Tatsächlich gelesen: Naokos Lächeln (Haruki Murakami)
Auch ohne Special dieses Jahr: mit Murakami soll doch ein zur Jahreszeit passender Beitrag eines Nobelpreisanwärters besprochen werden.
Geschätzte Lesezeit: 5 Minuten
Zwar ist der Tag der psychischen Gesundheit schon vorbei, doch kann man über psychische Krankheiten eigentlich nicht oft genug sprechen. Heutzutage gibt es viele, die entweder selber an einer Störung leiden, oder jemanden kennen, der es tut (hier gibt es einen Bericht von einem von uns dazu). Zwar ist das Thema schon lange in der Literatur angekommen (man denke beispielsweise an König Macbeth bei Shakespeare), aber gerade mit dem Aufstieg der Psychologie als Wissenschaft ab 1950 ist es immer mehr in den Vordergrund gerückt. Der bereits häufig für den Literaturnobelpreis nominierte Japaner Haruki Murakami widmet sich in seinem 1987 erschienenen Roman Naokos Lächeln dem Thema auf sehr eindrückliche Weise.
Untertitel: „Nur eine Liebesgeschichte“
Im Japan zur Zeit der Studierendenunruhen studiert der junge Tōru Watanabe Theaterwissenschaften. Er kann weder der Studierendenbewegung noch seinem Studienfach etwas abgewinnen, geht lustlos zu seinen Vorlesungen und bleibt vor allem für sich. Das ändert sich, als sein bester Freund Kisuki Selbstmord begeht, ohne dass es dafür Anzeichen gegeben hätte. Tōru trifft sich daraufhin öfter mit Kisukis Freundin Naoko, die er auch seit langer Zeit kennt. Beide kommen einander näher, auch wenn sie kaum etwas zu reden haben. Nachdem sie schließlich an Naokos 20. Geburtstag miteinander geschlafen haben, verschwindet diese. Tōru sucht nach ihr und findet heraus, dass sie sich aufgrund psychischer Probleme in ein Sanatorium hat einweisen lassen. Beide beginnen, einander Briefe zu schreiben, wobei Naoko immer seltener antwortet. Tōru sucht Anschluss bei einem anderen Kommilitonen, mit dessen Hilfe er sich in bedeutungslose One-Night-Stands stürzt, während er in seinem Studium nicht mehr als körperlich anwesend ist. Schließlich lernt er eines Tages die offenherzige Midori kennen. Auch wenn sich eine enge Freundschaft zwischen beiden entwickelt, die auf eine Beziehung hinauslaufen könnte, kann er Naoko nicht vergessen. Doch durch deren Briefe und während seiner Besuche im Sanatorium merkt er, dass Naoko schon vor Kisukis Suizid eine schwere Last auf den Schultern getragen hat, und dass sich ihr Zustand, entgegen ihrer Hoffnung, immer weiter verschlimmert …
»Eines Tages hast du es überstanden. Und dann können wir alles noch einmal überdenken und neu anfangen. Vielleicht brauche ich dann sogar deine Hilfe. Wir gehen doch mit unserem Leben nicht um wie Buchhalter. Wenn du mich brauchst, dann stehe ich dir eben zur Verfügung. Verstehst du? Warum siehst du das so eng? Du mußt entspannter sein. Laß dich gehen, ich fange dich auf. Du bist so verkrampft, daß du natürlich immer das Schlimmste befürchtest. Entspann dich dochmal, dann geht’s dir auch gleich besser.«
»Was redest du da eigentlich?« Naokos Stimme klang auf einmal rauh.
An ihrem Ton erkannte ich, daß ich wohl etwas Falsches gesagt hatte.
»Warum sagst du so was?« Naoko starrte auf die Erde zu ihren Füßen. »›Alles wird leichter, wenn man sich entspannt.‹ Das weiß ich selbst. Und es nützt mir überhaupt nichts, wenn du mir das sagst. Wenn ich mich entspanne, zerfalle ich in tausend Partikel. Mit diesem Gefühl lebe ich schon lange, damit muß ich weiterleben. Wenn ich mich einmal gehenließe, fände ich keinen Weg mehr zurück. Ich würde zerfallen, und die Fragmente würden in alle Winde verstreut. Warum begreifst du das nicht? Wie kannst du dich um mich kümmern wollen, wenn du nicht einmal das begreifst?«
Ich schwieg.
»Ich bin viel verstörter, als du denkst. Düster, kalt und verstört … Warum hast du damals überhaupt mit mir geschlafen? Warum hast du mich nicht in Ruhe gelassen?«
Murakami, Haruki: Naokos Lächeln – Nur eine Liebesgeschichte, München 2003, 32. Auflage, S.12
Ein Buch für stille Stunden
Das Buch hat einen sehr stillen, melancholischen Tonfall. Der Ich-Erzähler Tōru berichtet in der Rückschau, wobei er nur selten in der Ereignisreihenfolge hin und her springt. Insbesondere bei den Beschreibungen von Sexualität fiel mir beim ersten Lesen auf, dass es sich hier lediglich um kalt anmutende Tatsachenbeschreibungen handelt, Hinweise auf die Emotionen der beteiligten Figuren fehlen größtenteils. Erst fragte ich mich, ob dies vielleicht in der japanischen Literaturtradition so üblich ist, aber dann habe ich bemerkt, dass es zu der Stimmung Tōrus, sowohl bezogen auf die Rahmenhandlung als auch auf die beschriebene Situation, sehr gut passt. Seine Emotionen sind aus verschiedenen Gründen abgestumpft.
