Tatsächlich gelesen: Fünf Freunde oder das Phänomen der Nostalgie (Enid Blyton)
Zwischen altbackenen Moralvorstellungen und brandaktuellen Kontroversen: Nostalgische Kinderbücher sind auch heute noch absolut lesenswert.
Geschätzte Lesezeit: 9 Minuten
Wenn die Tage kälter und keksreicher werden, lässt man den Abend bei einem entspannenden Film oder Roman ausklingen. Nostalgisch gesonnen fällt die Wahl – wir kennen das alle – doch meist auf den sogenannten guten Klassiker: Ungeschlagen und nie enttäuschend bezaubert er uns stets aufs Neue mit seiner eigentlich altbekannten Geschichte.
Offen gestanden, wollte ich es mir für die letzte Ausgabe des Tatsächlich gelesen-Kinderbuch-Specials in diesem Jahr leicht machen und wählte deshalb den ersten Band der „Fünf Freunde“. Die Reihe hatte ich als Kind innig geliebt und in bester Erinnerung – so dachte ich zumindest…
Was eine grandiose Fehleinschätzung! Von allen Rezensionen ging mir diese am schwersten von der Hand. In den kommenden Zeilen lest ihr, wie uns unsere Erinnerung täuschen kann und warum es gar nicht schlimm wäre, wenn wir alle unsere Klassiker von ihrem nostalgischen Mantel befreien und aufs Neue betrachten würden: Ich verspreche euch, es wird abenteuerlich.
Vorstellungsrunde der „Famous Five“ aus Großbritannien
Auch wenn durch die vielen Film-, Fernseh- oder Kinoadaptionen, durch die bekannten Hörspiele des Europa-Verlages oder tatsächlich durch das Lesen der Romane selbst sehr vielen die Abenteuer um die Fünf Freunde ein Begriff sind, möchte ich ein paar Details rund um beziehungsweise über die Reihe als auffrischende Gedächntnisstütze vorweg stellen.
Die „Famous Five“, wie sie im britischen Original heißen, wurden von Enid Blyton (1897-1968) verfasst und sind seit ihrem erstmaligem Erscheinen 1942 in viele Sprachen übersetzt worden. Neben der ebenfalls von Blyton kreierten Reihe „Hanni & Nanni“ gehören sie zum Kanon der britischen Kinderbuchklassiker. Während die Autorin die Fünf Freunde bis 1967 auf 22 Abenteuer schickte, wird die Reihe heute durch diverse Autor*innen in verschiedenen Ländern, wie unter anderem Brigitte Blobel und Sarah Bosse für den deutschsprachigen Raum, weitergeführt. So reißt mit dem im Europa-Hörspielverlag erschienenen 162. Abenteuer der Bekanntheitsgrad weiterhin nicht ab.
Das einleitende Titellied der Europa-Produktion besingt die weltberühmten Fünf wie folgt:
„Wir sind die fünf Freunde / Julian und Dick, Anne und George / und Timmy der Hund / Wir sind die besten Freunde, ja! / Wir halten dicht und zusammen, was immer auch kommt / Wenn’s spannend wird, dann sind wir dabei / Julian, Dick, Anne und George und Timmy der Hund, ja / Uns locken Abenteuer und wir durchforschen alte Gemäuer / Burgen und Höhlen und manchen unterirdischen Gang. / Kein Geheimnis gibt’s auf der Welt / die uns fünf Freunden so gefällt! / Wir sind jedem Rätsel auf der Spur / Wir lösen sie, glaubt mir …nur!“
Gesungen von Carsten Bohn gesungen. Die Rechte liegen beim Verlag Europa.
Von Ruinen, Schatzräubern und guten Freunden – Abenteuer pur?!
