all diese Fächer mehr als nur marginal (pun intended) berührt.
Gerade das Ausmaß an Vereinfachung und Unwissenschaftlichkeit im Biounterricht, was den Themenkomplex Sex und Gender angeht, ist regelrecht verblüffend. Doch das zu vertiefen wäre die Aufgabe eines anderen Artikels. Zuletzt sei zu dem Thema Geschlechterdiversität kurz hinzuzufügen dass beispielsweise viele der indigenen Völker Amerikas das Konzept des “Two-Spirit” haben, welches eng mit Geschlechtsidentität und dem Ausdruck von Geschlecht jenseits binärer Normen verbunden ist. Wenig verwunderlich sind europäische Kolonialisten mit Gewalt gegen diese Diversität vorgegangen. Wie der Umgang mit Kleidung sowohl mit Rassismus als auch Sexismus zusammenhängt und was genau “Two-Spirits” sind, wird anschaulich und interessant beispielsweise in der Indigenous Fashionology Episode des Wissenschaftspodcasts “Ologies” erklärt. In diesem Zuge sei auch auf die Neuroendokrinologiefolgen verwiesen, die einige Mythen zum Thema Geschlecht, Hormone und Neurologie lüften.
Othering und Kolonialismus
Doch nicht nur im Kontext Geschlecht spielt der Begriff Othering eine wichtige Rolle. So behandelte beispielsweise der, in Palästina geborene und in Amerika schreibende, Literaturtheoretiker Edward Saïd den Begriff „Othering“ in seinen Werken mit kritischem Blick auf (Post)Kolonialismus. Hierbei wird eine Norm konstruiert von der das jeweils „Andere“ abweicht. Gleichzeitig kennt ihr bestimmt Leute, die sowas ignorantes sagen wie: „Ich seh einfach keine Farbe, haha :) <3„ als Totschlagargument, um einer Auseinandersetzung mit Rassismus zu entgehen. Natürlich können wir Unterschiede erkennen und gerade in der systemischen Unterschiedlichbehandlung von Menschen in Form von Diskriminierungsformen wie Racial Profiling oder Colourism liegt das Problem. Es gibt unterschiedliche Hautfarben, Hauttöne, Haartexturen, Augenlider oder Nasenformen. Aber darum geht es im Konzept von Othering nicht: Das Problem entsteht an dem Punkt, an dem Menschen basierend darauf diskriminiert und benachteiligt werden.
In Umkehr alle Unterschiede und alle systemischen Probleme einfach abzustreiten oder zu ignorieren und sich selbst jeglicher Mitverantwortung und Aufarbeitung des Themas zu entziehen, demonstriert lediglich das Privileg, eben dies tun zu können. Es zeigt, dass Du einfach Dich dazu entscheiden kannst zu sagen: „Nö, damit beschäftige ich mich nicht (weil ich es nicht muss, weil ich darunter nicht leide)„. Eine Wahl, die nicht jeder Mensch hat.
Denn ein weißer Mensch mit blauen Augen wird gesellschaftlich nicht anders behandelt, als ein weißer Menschen mit grünen Augen. Unterschiede gibt es immer. Die Frage ist: Ab wann sorgen Unterschiede dafür, dass sie als „fremd“ oder „anders“ behandelt werden. Genauso fangen die meisten Menschen bei Leuten, die eine Brille tragen, nicht an, ihr Sprachverhalten zu ändern. Bei Menschen, die anstelle einer optischen Stütze eine Mobilitätsstütze haben, sieht es dagegen anders aus. Menschen, die rollstuhlfahren, müssen viel zu häufig eben dieses Othering über sich ergehen lassen. Es wird per default möglichst langsam oder einfach mit ihnen gesprochen oder immer wieder erzählt, wie „leid ihnen das alles tut“ und „wie inspirierend“ sie doch seien. Und das, obwohl man nichts über die Person, ihren Lebensweg, ihre Fähigkeiten, ihre Wünsche und Ziele oder ihre Gedankenprozesse weiß.
All diese Beispiele zeigen, dass das Andersmachen ein wichtiger Begriff in der Analyse von Sozialmechanismen ist. Gleichzeitig werfen sie letztendlich die Frage auf: Ab wann ist jemand „anders“? Der österreichische Ethnologe Andre Gingrich hat sich auch mit dieser Frage beschäftigt. Für ihn liegt der Kern im Othering bei der „Darstellung von machtlosen „Anderen“ gemäß den Interessen der Mächtigen“. Das Problem liegt also im Ausüben von Macht, zum Nachteil derer, die diese nicht besitzen. Was “anders” ist und was das Normale, also das gemäß einer Norm verlaufende, ist, definieren dementsprechend jene, die die Entscheidungsgewalt haben.
