Tatsächlich gelesen: Die kleine Hexe (Otfried Preußler)
Pünktlich zur Walpurgisnacht werfen wir einen Blick auf einen Klassiker, der das Hexenbild vieler Kinder verändert hat.
Geschätzte Lesezeit: 4 Minuten
Wenn man in ein gewisses Alter kommt, meinen Eltern manchmal plötzlich, dass „dein ganzes altes Zeug mal vom Dachboden verschwinden könnte“. Ich habe mich dagegen lange gesträubt, aber vor ein paar Wochen kam ich nicht mehr drumherum. Dabei sind mir, passend zu dieser Reihe, auch viele alte Kinderbücher in die Hände gefallen. Eines davon stach aus mehrerlei Gründen heraus: „Die kleine Hexe“. Nicht nur habe ich es vorgelesen bekommen und hatte auch die Kassetten (ja, so alt bin ich wirklich), es war außerdem die Erstausgabe von 1957. Ein Grund mehr, es sich zu einer Besprechung vorzunehmen.
Die Diskussion, die es um den Autor Otfried Preußler aktuell wegen seiner Mitgliedschaft in der Hitlerjugend und seine damaligen Berichte darüber gibt, soll hier nicht behandelt werden. Wer daran interessiert ist, kann sich unter anderem durch die Lektüre dieses Spiegel-Artikels ein eigenes Bild davon machen. Zu seiner Person und für das Verständnis seines Buchs bleibt festzuhalten, dass Preußler die Geschichte einst erfand, um seinen Kindern die Angst vor Hexen zu nehmen. Bis heute ist „Die kleine Hexe“ ein Klassiker der deutschen Kinderbuchliteratur und wird noch immer mit denselben Illustrationen aufgelegt wie vor beinahe 70 Jahren.
Keine gewöhnliche Hexe
„Es war einmal eine kleine Hexe, die war erst einhundertsiebenundzwanzig Jahre alt, und das ist ja für eine Hexe noch gar kein Alter. Sie wohnte in einem Hexenhaus, das stand einsam im tiefen Wald. Weil es nur einer kleinen Hexe gehörte, war auch das Hexenhaus nicht besonders groß. Der kleinen Hexe genügte es aber, sie hätte sich gar kein schöneres Hexenhaus wünschen können. Es hatte ein wundervoll windschiefes Dach, einen krummen Schornstein und klapprige Fensterläden. Hinten hinaus war ein Backofen angebaut. Der durfte nun einmal nicht fehlen. Ein Hexenhaus ohne Backofen wäre kein richtiges Hexenhaus.“
Otfried Preußler: Die kleine Hexe, Stuttgart 1957, S. 3f.
Die kleine Hexe schleicht sich, obwohl sie eigentlich noch zu jung ist, eines Nachts zum Hexensabbat auf dem Blocksberg. Dort fliegt ihre Tarnung jedoch auf und die Oberhexe verlangt von ihr, dass sie im nächsten Jahr nur mittanzen darf, wenn sie bis dahin eine gute Hexe geworden ist. Das Buch begleitet die kleine Hexe daraufhin durch das Hexenjahr bei ihrem Bemühen, allen Menschen mit ihren Zaubersprüchen nur noch Gutes zu tun, wie ihr Freund, der Rabe Abraxas, es ihr geraten hat. Am Ende wartet eine böse Überraschung vor dem Hexenrat auf sie. Mit ihrem Erfindungsreichtum haben die großen Hexen aber nicht gerechnet.
In seiner Sprache ist das Buch natürlich ein Produkt seiner Zeit. Manchem Leser mag das vielleicht etwas verstaubt vorkommen, aber für mich macht genau das den Reiz aus. Gerade durch heute nicht mehr gebräuchliche Wendungen und Begriffe wie Buckelkorb, Holzklauben und Gemischtwarenladen erhält das Buch seinen gemütlichen Märchencharakter. Die Geschichten, die die kleine Hexe erlebt, sind allesamt nach einem ähnlichen Muster gestrickt: Meist gibt es jemanden, der etwas Schlechtes tut und von der kleinen Hexe mehr oder weniger sanft auf den rechten Pfad zurückgeführt wird. Anderen hilft sie auch aus reinem Mitleid.
Alles lange überholt?
Man hat diesem Buch manchmal vorgeworfen, dass die Probleme darin stets nur durch Hexerei gelöst werden. Hier möchte ich einwenden: Das Buch nimmt die kindliche Weltsicht ernst und versucht ein Gefühl dafür zu vermitteln, was richtiges und was falsches Handeln ist. Außerdem geht es darum, die eigenen Kräfte, auch wenn sie eher mit Bösem assoziiert werden, in den Dienst einer guten Sache zu stellen. Gerade weil die kleine Hexe nur Gutes hext, wird sie von den großen Hexen verurteilt, doch sie beugt sich diesem Druck am Ende nicht und hält an dem fest, was sie für richtig befindet.
Natürlich: Die Episoden sind nicht wie eine Bibi Blocksberg-Folge, wo die Protagonistin lernen muss, dass der einfache Weg nicht immer der richtige ist. Preußler ging es vielmehr darum, dem jahrhundertealten schlechten Ruf von Hexen, die seinen Kindern Angst gemacht haben, einen positiven Gegenentwurf gegenüberzustellen. Auf diesem Fundament konnten spätere Kinderbuch- und Hörspielautorinnen und -autoren aufbauen.
Ob man das Kapitel „Wollen wir wetten?“, in dem sehr viele Worte vorkommen, die heute besser nicht mehr gesagt werden sollten (beispielsweise Worte, die mit N oder Z beginnen), seinen Kindern vorliest, bleibt jedem selbst überlassen. Die kleine Hexe ist aber abseits davon durch ihre wichtige Botschaft, die kunstvoll und kindgerecht verpackt ist, zu Recht ein Klassiker unter den Kinderbüchern. Darum wird sie auch keinesfalls einem Entrümpelungswahn zum Opfer fallen!
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Dominik Schiffer
Hat Geschichte und Skandinavistik studiert und ist dennoch weiterhin wahnsinnig neugierig auf Texte aus allen Jahrhunderten. Verbringt außerdem bedenklich viel Zeit in der Küche, vor Filmen/Serien, auf der Yogamatte und mit allerlei „Nerdstuff“.
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