Kultur und Medien / Rezension

Tatsächlich gelesen: From Hell (Alan Moore & Eddie Campbell)

Zum Jahresende gibt es in diesem Jahr eine Besonderheit: Erstmals wird bei "Tatsächlich gelesen" ein Comic besprochen. Und was für einer.
| Dominik Schiffer |

Geschätzte Lesezeit: 5 Minuten

Dominik Schiffer | seitenwaelzer.de

Eigentlich bin ich im „Tatsächlich gelesen“-Duo nicht der Experte für das Medium Comic. Meine liebe Mitstreiterin Sandra hat sich nämlich im Rahmen ihrer Abschlussarbeit mit Comics und Graphic Novels beschäftigt und war sehr begeistert, als ich mit der Idee an sie herantrat, in Zukunft hin und wieder auch Klassiker aus diesem Genre zu besprechen. Da mir die Idee sehr kurzfristig kam, darf ich nun an ihrer statt den Auftakt machen.

Ich habe mich mit From Hell für einen Comic des britischen Autors Alan Moore entschieden, das in seinem Umfang, Thema und der Herangehensweise ziemlich gewagt ist, vielleicht aber gerade deshalb ein wichtiges Werk für die Akzeptanz von Comics als ernstzunehmende Literaturgattung darstellt. Ich nenne es absichtlich Comic, da Moore den Begriff Graphic Novel für eine sinnlose Überhöhung hält. Moore ist bekannt für seine kreativen Einfälle, die häufig Literaturgeschichte, Gesellschaftskritik und vor allem Okkultismus verarbeiten, wie beispielsweise bei Lost Girls, V wie Vendetta oder The League of Extraordinary Gentlemen. Sein Werk Watchmen wurde vom Time-Magazin als einziges Comicalbum auf die Liste der 100 besten Werke englischer Sprache zwischen 1923 und 2005 gesetzt. Zahlreiche seiner Werke wurden verfilmt – mal näher, mal weiter entfernt vom Original. From Hell könnten darum einige Kinofans durch die gleichnamige Verfilmung mit Johnny Depp, Robbie Coltrane, Heather Graham und Ian Holm kennen. Der Comic, eine Mischung aus Gesellschaftskritik, Mystery und Horror, erschien in 16 Teilen zwischen 1989 und 1998.

Dear Boss

London 1888. Albert Victor, ein Thronfolger von Königin Victoria, zeugt mit Annie Crook, einer einfachen Angestellten in einem Süßigkeitenladen, ein Kind und heiratet die Frau in einer geheimen Zeremonie. Als dies Ihrer Majestät bekannt wird, lässt sie Maßnahmen ergreifen: Ihrem Vertrauten, Leibarzt Sir William Gull, überlässt sie freie Hand bei der Auswahl seiner Mittel. Zunächst wird Crook durch eine experimentelle Operation ihres Verstandes beraubt und in ein Irrenhaus eingewiesen, das Kind ist nicht auffindbar. Doch dann melden sich mehrere Mitwisserinnen und Freundinnen von Annie Crook, die als Straßenprostituierte arbeiten und versuchen Geld zu erpressen. Da sie von einer Straßengang unter Druck gesetzt werden, benötigen sie dringend zehn Pfund. Wieder wird Gull beauftragt, sich der Sache anzunehmen, denn keinesfalls will man sich das Schweigen der Frauen erkaufen. Doch neben seiner Treue zur Krone hat Gull noch andere Motive… Und so geschehen bald äußerst blutige Morde in den Straßen des Whitechapel-Viertels, die den erfahrenen Inspektor Abberline im Dunkeln tappen lassen und den Namen „Jack the Ripper“ bis heute ins kollektive Gedächtnis tragen.

Saucy Jack

Anders als die Verfilmung ist die Comicvorlage kein Thriller. Der Mörder steht von vornherein fest. Moore orientiert sich dabei an der heute als sehr unwahrscheinlich angesehen Theorie von Stephen Knight, die Gull als Jack the Ripper zu identifizieren meint. Zwar werden die Ermittlungen von Inspektor Abberline sehr wohl beleuchtet, viel mehr Raum wird jedoch den Motiven des Täters sowie der Biografie seiner Opfer gewidmet. Eingewoben wird dies zusätzlich durch eine sehr detaillierte Beschreibung der Lebensumstände zu der Zeit, sowohl in den Zeichnungen als auch in der Handlung. Ein ganzes Kapitel beschäftigt sich mit einer Art okkultistischer Stadtrundfahrt durch das viktorianische London, wo aufgezeigt wird, wie die teils blutige Geschichte seit der Eroberung durch die Römer bis zur Gegenwart die Stadt prägen, insbesondere, welche heidnischen Überbleibsel aus alter Zeit in die Stadtplanung und die Architektur wichtiger Gebäude eingeflossen sind. Aber auch die Unterschiede zwischen der Oberschicht, speziell Mitgliedern der Geheimlogen und den erbärmlichen Zuständen in Armenvierteln wie Whitechapel, mit aller Hoffnungslosigkeit, dem Alkoholismus und der ständigen Angst vor Überfällen und Vergewaltigungen, werden thematisiert.

