Kultur und Medien / Rezension

Tatsächlich gelesen: The Wonderful Wizard of Oz (L. Frank Baum)

"Der Zauberer von Oz" gilt als Klassiker unter den amerikanischen Kinderbüchern und ist als modernes Märchen dennoch auch für Erwachsene ebenso lesenswert.
| Sandra Hein |

Geschätzte Lesezeit: 9 Minuten

Sandra Hein

Somewhere over the rainbow. Skies are blue. And the dreams that you dare to dream – really do come true...“ Judy Garland sang dieses Lied im gleichnamigen Film „Wizard of Oz“ (1939) und es bewirkt auch heute noch seinen Zauber: Es ruft zum Innehalten und Träumen auf. Zumindest erging es mir bisher so, wann immer ich den Song hörte. Ich war bislang leider nie zum Schauen des Films, geschweige denn zum Lesen des Buches gekommen. Zu Weihnachten und als Unterstützung der diesjährigen „Tatsächlich gelesen“-Kinderbuch-Reihe hat mir eine liebe Freundin die Schmuckausgabe des Klassikers geschenkt und damit endlich Abhilfe für meine kleine Bildungslücke geschaffen. Ich stürzte mich also voller Begeisterung auf das Buch, welches die renommierte Library of Congress – neben der British Library die größte Bibliothek weltweit – im Jahre 2000 als „America’s greatest and best-loved homegrown fairytale“ betitelte. Ob das Buch seinem vorauseilendem Ruf wohl gerecht wird, fragte ich mich. Nicht zuletzt wollte ich auch klären: Wie passen die allerseits bekannte Filmmusik und das Buch zusammen – versprüht das Buch selbst eine ebenso nostalgische Atmosphäre?

„Der Zauberer von Oz“ – ein Stück amerikanische Kultur

Zuerst zu den harten Fakten: Das Werk wurde im Jahre 1900 in den USA veröffentlicht. Der Autor, Lyman Frank Baum, hatte es in Anlehnung an europäische Standardmärchen wie solche der Gebrüder Grimm oder Hans Christian Andersens geschrieben, mit der Intention, ein passendes, amerikanisches Pendant mit modernem Schliff zu schaffen. Insbesondere die bildgewaltigen, farbigen Illustrationen von William W. Denslow steigerten damals massiv die Bekanntheit des Buches. Heutzutage wird es als eines der meist gelesenen Kinderbücher im englischsprachigen Raum angesehen. Es wurde in unzählige Sprachen sowie Dialekte übersetzt. Besonders die Cinema-Adaption von 1939 gilt als meisterhafte Umsetzung des Buches und ist wiederum selbst zu einem Klassiker der amerikanischen Populärkultur aufgestiegen.

Cmdrjameson | Wikimedia Commons Dorothy ist die Hauptfigur und tapfere Heldin des Romans.

„There is no place like home“ – Der Kern der Handlung

Zu Beginn wird das simple Leben der Hauptfigur, der kleinen Dorothy, in der amerikanischen Prärielandschaft Kansas beschrieben. Es erscheint sehr einsam, eintönig, farb- und freudlos. Dennoch scheint Dorothy das Leben dort zu lieben – sie ist dankbar, als Vollwaise von Pflegeeltern aufgenommen worden zu sein. Neben dem, liebevoll von ihr Tante Em und Onkel Henry genannten, vom Schicksal gezeichneten Paar verbringt sie ihre Zeit vor allem mit ihrem Hund Toto.

