Kultur und Medien / Rezension

Schreiben über das Leben und Geschichte(n) – ein Einblick in Olivia Laings „To the River – a Journey beneath the Surface“

Die Idee der britischen Journalistin und Schriftstellerin Olivia Laing, vom Ursprung des Flusses Ouse in Sussex bis zu seiner Mündung in den Ärmelkanal – etwa 67 Kilometer – zu laufen, entspringt einer Lebenskrise der Autorin. In dem Buch To the River – a Journey beneath the Surface (2011) erzählt Laing von ihrer Wanderung
| Anna Westhofen |

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Natur fürs Schreiben

Die Idee der britischen Journalistin und Schriftstellerin Olivia Laing, vom Ursprung des Flusses Ouse in Sussex bis zu seiner Mündung in den Ärmelkanal – etwa 67 Kilometer – zu laufen, entspringt einer Lebenskrise der Autorin. In dem Buch To the River – a Journey beneath the Surface (2011) erzählt Laing von ihrer Wanderung – das Werk verweigert sich allerdings einer genauen Genrezuschreibung und vereint Nature und Life Writing mit historischer Dokumentation. To the River ist nicht bloß ein Memoire, das aus einer persönlichen Krisenzeit geboren ist und sich als Ode ans Alleinsein liest. Laings Buch geht weit über die Beschreibung von Naturerfahrung durch die Bewegung im landschaftlichen Raum hinaus: Wie sich der Wasserlauf des Flusses durch die Landschaft windet, lässt Laing auch ihre Gedanken mäandern, sodass ihre Nacherzählung der Reise eindrücklich die Ebenen meta-physischer und realer Erfahrung verbindet.

Virginia Woolf als literarische Konstante

Im März 1941 lief die britische Schriftstellerin Virginia Woolf – ihre Jackentaschen mit Steinen befüllt – in den Fluss Ouse und nahm sich das Leben. Dass Laing genau 60 Jahre nach Woolfs Tod entlang jenes Flusses läuft, in dem sich Englands bedeutendste Schriftstellerin des 20. Jahrhunderts ertränkt hat, ist kein Zufall. Das Buch ist eine persönliche Widmung an Woolf, die mit ihrem Mann Leonard ein Häuschen am Ufer des Flusses besaß.  Laing formt aus den zwei wichtigsten Entitäten in ihrem Buch, dem Fluss Ouse und der Schriftstellerin Woolf, eine stilistische Geschlossenheit: So konstant die Strömung des Flusses fließt, erscheint Woolf als treue Begleiterin auf Laings Reise. Im gesamten Verlauf des Buches nimmt Laing immer wieder Rückbezug auf die Biografie und das literarische Wirken Woolfs. Laing macht wunderbar deutlich, dass Woolf keineswegs eine geistlose, zunehmend der Wirklichkeit fremde Schriftstellerin war, die der Anstrengung psychischer Krankheit nicht mehr standhalten konnte und letztendlich den Freitod wählte. Stattdessen schafft es Laing in To the River, die besondere Schreibkunst der Schriftstellerin hervorzuheben sowie ihr literarisches Vermächtnis noch Jahrzehnte nach ihrem Tod gedeihen zu lassen.

Wo und wie wir Geschichten finden

In ihrem Werk verwebt Laing stets Gegenwartsmomente mit der historischen Vergangenheit des Flusses. So macht sie einerseits feinfühlige Beobachtungen der Naturlandschaft. In ihren ästhetischen Beschreibungen der Flora und Fauna am Flussufer erschließt sich, warum die Natur ein heilender Zufluchtsort ist. Und andererseits gräbt sich Laing im Verlauf des Buches durch die historischen Schichten der Landschaft, durch die sich der Fluss windet.

Eindrücklich ist beim Lesen des Werkes der regelmäßige Rekurs auf die Themen Leben und Tod. Obwohl – oder gerade weil – Laing sich in der Natur als dem Ursprung des Lebens bewegt, wird das Thema des Sterbens zum Leitmotiv ihrer Überlegungen. Warum sich Laing die Frage nach menschlicher Endlichkeit im gesamten Werk immer wieder stellt, mag zunächst offensichtlich sein: Für sie steht der Fluss Ouse im engen Zusammenhang mit Woolfs Suizid. Aber in der Liminalität Laings Überlegungen – dem Schwellenzustand zwischen Realität und Imagination – verbirgt sich eine viel größere gedankliche Dimension: Laing will in ihrem Buch wortwörtlich unter die Oberfläche tauchen und nimmt uns mit auf eine intellektuelle Reise.

In dem Zusammenhang verwundert es nicht, dass Laing über Assoziationen aus ihrer Kindheit schreibt, die während der Wanderung entlang des Flusses wach werden. Sie erinnert sich, wie sie mit ihrer Schwester in Ehrfurcht dem Hörspiel zu Kenneth Grahames Klassiker The Wind in the Willows (1908) lauscht und realisiert, wie prägend die Landschaftsbeschreibung in Grahames Werk für sie war. Tatsächlich wirkt der britische Autor neben Woolf als weitere literarische Konstante in To the River, denn Laings ursprüngliche Liebe für Flüsse fußt auf ihrer Kindheitserinnerung an Grahames Buch, in dem das Leben am Flussufer als narrativer Kern des Romans erscheint. Laing gibt einen faszinierenden Einblick in die Lebensgeschichte eines in sich gespaltenen Schriftstellers, der – ausgehend von traumatischen Erfahrungen in seiner Kindheit – nicht in eine Welt voller Erwachsener gehören wollte. Letztendlich erfahren wir, dass sich hinter dem erfolgreichen Kinderbuch die schmerzhafte Geschichte Grahames halb-blinden Sohns „Mouse“ verbirgt, der im Verlauf seiner Kindheits- und Jugendjahre zum sozialen Außenseiter und Störenfried wurde. Ursprünglich als aufmunternde Gute-Nacht-Geschichte konzipiert, erzählte Grahame seinem Sohn von den Abenteuern der tierischen Charaktere in The Wind in the Willows. Kurz vor seinem 20. Geburtstag nahm sich Grahames Sohn das Leben – und ließ seinen trauernden Vater zurück.