Hier liegt auch eine der Stärken des Mediums Comic: Gerade komplexe okkulte Symbole oder Bilder lassen sich durch Zeichnungen wesentlich besser begreiflich machen, als es beim rein geschriebenen Wort der Fall wäre. Aber auch die Szenen extremer Gewalt, wie die brutalen Ermordungen der Frauen, werden sehr plastisch dargestellt, jedoch ohne ihnen ihre Würde zu nehmen. Dafür ist der Zeichner Eddie Campbell besonders hervorzuheben, der dies mit sehr einfach anmutenden Schwarz-Weiß-Zeichnungen vollbringt. Manchmal scheinen die Panels nur wenig mehr als grobe Skizzen zu enthalten, andere wiederum wirken wie verwaschen und dann gibt es noch solche, die kaum erahnen lassen, was auf ihnen zu sehen ist. Beispielsweise der Schnitt eines Messers durch das Herz aus dem Blickwinkel der Aorta betrachtet.

From Hell

Für einen Comic ist dieses Werk schon ein ziemlicher Brocken und das meine ich zunächst rein physisch. Über 500 Seiten widmen Autor Moore und Zeichner Campbell der Geschichte. Je nach Version folgt noch ein ausführlicher Anhang mit Erläuterungen zu den einzelnen Seiten, nebst einem weiteren Comic The Gull Catchers, der sich mit dem Aufkommen der verschiedenen Theorien zur Identität des Mörders und wie sie einander gegenseitig beeinflusst haben, beschäftigt.

Das Ganze ist durchaus anspruchsvoll, insbesondere in der Originalsprache. Moore hat versucht, die Unterschiede der sozialen Schichten auch durch lautmalerische Nachahmung realer Dialekte nachzuahmen, sodass man sich manche Passagen laut vorlesen muss, um den Sinngehalt zu erfassen. Jedoch helfen auch hier die Zeichnungen. Je länger man in dem Comic verweilt, desto mehr begreift man, dass die Entscheidung für dieses Medium, für diese Geschichte ganz bewusst getroffen wurde und gerade auf seine Stärken gebaut wird.

Ich will aber nicht verschweigen, dass wirklich sehr viel Stoff gewälzt wird. Es ist schon beeindruckend, wie viel historisches, okkultes, kunsthistorisches und medizinisches Wissen zwischen den Bildern und Wörtern ausgebreitet wird. In den meisten Fällen gelingt es auch, dieses Wissen so aufzubereiten, dass auch Leser ohne Vorwissen den Anschluss nicht verlieren. Jedoch bedeutet das, dass dieses Werk Zeit und den Willen erfordert, sich darauf einzulassen. Nachdem ich die ersten Kapitel hinter mir hatte, hat es mich aber in einen wunderbaren Sog gezogen und ich habe es jeden Tag wieder zur Hand genommen, um diese Geschichte wie aus einer düsteren Parallelwelt weiterzulesen. Sicherlich ist From Hell nicht für jeden Geschmack geeignet, aber ganz bestimmt ein hervorragendes Beispiel, um jene, die über Comics nach wie vor die Nase rümpfen, zum Schweigen zu bringen.

Unterstützen

Wenn dir der Beitrag gefallen hat, würden wir uns über eine kleine Spende freuen.



Noch mehr Stories? Folge seitenwaelzer:

Dominik Schiffer

Hat Geschichte und Skandinavistik studiert und ist dennoch weiterhin wahnsinnig neugierig auf Texte aus allen Jahrhunderten. Verbringt außerdem bedenklich viel Zeit in der Küche, vor Filmen/Serien, auf der Yogamatte und mit allerlei „Nerdstuff“.

Bildcollage von Filmszenen© 2024 CHAPTER 2 – PATHE FILMS – M6 FILMS – FARGO FILMS | © Paramount Pictures | © 2025 Warner Bros. Entertainment Inc. All Rights Reserved.

Filme 2025 – Part 1

Sandra Hein | seitenwaelzer.de

Tatsächlich gelesen: Anne of Green Gables (Lucy Maud Montgomery)

Ares in neonfarbener Rüstung vor großem Fahrzeug© The Walt Disney Company

Pulsierende Techno-Party für die Augen – Review „Tron: Ares“

Dominik Schiffer | seitenwaelzer.de

Tatsächlich gelesen: Irish Fairy Tales and Folklore (W.B. Yeats)

Tags:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Wir benutzen Cookies, mit der Nutzung unserer Webseite erklärst du dich damit einverstanden. Hier gibt's weitere Infos.