Dorothy ist mir ab Seite eins sympathisch; sie zeichnet sich als charakterstark und fröhlich aus und versucht ihre Freude auch auf die stets traurigen Eltern zu übertragen. Während bei einem der üblichen Wirbelstürme suchen alle im Keller Schutz. Leider rennt Toto hinaus und sie versucht, ihn zu retten. So verbleibt sie unglücklicherweise im abhebendem Haus, welches durch den Wind in ein Phantasieland getragen wird. Damit beginnt das Abenteuer. Sie erfährt dort, dass ihr Haus eine der vier Hexen des Landes begraben hat: die böse Hexe des Ostens, die bis dato dort tyrannisch geherrscht hatte. Ihr wird von den Einwohner, die nun befreit wurden, gedankt und auch die gute Hexe des Nordens erscheint. Dorothy ist sichtlich überfordert – bei so ungewöhnlichen magischen Wesen kein Wunder – und pocht darauf, zu erfahren, wie sie schnellstmöglich nach Hause kommen kann. Die Hexe hat selbst keine Antwort darauf und rät ihr jedoch, dem gelbem Ziegelsteinweg zur Smaragdstadt, der Hauptstadt des Landes, zu folgen. Dieser führe sie zu dem Zauberer von Oz, der allwissend sei. Als Geschenke erhält sie einen Kuss als Schutzzeichen auf der Stirn sowie die Silberschuhe der verstorbenen Hexe.

Auf ihrem Weg begegnet sie verschiedenen Wesen, denen sie hilft und derer sie sich annimmt. Sie vereinen sich zu einer Truppe an Kameraden, Weggefährte und werden schließlich Freunde, geeint in dem Willen, den Zauberer zu treffen und ihn um einen Gefallen zu bitten.

Julia Kadel / Unsplash Das Ziel der Gefährten ist die Hauptstadt des zauberhaften Landes Oz – die grüne Smaragdstadt!

Da ist zum einen die Vogelscheuche, welche sich Verstand wünscht. Dieser hilft Dorothy durch das Abnehmen vom Pfahl des Weizenfeldes, sich endlich frei zu bewegen. Die Vogelscheue erzählt ihr daraufhin von ihrem bisherigen Leben. Als Erwachsener bemerkt man, dass hier wichtige Themen wie Mobbing oder Einsamkeit kindgerecht verpackt und angesprochen werden: So erzählt sie anschaulich, wie die Krähen sich über ihr Aussehen lustig machten und sie deshalb dringend ein Gehirn benötige, um dazu zu gehören.

„I don’t mind my legs and arms and body being stuffed, because I cannot get hurt. If anyone treads on my toes or stitches a pin into me, it doesn’t matter, for I can’t feel it. But I do not want people to call me a fool and if my head stays stuffed with straw instead of with brains, as yours is, how am I ever to know anything?“

L. Frank Baum: The Wonderful Wizard of Oz, 2019, S. 23

Zum anderen wäre da der sogenannte Blechmann, den die beiden in der Bewegung des Holz-Hackens eingerostet vorfinden und mittels einer Ölkanne befreien. Er erzählt ihnen ebenfalls seine herzzerreißend-traurige Lebensgeschichte: Da er aus Metall besteht, wünscht er sich nichts sehnlicher als ein pochendes Herz, um Gefühle zu erfahren.

„’I shall take the heart‘, returned the Tin Woodman, ‚for brains do not make one happy and happiness is the best thing in the world.’“

L. Frank Baum: The Wonderful Wizard of Oz, 2019, S. 41

Etwas später erscheint ihnen im düsteren Wald ein Löwe, der versucht, Toto anzugreifen. Nachdem ihm Dorothy beherzt und resolut einen Klaps auf die Schnauze gegeben und ihm eine Standpauke gehalten hat, ist er peinlich berührt und verschämt. Er outet sich als Feigling und wünscht sich etwas mehr Mut und Courage, um sein Leben besser zu gestalten.

„For my life is simply unbearable without a bit of courage.“

L. Frank Baum: The Wonderful Wizard of Oz, 2019, S. 47
Mr. Absurd | Wikimedia Commons Der ängstliche Löwe als Illustration in der Erstausgabe.

In der Smaragdstadt angekommen, erscheint ihnen Oz endlich bei einzelnen Anhörungen. Damit aber ist aber kein Ende des Romans in Sicht. Das Abenteuer nimmt jetzt erst Fahrt auf, denn Oz will ihnen ihre Wünsche nur unter einer Bedingung erfüllen: Er fordert, dass einer von ihnen vorher die böse Hexe des Westens getötet haben müsse. Zugegeben wird mit Mord für ein Kinderbuch schon das zweite Mal nicht zimperlich umgegangen – und (soviel verrate ich) auch nicht das letzte Mal…

Was ist das Ziel? Der Weg ist das Ziel!