Auf ihrer Fußreise taucht Laing noch tiefer in ihr kindliches Bewusstsein ein. Sie entsinnt sich an anderer Stelle an einen Kindheitstraum, in dem sie in die Hölle verbannt wurde. So lesen wir schließlich über Hades, den Gott der Unterwelt und Toten, in der griechischen Mythologie und den fünf Flüssen – Styx, Lethe, Archeron, Phlegethon und Cocytus –, die in die griechische Unterwelt führen. In den darauffolgenden Seiten wiederum re-konzipiert Laing das Verständnis von Hölle im römischen Kaisertum anhand Dantes Inferno in der Göttlichen Komödie (1321), bis sie schließlich die biblische Konzeption von Satans Hölle umreißt.

Über die Biografie(n) eines Flusses

Laings Wanderung ist zudem stark an die faktische Historizität des Flusses Ouse gebunden: Sie greift bis in die Kreidezeit zurück, und wir erfahren vom ersten Fund fossiler Dinosaurierknochen im 19. Jahrhundert. Ganz in Flussnähe entdeckte der englische Arzt Gideon Mantell 1825 fossile Knochen des Iguanodons – historisch betrachtet ist es der erste nachweisbare Fund von Dinosaurierknochen. Ähnlich wie bei Grahame geht Laing auf die Tragik Mantells eigener Biografie ein: Es ist die Geschichte über einen historischen Fund, die in Wahrheit über das Dasein eines passionierten Geologen erzählt, der sich der wissenschaftlichen Welt ausgeschlossen fühlte. Nach einer Anreihung von Schicksalsschlägen nahm sich Mantell letztendlich mit einer Überdosis Opium das Leben. Im Nachhinein jedoch soll sich seine Forschungstheorie über die Existenz eines gigantischen pflanzenfressenden Reptils, dem Iguanodon, bewahrheiten und den Grundstein der wissenschaftlichen Forschung über Dinosaurier legen.

Laing geht noch tiefer in die Geschichtlichkeit des Flusses ein und schlägt den narrativen Bogen zur Schlacht von Lewes 1264, in der sich die Truppen von König Henry III und Simon de Montfort, dem Earl von Leicester, einen erbitterten Kampf boten. Nach der Schlacht wurden die Körper der gefallenen Ritter samt Kampfausrüstung und Pferden im Marschland, das den Fluss umgibt, gefunden. Während Laing durch das Gelände der Schlacht wandert, skizziert sie die Landschaft fast 800 Jahre später als stillen Zeitzeugen. Nicht nur hat die Schlacht ihren Spuren in der Landschaft hinterlassen – auch Englands nationale Zukunft wurde durch den Kampf zwischen König und Adelsopposition nachhaltig beeinflusst. In ihrer Nacherzählung der Schlacht schreibt Laing der Flusslandschaft eine bedeutende Funktion zu: In ihr ist das vergossene Blut der Ritter eingesickert und damit die gesamte Geschichtlichkeit der Schlacht von Lewes konserviert.

“I had the sense I’d fallen into some other world, adjacent to our own,” – oder: zur Symbolik in To the River

Die erzählerische Dichte und Exkurse in Laings Buch mögen zunächst verwirrend sein, aber sie stehen im Zeichen ihrer gesamten Reise: den Eintritt in Welten abseits der Realität, die sich in der Wasseroberfläche des Flusses spiegelt. Die Flucht in kindliche, mythologische und historisch-ferne Welten erklärt sich in Laings Beschreibung des Wassers als Element: Wasser ist geschickt; in der Natur ist es nicht an Grenzen gebunden, und es entschwindet in alle Ritzen und Schichten. Inspiriert von eben dieser Fertigkeit des Wassers zerfließen in Laings Buch die Sphären der Erinnerung an historische Vergangenheit, eigener Imagination und Wahrnehmung der Realität miteinander. Und dennoch beweist sich Laing über das ganze Buch hinweg als zuverlässige Erzählerin.

In To the River greift Laing in kompakter Form die Geschichte eines Flusses auf – sie vereinigt geschickt historische Begebenheit mit der Verworrenheit menschlicher Existenz. Und trotzdem vergisst sie nicht, die Komplexität ihrer eigenen Geschichte zu reflektieren. Es ist ein unglaublich reichhaltiges Buch, das man nicht weglegen mag, denn Laing zeigt uns so feinfühlig die Verbindung zwischen dem Schreiben über das Leben sowie der Natur auf und trägt uns gleichzeitig auf kluge Weise durch historische Ereignisse der Jahrtausende. Dabei spielt sie durchweg mit der Etymologie des Wortes Geschichte, die sie in ihrem Buch wortwörtlich als eine Schichtung historisch und personeller Ereignisse konzipiert. Letztes Jahr, zehn Jahre nach der Erstveröffentlichung, ist Laings Buch auch in deutscher Übersetzung mit dem Titel Zum Fluss: Eine Reise unter die Oberfläche im btb Verlag erschienen.   

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Anna Westhofen

Studiert in Münster Anglistik und Germanistik im Master of Education und interessiert sich für Literatur und Kultur. Wenn sie mal nicht in Büchern schmökert, ist sie draußen mit dem Rad unterwegs. Ansonsten aber gilt: Zum Kaffee gehört ein gutes Buch (oder andersrum?).

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