Wozu das führen kann, sehen wir in unserem Alltag: Wir sehen normalisierte Feindbilder. Wir sehen Ideen, die gegen die schiere Existenz von denen, die „anders“ sind, gehen oder vielmehr als etwas “anderes” konstruiert werden. Diese Feindbilder ziehen mehr als nur eine dick beladene Klischeekiste mit sich. Feindbilder, die in Reinstform besonders im Nationalsozialismus gemalt wurden. Und auch heute wird fleißig weiter gemalt: Hanau und Halle sind nur zwei Beispiele von rassistisch motivierten und islamfeindlichen, beziehungsweise antisemitischen, Pinselstrichen.
Feindbilder, ja die Feindlichkeit an sich, findet sich auch im Begriff der „Fremdenfeindlichkeit“. Auch das “Andere”, das Fremde hat dort seinen Platz. Doch ist euch schon mal aufgefallen, wie in dem Begriff allein diese Trennung und Abgrenzung erneut passiert? In dem Begriff Fremdenfeindlichkeit allein steckt eine Positionierung; ein Bekenntnis zur Idee, dass es eben jene gibt, die als ganze Gruppe fremd sind und als andersartig abgegrenzt werden müssen. Das Wort reproduziert in sich also bereits eine Dualität zwischen „uns“ und „denen“.
Es zeigt, wie eng die Idee des Andersartigen, und eben auch des Othering, mit Rassismus verbunden ist. Niemand kommt auf die Idee den exakten Begriff Fremdenfeindlichkeit zu verwenden, um von armen Personen, Frauen, Menschen mit Behinderung oder nichtbinären, trans- oder intergeschlechtlichen oder queeren Menschen oder neurodivergenten Leuten zu sprechen.
Neurodivergenz
Die Abweichung kognitiver Strukturen von einer durch Machtstrukturen entstandenen Norm. Häufig taucht der Begriff in Bezug auf andere Wahrnehmungsarten wie dem Autismusspektrum auf.
Othering, Andersmachung, kommt also selbst in Begriffen, die eben Diskriminierung und Rassismus eher problematisieren soll(t)en, vor. Dementsprechend gibt es zunehmend auch eine Abkehr von dem Wort Fremdenfeindlichkeit.
Das Fremde, das Andere, ist also eher ein Konstrukt. Eine Demonstration von Macht. Ein Titel, der Machtlosen, gezwungenermaßen, auferlegt wird. Je machtloser, desto anderer, fremder, ferner. Othering ist dabei mehr als nur eine Unterscheidung in “ich” und “anders”, sondern die Formulierung einer Norm, das Abheben und Distanzieren. Das Entwerten, Vergessen, Wegschieben derjenigen, die eben nicht die gleiche Macht haben. Derjenigen, die der Situation in Stücken oder Gänze systemisch ausgeliefert sind. Es sind dieselben Machtstrukturen hier bei uns, die “dort” zu Krieg und Flucht geführt haben. Es sind die Machtstrukturen, die die Idee des Fremden, des Feindlichen und Bösen aufrechterhalten. Das, was am wenigstens bedroht, wird zur Bedrohung.
Der Blick schweift auf das Mittelmeer. Der Blick schweift nach Lesbos und Moria. Der Blick schweift zu Kindern und Erwachsenen, die zusammengepfercht im überschwemmten Schmutz ums Überleben kämpfen, während Europa wegschaut. Deutschland schaut weg. Wir schauen weg, passiert ja nicht hier. Ist ja egal. Sind ja nur fremde Menschen.
Systemische Probleme
An dieser Stelle sei abschließend die Arbeit von Gayatri Chakravorty Spivak erwähnt, welche 1985 in „The Rani of Sirmur“ den Sozialmechanismus Othering um seinen systemischen Charakter ergänzte und analysierte. Was bedeutet das?
Zunächst einmal stellt sich die Frage: Systemisch, systemisch – Warum wird immer dieses eine Wort verwendet? Was ist eigentlich der Unterschied zwischen systematisch und systemisch? Systematisch ist, wenn Einzelteile in einem System einem Plan, einer Ordnung oder einer Struktur folgen. Systemisch dagegen, ist etwas, was das ganze System, die ganze übergeordnete Struktur, ganzheitlich betrifft.
Spivak beschreibt in ihrer Arbeitet also Othering im Kontext einer übergeordneten Ebene: Eines ganzen Systems. Es bedarf nicht allein einen individuellen Einsatz, sondern auch systemischen Wandel. Doch dieser entsteht nicht im luftleeren Raum, sondern durch unserer aller Handeln.
Zurück zum Begriff „uns“: Dementsprechend muss sich nämlich auch unser implizites Verständnis von „uns“ wandeln und eben wirklich alle Menschen umfassen.