Während es draußen schon wieder herbsttypisch nieselte, begab ich mich im heimatlichen Kinderzimmer auf die Suche nach meinem „Schatz“ aus Kindheitstagen. In zweiter Reihe versteckten sie sich: Die sieben Fünf Freunde-Bände. Angesprochen vom Buchrückenmotiv (siehe Bild), schnappte ich mir den ersten Band und begann zu lesen. Ich staunte nicht schlecht: In meiner Erinnerung waren die Romane freundliche, sonnige Kinderabenteuer gewesen, doch was ich jetzt mit anderen, erwachseneren Augen las, zeichnete mir vor meinem inneren Auge ein ganz anderes Bild…
Vielleicht kurz zum groben Inhalt der Romane: Der erste Band der Reihe nennt sich „Fünf Freunde und die Schatzinsel“ („Five on a Treasure Island“). Zu Beginn lernt der Leser beziehungsweise die Leserin die drei Geschwister Anne, George und Dick (eigentlich Richard) kennen. Da die Eltern in jenem Sommer einmal ohne die Kinder in den Urlaub fahren wollen, werden sie notgedrungen zum Bruder ihres Vaters, Onkel Quentin, und seiner Ehefrau, Tante Fanny, geschickt. Die beiden haben eine, den dreien etwa gleichaltrige, Tochter im Alter von zehn Jahren. Doch statt eines herzlichen Willkommens vonseiten der Cousine erwartet sie dort ein eigenbrötlerisches Mädchen, dass liebend gerne ein Junge sein würde und darum auch statt ihres weiblichen Namens Georgina lediglich auf George hört.
Was sich zunächst als inkompatibel für die eher konservativ-normativ erzogenen Kinder aus dem Internat anhört, entwickelt sich schnell zu einer dynamischen, unzertrennlichen und eingeschworenen Gruppe. Stets dabei: der kleine Timmy, ein Straßenhund. Neugierig und aufgeweckt interessieren sich die Fünf für alles, was aus Kinderperspektive als unheimlich gilt – und was sie letztlich immer aufzuklären versuchen. Im ersten Band legen sie einer Räuberbande das Handwerk; in den nächsten Bänden finden sie antike Schätze, retten Tier- und Menschenleben oder decken Entführungen auf. Sowohl die generellen Geschichten – obgleich mit einfachen Sätzen und Worten geschildert – als auch die nebensächlichen sozio-kulturhistorischen Bezüge zu Großbritannien begeistern mich jedes Mal wieder aufs Neue. Man lernt als Leser*in in kleinen Lesehappen viel über archäologische Funde, die geologischen Begebenheiten der rauen Felsenküste Südenglands und kulturelle Geflogenheiten. Für jeden England-Fan ist die Reihe deshalb ein Muss!
„Kritik von Leuten über zwölf interessiert mich überhaupt nicht!“ – Sollte sie aber!
Warum also die eingangs geäußerte Kritik, dass mich das Buch dennoch an manchen Stellen geradezu schockierte? Als Kind habe ich viele Aussagen der im Buch agierenden älteren Personen hingenommen, die ich jetzt als Erwachsene deutlich distanzierter betrachte. Ich würde behaupten, dass das auch an dem gesellschaftlichen Wandel heutzutage liegt, bestimmte Themen überhaupt anzusprechen und zu diskutieren – für viele gesellschaftliche Sachverhalte ist beziehungsweise wird man heute erst sensibilisiert. Als ich die Bücher erstmalig las (circa 2010), waren einige der Gegebenheiten im Buch vielfach sogar noch gesellschaftliche Norm. Manche Tabu-Themen begann man dann erst öffentlich aufzuarbeiten.
Um mal ein paar Beispiele zu nennen: Die Kinder werden ohne große Umschweife zwei – für sie – beinahe wildfremden Verwandten anvertraut; der Vater selbst sagt gleich zu Beginn, er habe seinen Bruder lange nicht mehr gesehen. Diese Unbedachtheit würde man, würde ich meinen, heutzutage geradezu Leichtsinn nennen: Obgleich die Kinder bei der Aussicht auf einen Strandurlaub frohlocken, scheint das Kindeswohl nicht im Vordergrund zu stehen. Die Mutter tätigt gar die Aussage, sie seien ja jetzt auch alt genug (circa 10 Jahre alt), vollkommen auf sich selbst zu achten. Ich denke, man ist damals schneller für erwachsen befunden worden als man es heute wird, dennoch empfinde ich solche Aussprüche und Handlungen als bedenklich.