Darüber hinaus schreibt Murakami in einem sehr angenehmen Stil, der trotz seiner Melancholie auch sehr schöne Metaphern und Beschreibungen enthält. Auch das legendäre Wissen des Autors über Musik kommt hier zur Geltung, jeder Titel und jede zitierte Liedzeile ist ganz bewusst zu der Handlung ausgewählt. Beides führt zu einem Gefühl, als würde man durch eine Galerie von schönen, aber traurigen Gemälden gehen, genau wie Tōru in der Rahmenhandlung seine Erinnerungen empfindet.
Fazit
Murakami gelingt es über das ganze Buch hinweg eindrücklich, die Dynamik zwischen den Figuren zu beschreiben. In Naokos Briefen zeigt er nicht nur ihre immer größer werdende Verzweiflung über ihre Rückfälle, er zeigt auch ihre Schuldgefühle Tōru gegenüber. Der seinerseits ist sowohl von den gesellschaftlichen Umbrüchen der Zeit, seinem eigenen Wunsch nach Persönlichkeitsentfaltung sowie seiner Liebe zu Naoko und Midori in einem konstanten Spannungsfeld.
Gerade diese Dynamik macht dieses Buch so intensiv. Murakami schafft es nicht nur, die empfundene Hilflosigkeit einer psychisch Kranken darzustellen, sondern auch, wie diese Erkrankung Dritte in eine ähnliche Form der Hilflosigkeit treibt und ihr Leben nachhaltig beeinflusst. Tōru merkt mehr und mehr, dass es über seine Kraft geht, Naoko selbst zu helfen, während Naoko ihm gegenüber immer wieder Schuldgefühle empfindet, da sie ihn, in ihren Augen, mit ihrer Krankheit daran hindert, sein Leben zu genießen.
Wer beispielsweise jemanden mit einer schweren Depression kennt, wird in diesem Buch viele Parallelen entdecken. Es ist ganz sicher eine Lektüre, für die man sich innerlich wappnen sollte, aber auch ein mit großem Feingefühl geschriebenes Werk, das einen eindringlichen Einblick in ein Tabuthema unserer Gesellschaft bietet.
Das alles kommt dir irgendwie bekannt vor? Du hast mit der Depression eines Angehörigen zu kämpfen oder brauchst selbst Hilfe? In Münster finden Hilfesuchende kompetente Unterstützung durch ein breites Netz an psychiatrischen und psycho-sozialen Einrichtungen. Eine erste Anlaufstelle kann zum Beispiel die Uni Münster sein, genauer gesagt die Psychologische Beratung der ZSB oder die sogenannte Psychotherapie-Ambulanz. Auch der Sozialpsychiatrischer Dienst der Stadt Münster kann unter den Nummern 0251-4925360 (Erwachsene) und 0251-4925352 (Kinder und Jugendliche) weiterhelfen. Wer lieber anonym bleiben möchte, kann die Krisenhilfe Münster, das Info-Telefon der Stiftung Deutsche Depressionshilfe oder die „Nummer gegen Kummer“ anrufen. Gerade für Kinder und Jugendliche ist auch der sogenannte „Krisenchat“ interessant. Um junge Menschen in Not effektiv erreichen und unterstützen zu können, wird hier das am häufigsten genutzte Kommunikationstool der Zielgruppe verwendet. Alle Angebote sind selbstverständlich kostenlos, des Weiteren unterliegen die dort tätigen Berater*innen aus den Bereichen Psychologie, Psychotherapie oder Sozialpädagogik der Schweigepflicht.
Unterstützen
Wenn dir der Beitrag gefallen hat, würden wir uns über eine kleine Spende freuen.
Noch mehr Stories? Folge seitenwaelzer:
Dominik Schiffer
Hat Geschichte und Skandinavistik studiert und ist dennoch weiterhin wahnsinnig neugierig auf Texte aus allen Jahrhunderten. Verbringt außerdem bedenklich viel Zeit in der Küche, vor Filmen/Serien, auf der Yogamatte und mit allerlei „Nerdstuff“.
Bookstock-Festival für alle Buchliebhaberinnen und -liebhaber
Tatsächlich gelesen – The Hound of the Baskervilles (Sir Arthur Conan Doyle)
Unter 100 #05 – Filme vorgestellt in höchstens 99 Worten
„Der Schriftsteller ist der natürliche Feind der Diktatur“ – Zum Tod von Ismail Kadare
Tags: DepressionDreiecksbeziehungjapanKlassikerLiebeLiteraturMurakamipsychische KrankheitStörungStudentenbewegung