Während ich zu Beginn das Wort „uns“ benutzt habe, um eine Zugehörigkeit mit der privilegierten Gruppe weißer Menschen zu signalisieren, und besonders in diesem Artikel anzusprechen, möchte ich dieses uns unbedingt auch innerhalb dieses Artikels aufweiten. Denn natürlich haben einige sich schon mehr mit dem Thema befasst und/oder befassen müssen. Dennoch ist dieser Artikel für uns alle gedacht.
Im begrenzten Kontext dieses Artikels habe ich also die Macht, etwas zu schreiben und ihr habt die Macht, jederzeit wegzuklicken oder euch beispielsweise über bestimmte Inhalte zu beschweren oder Änderungen und Korrekturen zu fordern (falls es übrigens blinde Flecken oder klaffende Fehler in diesem Text gibt, sagt gerne Bescheid!).
Übergeordnet steht der Artikel im Kontext dieses Magazins hier, seitenwaelzer. Das bedeutet: soziale Drücke, Normen und Erwartungshaltungen sowie Fragen zu eben jenen, die sich uns in Redaktionssitzungen stellen.
In dem Wunsch gelesen und besprochen zu werden, im Wunsch gehört und gesehen zu werden, ist seitenwaelzer entsprechend Teil eines übergeordneten Mediensystems und buhlt wie alle anderen Zeitungen, Magazine, Seiten, Accounts und blinkenden kleinen roten Notifications darum, deine Aufmerksamkeit zu erhaschen.
Kommen wir zum Elefanten im Raum
Seitenwaelzer und ich richten uns in diesem Beitrag schließlich nicht nur an weiße Menschen. Dennoch muss gesagt sein: Unser Redaktionsteam ist gebleachter als die Zähne eines Zahmodells.Und das kommt natürlich nicht von ungefähr. All die oben genannten Faktoren, die systemische Hürden ausmachen, führen eben auch dazu, dass sich Echokammern ohne ausgeprägte soziale Durchmischung ausbilden.
Ich kann schlecht für alle Beteiligten bei seitenwaelzer sprechen und will es mir auch nicht anmaßen. Ich spreche an dieser Stelle lediglich für mich, aber: Das Problem fällt auf und es wirkt ziemlich sinnlos, obsolet und in der Zeit zurückgefallen, ein allgemeines, schulisch- und studentisches Medium aufzuziehen, welches Machtstrukturen in Bezug auf Plattformen, Diskurs und Meinungsbildung, zumindest in puncto Teilhabe nichtweißer Menschen, aufrecht erhält beziehungsweise reproduziert – ob freiwillig oder nicht.
Ja, prinzipiell kann sich jede junge Person melden, um mitzuschreiben, soweit ich das verstanden habe. „Es meldet sich halt zufällig niemand.„
Dennoch ist es an der Zeit, dies auch mehr zu kommunizieren und auch die Inhalte der einzelnen Medien kritisch zu betrachten, zu überarbeiten und genauso in der Neuproduktion von Artikeln, Podcasts und mehr eine multiperspektivische Betrachtungsweise und antirassistische Haltung aufzuzeigen.
Es gibt so viele wunderbare, starke Stimmen, die so viel mehr Gehör verdient haben. Wenn der Wandel bei so kleinen Plattformen wie dieser nicht beginnt, wo soll er dann anfangen?
Zugegeben, der letzte Teil ist eine Fragestellung, die sich im ersten Moment scheinbar nicht primär an euch, die Leser*innen von seitenwaelzer richtet. Doch gerade auch die Transparenz dieser Fragestellungen und Bearbeitung mit Konsequenzen ist ein wichtiger Schritt. Wenn ihr Anregungen, Empfehlungen oder Hinweise habt, schreibt sie doch an isa@seitenwaelzer.de oder wenn ihr jetzt neugierig geworden seid und mitschreiben wollt, dann an mitmachen@seitenwaelzer.de. Alternativ könnt ihr auch einfach weiter unten einen Kommentar verfassen. Ich freu mich auf eure Anregungen oder Rückmeldungen.
Das sonst immer versprochene Eis am Stiel fürs Lernen ist in der Zwischenzeit geschmolzen. Und wenn ihr jetzt doch welches wollt, müssen wir wohl gemeinsam unter die Spitze des Eisbergs tauchen.
Auch die wackelige Bootsmetapher über das Nachdenken ist letztendlich irgendwo auf halber Strecke zerschellt, ohne dass die Küstenwache etwas gemacht hat. Wäre nicht das erste Mal. Aber ich bin ja kein Rassist.