Trotz ihrer Entrüstung einigen sich die Freunde, sich gemeinsam auf den weiten Weg in den Westen zu machen, um die Hexe aufzusuchen. Auf dem Weg dorthin begegnen sie Feinden, die im Auftrag jener Hexe agieren, unter anderem geflügelte Affen, rasende Wölfe, Bienen oder Krähen.

Mit viel Kameradschaft, Witz, Feingefühl und einer gehörigen Portion Tapferkeit stellen sie sich ihren zahlreichen Gegenspielern. Indem sie gemeinsam Hürden wie tiefe Schluchten oder reißende Flüsse meistern, überwinden sie zudem ihre persönlichen „Schatten“.

Obwohl hier sicherlich die kritische Erwachsenenstimme aus mir spricht, würde ich behaupten wollen, dass auch Kindern die Botschaft hinter der Geschichte klar ist. Der Weg, den die Figuren – die Vogelscheuche, der Löwe, der Blechmann und Dorothy – bewältigen, agiert als eine Allegorie für die Reise auf dem Pfad des Lebens. Trotz der für Kinder eventuell furchteinflößenden Kreaturen, erscheint das Buch zu keiner Zeit wirklich düster oder gruselig.

An mancher Stelle hatte ich Angst, das Buch rutsche in dieselbe belehrende Kinder-Horror-Ecke wie der „Struwwelpeter“ ab, doch das war unbegründet. Das Kinderbuch behandelt nie dezidiert aggressive Kämpfe und/oder brutale Gewalt, stattdessen werden die meisten Probleme friedvoll geklärt. Es gibt auch keinen Fingerzeig-Moment, wo belehrende Moral seitens des Autors greifbar wäre. Den Kern des Buches bilden die Angstkonfrontationen der Hauptfiguren und vor allem die simple Problembewältigung durch die Aussprache ihrer tiefsten Ängste oder Wünsche innerhalb der sicheren Atmosphäre der einfühlsamen Gruppe.

Auch philosophische Debatten, zum Beispiel, ob Herz oder Verstand wichtiger im Leben sei, werden angekratzt. Interessant ist, dass zum Beispiel keinerlei Auflösung der aufgeworfenen Fragen stattfindet – anders als bei etlichen anderen Kinderbüchern oder Märchen, wo konkrete Antworten durch den allwissenden Erzähler geboten werden. Dies bleibt den (kindlichen) Lesenden hier erfrischenderweise selbst überlassen. Ich könnte mir beim abendlichen Vorlesen gut vorstellen, dass Kinder so offener auf die gebotenen Fragestellungen eingehen und ihre eigenen Gedanken entwickeln können.

„There seems to be an inborn love of stories in child minds“ – The New York Times am 8. September 1900

Im Nachgang bleibt mir vom Buch eine hoffnungsvolle, kraftvolle Lektion hängen: Dass alles, was man vermeintlich bei anderen sucht – wie Liebe, Kraft, Mut oder Willensstärke – bereits in einem steckt und dass die Größe derer, die einem Böses wollen, rein durch Illusion kreiert wird und diese daher nur vermeintlich mächtig sind. Ich halte hier das Ende der Geschichte offen, weil ich das Werk wirklich jedem ans Herz legen möchte, der ein leichtes Kinderbuch lesen möchte und während des Lesens so viel mehr finden wird. Die Antwort auf offen gebliebene Fragen wie ‚Wird Dorothy in ihre Heimat zurückkehren?‘, ‚Wird jeder der Truppe seine Bestimmung finden?‘ oder ‚Müssen sie dafür tatsächlich jemanden töten?‘ finden sich im Buch.

Zum Abschluss noch ein paar Details: Nach der Veröffentlichung erhielt der Autor Baum bereits viel Lob durch seinen Kollegen Mark Twain und Kritiken, die oftmals Vergleiche zu Lewis Carolls „Alice im Wunderland“ zogen. 14 Tage nach der Veröffentlichung wurden bereits 5.000 Exemplare verkauft. Das Buch blieb jedoch nie kritiklos – man bemängelte die sehr einfach gehaltenen Sprache ohne jegliche Schnörkel, geschrieben in größtenteils einfachen Hauptsätzen.

