Kultur und Medien / Rezension

Tatsächlich gelesen: Hundert Jahre Einsamkeit (Gabriel García Márquez)

Márquez schildert die Geschichte Lateinamerikas am Beispiel der Familie Buendía und verwebt beides zusätzlich mit einer Bibel-Allegorie.
| Dominik Schiffer |

Geschätzte Lesezeit: 3 Minuten

Fernanda Fierro | Unsplash

„Viele Jahre später, vor dem Erschießungskommando, sollte sich Oberst Aureliano Buendía an jenen fernen Nachmittag erinnern, als sein Vater ihn mitnahm, das Eis kennenzulernen.“

MÁRQUEZ, Gabriel García: Hundert Jahre Einsamkeit, Buenos Aires 1967, Kapitel 1

In unserer kleinen Nobelpreisträger-Trilogie (bisher Die Islandglocke und Herr der Fliegen) wagen wir zum diesjährigen Abschluss einen Sprung über den Atlantik zu einem Text, der in seinem Heimatland Kolumbien ebenso viel Achtung genießt wie die Bibel. Normalerweise enthalte ich mich der Wertung eines Werkes bis zum Ende des Artikels, aber speziell hier möchte ich eine Ausnahme machen. Ich denke, für das Verständnis der folgenden Zeilen ist es unerlässlich, festzuhalten, dass ich dieses Buch für das beste halte, das ich je gelesen habe. Ich habe seine Besprechung schon lange auf meiner Liste, aber ich hatte nie das Gefühl, Gabriel García Márquez gerecht werden zu können. Mal sehen, ob es jetzt so weit ist.

Der Autor schildert die Geschichte Lateinamerikas am Beispiel der fiktiven Familie Buendía und verwebt beides zusätzlich mit einer Bibel-Allegorie. Die Figuren, beginnend beim Stammvater José Arcadio Buendía und seiner Frau Ùrsula Iguaran, gründen im tiefen Urwald das fiktive Dorf Macondo und erleben dort Bürgerkriege, den Einzug des Kapitalismus und apokalyptischen Naturkatastrophen. Den im Plauderton vorgebrachten Anekdoten fehlt es dabei nicht an einer gehörigen Portion Fantasie und Übertreibungen, womit man dieses 1967 unter dem Titel Cien años de soledad erschienene Werk von Márquez (1927-2014, Nobelpreis 1982) dem Magischen Realismus zuordnen kann: Figuren werden zu Geistern, Zauberer treten auf, man beschäftigt sich mit Alchemie und auch die abergläubischen Vorstellungen der Dorfbewohner scheinen einen wahren Kern zu enthalten. Gleichzeitig hält aber auch der Fortschritt nach und nach Einzug in Macondo, was ein interessantes und teilweise urkomisches Spannungsfeld ergibt.

„Plötzlich, ohne jede Ankündigung, fand seine fieberhafte Aktivität ein Ende und machte einer Art Staunen Platz. Mehrere Tage lang war er wie unter einem Bann, murmelte unablässig eine Litanei erstaunlicher Mutmaßungen vor sich hin, ohne den eigenen Folgerungen Glauben zu schenken. Endlich, an einem Dienstag im September, brach mit einem Schlag alles, was ihn quälte, aus ihm heraus. Die Kinder sollten sich für den Rest ihres Lebens an den feierlich erhabenen Ernst erinnern, mit dem ihr Vater sich an das Kopfende des Tisches setzte und ihnen, vor Fieber zitternd, gezeichnet von langen Nachtwachen und einer unerbittlichen Fantasie, seine Entdeckung offenbarte: ‚Die Erde ist rund wie eine Orange.

Ùrsula verlor die Geduld. ‚Wenn du wahnsinnig werden musst, dann bitte allein‘, schrie sie.“

MÁRQUEZ, Gabriel García: Hundert Jahre Einsamkeit, Buenos Aires 1967, Kapitel 1

Das Lesegefühl kann man nur mit dem Wort Rausch beschreiben. Das Buch wirkt wie die nostalgische Erzählung eines alten Menschen, greift immer wieder vor oder zurück, verschwimmt und verwirrt oft absichtlich. So tragen beispielsweise die meisten Abkömmlinge der Familie sehr ähnliche oder sogar identische Namen. Dennoch ist das Buch nicht anstrengend oder gar langweilig. Ich habe während des Lesens häufig sehr gelacht, hatte gleichzeitig aber auch stets das Gefühl, in großer Literatur zu stecken.

Man muss sich auf den Erzählton einlassen. „Hundert Jahre Einsamkeit“ ist ein Buch, das einen mitreißen möchte und dagegen darf man sich nicht wehren. Dann entfaltet es seinen Zauber mit einer ungeheuren Wucht. So atemlos die Geschichte auch erzählt ist, sie ist weder gehetzt noch von substanzloser Pracht. Vermutlich wird es die Leserschaft spalten, aber ich war so begeistert wie noch nie zuvor und wollte es gleich noch einmal lesen. Vielleicht ist das auch ein Zeichen wirklich großer Kunst: Dass jemand die Hochachtung einer bestimmten Kultur für ein Werk problemlos nachvollziehen kann, ohne ihr selbst anzugehören. Unbedingt lesen!

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Dominik Schiffer

Hat Geschichte und Skandinavistik studiert und ist dennoch weiterhin wahnsinnig neugierig auf Texte aus allen Jahrhunderten. Verbringt außerdem bedenklich viel Zeit in der Küche, vor Filmen/Serien, auf der Yogamatte und mit allerlei „Nerdstuff“.

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