Zum Weiterlesen, Hören und Sehen
Wie versprochen hier noch ein paar erste Quellen zur Auseinandersetzung mit dem Thema, keine Sorge, meist sind die einzelnen Themen leicht erklärt:
Gianni Jovanovic ist Aktivist, Performer, Comedian und Autor. Er setzt sich gegen Antiziganismus ein und klärt darüber auf. Er spricht aus der Perspektive eines schwulen Roma, welcher zudem ein junger Großvater ist.
D’Angelo Wallace ist einer der wortstärksten YouTuber*innen, die in letzter Zeit berühmt und berüchtigt für ihr Nagel-auf-den-Kopf-treffen geworden sind, was die Analyse und Kritik sozialer, kultureller und medialer Phänomene angeht. Dabei betrachtet er gesellschaftliche Dynamiken kritisch und multiperspektivisch und zeigt auch die Verzahnungen von Diskriminerung und die Notwendigkeit eines intersektionell-queeren anti-rassistischen Feminismus auf.
Wenn wir bereits von intersektionell-queerfeministischem, anti-rassistischem und transinklusiven Creators reden, schaut euch mal bei Kat Blaque rein; sehr sehens- und hörenswert ist beispielsweise ihre Arbeit zum Thema Intersektionalität. Zudem ist sie auch eine talentierte Illustratorin und animiert mit viel Liebe zum Detail.
Wenn in euch noch immer Gottschalks Jimi Hendrix „Kostüm“ nachhallt, kann ich auch sehr diesen Videoessay von Khadija Mbowe empfehlen, der einerseits Minstrel beziehungsweise Blackfacing behandelt, allerdings darüber noch etwas hinausgeht und das spezifische Phänomen von digitalem Blackface betrachtet. Ebenfalls von Khadija ist dieser Videoessay über Colourism, also die Diskriminierung über verschiedene Helligkeiten und Dunkelheiten von Hautfarben innerhalb von Gruppen, die wegen ihrer Hautfarbe eh schon diskriminiert werden.
Wenn euch die Verschränkung einer nichtbinären Perspektive mit Faktoren wie Sexismus und Race interessiert, möchte ich euch zudem auch noch Shonalika Tilak auf YouTube empfehlen!
Auf Instagram kann ich euch @Antizig_info nahelegen, wenn es um das Bewusstmachen von Diskriminierung gegen Sinti und Roma geht.
Wo wir gerade schon bei Instagram sind. Eine Freundin, Christina S. Zhu von mir, mit der ich meinen Bachelor im Bereich Design gemacht habe, zeichnet unglaublich gute aufklärerische, insbesondere anti-rassistische Illustrationen und sowohl die Kontextualisierungen dieser Illustrationen als auch die Werke selbst möchte ich euch sehr nahelegen.
Und zuletzt möchte ich euch auch noch Menuja Jeyalavathas vorstellen. Sie ist eine begabte Rednerin und hat eine starke Persönlichkeit, die sich für Persönlichkeitsentwicklung und die tamilische Queercommunity im deutschsprachigen Raum einsetzt und aus Münster kommt. Kurz bevor Corona unseren Alltag prägte, durfte ich sie bei einer Veranstaltung in Münster, dem Diversity Fest 2019, kennenlernen und ich kann euch ihre aufklärerischen und empathischen Medieninhalte einfach nur empfehlen.
Das war euch alles zu viel Internet? Got you, babe. Wenn ihr lieber mit einem guten Buch starten möchtet, dann kann ich euch „Sprache und Sein“ von Kübra Gümüşay sehr ans Herz legen. Viel Spaß beim Lesen, Lernen und Wissen verbreiten und amplifizieren.
Dieser Artikel stellt nur die Meinung der AutorInnen dar und spiegelt nicht unbedingt die Ansichten der Redaktion von seitenwaelzer wider.
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Alex Schmiedel
Seit 2019 unterstütze ich das Team mit Illustrationen, Gestaltung, Artikeln und einer stets schwingenden intersektionaler Feminismus-Keule. Ursprünglich bin ich jedoch als Fan des Heldenpicknicks auf Seitenwaelzer gestoßen. Meinen Bachelor habe ich in Mediendesign in Münster absolviert und nun studiere ich Medienwissenschaft im Master in Bochum und arbeite im Bereich Mediendesign. Für Interactive Fiction, Podcasts, Animation und Musik schlägt mein Herz, ebenso wie für Aufklärung über diverse politische Themen, insbesondere Geschlechterdiversität und medizinische sowie antiableistische Gleichberechtigung.
Tatsächlich gelesen – The Hound of the Baskervilles (Sir Arthur Conan Doyle)
Unter 100 #05 – Filme vorgestellt in höchstens 99 Worten
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Seelenverwandte Ballerei – Review „Bad Boys: Ride or Die“
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