“No thief, however skillful, can rob one of knowledge, and that is why knowledge is the best and safest treasure to acquire” – L. Frank Baum

Nichtsdestotrotz bleibt mein Fazit: Das Buch hat mich nicht enttäuscht – ich war hellauf begeistert!
Gerade in der Simplizität der Sätze, die trotzdem so viel Tiefgang haben, sehe ich die große Stärke des Buches. Spannend sind für Erwachsene eventuell auch die heutigen Untersuchungen der Literaturwissenschaft, die oftmals Analogien zu wirtschaftlichen und politischen Umständen der USA der Zeit um 1900 ziehen – ob Baum tatsächliche eine versteckte Bedeutung beim Verfassen intendierte, bleibt aber ungeklärt.

„No matter how dreary and grey our homes are, we people of flesh and blood would rather live there [where our home country is] than in any other country, be it ever so beautiful. There is no place like home“

L. Frank Baum: The Wonderful Wizard of Oz, 2019, S. 27

Alltägliche Sehnsüchte und Probleme, die jeden, egal welcher Altersklasse, ansprechen und umtreiben – beispielsweise der Sehnsucht nach Zugehörigkeit, der Suche nach echten Freunden, dem Sinn hinter Lebensumständen, dem Drang nach Anerkennung oder einfach das Bedürfnis, gesehen und gehört zu werden – werden wundervoll in diesem modernen Kindermärchen verpackt. Kind- und erwachsenengerecht wird vermittelt, dass Zuversicht und Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten wichtige Tugenden sind und der stärkste Feind sich oftmals als man selbst entpuppt.

„’But how about my courage?‘, asked the Lion anxiously. ‚You have plenty of courage, I am sure‘, answered Oz. ‚All you need is confidence in yourself. There is no living thing that is not afraid when it face danger. True courage is in facing danger when you are afraid and that kind of courage you have it plenty.’“

L. Frank Baum: The Wonderful Wizard of Oz, 2019, S. 139

In Rückbesinnung auf den zu Anfang angesprochenen Song, kann ich für mich persönlich urteilen: das Buch lässt einen vielleicht beim Lesen ebenso in Träume versinken wie der Song. Man erwacht jedoch – anders als nach dem Lied – nach Beenden des Märchens optimistisch auf. Deshalb mein Aufruf: Lest das Buch und träumt euch mit den folgenden Zeilen weg – am Ende fühlt man sich gestärkter, versprochen! „Someday I’ll wish upon a star. And wake up where the clouds are far behind me. Where troubles melt like lemon drops…

Tipp: Wer Spaß an weiterer Recherche hat, dem empfehle ich die angesprochene Filmadaption mit Judy Garland in der Rolle der Dorothy, welche für sechs Academy Awards nominiert wurde oder aber die klamaukige Version der Muppets (The Muppets’ Wonderful Wizard of Oz) von 2005 zu schauen.

Quellen und weitere interessante Hintergrundfakten in:

  1. L. Frank Baum: The Wonderful Wizard of Oz, 1900 (Penguin Edition 2019)
  2. Library of Congress: The Wizard of Oz. An American Fairy Tale, 2021, S. 2000
  3. TED-Ed Folge „Does the wonderful wizard of Oz have a hidden message“ von David P. Barker

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Sandra Hein

Liebt und lebt ihr Studium der Kunstgeschichte und Klassischen Archäologie samt all seinen Klischees. Dazu gehört selbstverständlich Frida Kahlo und Vincent van Gogh als seine besten Freunde zu betrachten und sich in Pompeji ohne Stadtplan problemlos zurechtzufinden ;) Als kleiner Bücherdrache ernährt sie sich hauptsächlich von Abenteuern aus den Jules-Verne-Romanen oder alten schwarz-Weiß-Krimis und möchte als neue olympischen Sportart einen Besuchs-Marathon durch alle europäischen Museen vorschlagen. Sollte der Traumjob Kuratorin nicht in Erfüllung gehen, sieht sie sich als Geist in einem schottischen Castle. Freund*innen munkeln, dass sie wahrscheinlich mehr schwarzen Ostfriesentee als Blut im Körper besitzt…

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