Das Buch entstand, wie anfangs gesagt, in der Mitte des letzten Jahrhunderts und propagiert deshalb das damalig als „normal“ geltende patriarchale Klassensystem. Im Detail bedeutet das: Die älteste (männliche) Person der jeweiligen Gruppenkonstellation – so die propagierte Vorstellung – handelt am vernünftigsten und darf daher immer die letzte Entscheidung fällen. Jener spricht auch ein Machtwort, wenn verschiedene, andersartige Meinungen aufeinandertreffen. Besonders der strenge und von allen Kindern etwas gefürchtete Onkel Quentin ist das Paradebeispiel dafür: Während seine als liebevoll und fürsorglich geschilderte Hausfrau Fanny den Kindern das Essen kocht, ruht er sich von seiner harten Arbeit als Wissenschaftler bei einem Nickerchen aus. Widerworte oder das bloße Aussprechen von anderen Ansichten sind unerwünscht. Da Quentin als Hauptverdienender die Verantwortung über die Familie trägt, ist es allen selbstverständlich, leise zu spielen oder zu reden, weil er seine Ruhepause benötigt. Fanny lässt sich von ihrem Mann alles sagen und oder gefallen. Sie wird als ideale Ehefrau dargestellt, die demütig hinter den Entscheidungen ihres Mannes steht. Im ersten Band dreht sich viel um die sogenannte Felseninsel – eine kleine Insel vor der Küste. Eigentlich vererbt an Tante Fanny wird ihr Eigentum jedoch von Onkel Quentin verwaltet, der wenig auf die Entdeckung der Kinder hört, dass sich dort ein Schatz befände… Beim Vorlesen der Geschichte würde ich heute klarstellen, dass eine Mutter beziehungsweise ein Kind dem Vater beziehungsweise der erzieherischen Person nie absoluten Gehorsam zollen muss.
Des Weiteren bemerkt man in den Originalbänden auch deutliche Klassenunterschiede – während die drei Kinder aus gehobener, gut verdienender Schicht auf einem Internat die beste Erziehung bekommen, wird George als Kind eines wenig verdienenden Geisteswissenschaftlers etwas unerzogen und frech dargestellt – sie besucht ja auch „nur“ die örtliche Schule… Der Fischerjunge und andere gering verdienende Personen werden mitleidig betrachtet. Das sind natürlich allesamt Standpunkte und (Rollen-)Vorstellungen, die wir heute so nicht mehr unterstützen würden.
Erfreulich empfand ich jedoch, dass neben diesen stark kontroversen, altbackenen Moralvorstellungen unerwarteterweise auch heute noch brandaktuelle Themen verhandelt werden: Unter anderem wird der Umgang zu Kindern – einerseits wie sich Kinder diesen vorstellen und wie er praktiziert wird, andererseits wie Eltern auf Kinder eingehen sollten – sehr gut veranschaulicht. Beispielsweise entsteht zwischen den fünf Freunden und den Eltern Georges ein großer Streit um besagte Insel: Fanny hatte diese nämlich kurz zuvor George geschenkt. Als Quentin die Insel nun ohne ihr Einverständnis verkaufen möchte, bemängelt sie, dass sie die Insel nur bekam, weil sie zum damaligen Zeitpunkt wertlos war. Jetzt aber, wo ihr Wert massiv gestiegen ist und sie gut verkauft werden kann, wird sie als zu wertvoll für ein Kind erachtet:
„So you only gave me the island when you thought it wasn’t worth anything“, said George, her face white and angry. „As soon as it is worth some money you take it away again. I think that’s horrid. It – it isn’t honourable.„
Enid Blyton: Five on a Treasure Island (London 1942), S. 102.
Um noch ein zweites Beispiel anzubringen: Der Hauptknackpunkt der Besonderheit der fünf Freunde liegt in der Diversität, die sie verkörpern. Da wäre der Spaßvogel Dick, der wortgewandte, ernste Julian, die taffe George und die sensible Anne. Obgleich ich in den oberen Zeilen über die abgebildete Rollenverteilung genörgelt habe, muss ich bezüglich der Kinder eine kleine Ausnahme ansprechen. Zwar entsprechen alle im Kern den stereotypen Vorstellungen von Mädchen und Jungen, nichtsdestotrotz bildet Blyton hier sehr unterschiedliche Persönlichkeiten mit vielen Facetten ab, die ab und an sogar explizit von den normativen Vorstellungen abweichen: etwa, wenn Anne, wesentlich mutiger als die Jungen, zuerst Probleme anspricht.
Heutige wichtige, grundsätzliche Fragestellungen wie der nach Geschlechteridentität und der Frage nach Rollenzuweisungen werden zudem ganz plakativ durch die Rolle Georges angesprochen. Der Witz? Trotz der offensichtlichen, im Buch propagierten konservativen Vorstellungen bleibt George die gesamte Reihe der Fünf Freunde hinweg eine nicht-einordbare Person, die jedoch im Laufe immer mehr Akzeptanz in ihrer Umgebung findet. Ob Enid Blyton George im Vergleich zur engelsgleichen Anne als Negativbeispiel hat stehen lassen wollen oder doch subtil durchblicken lassen wollte, dass Mädchen ein divers zu verstehender Begriff ist, bleibt unklar.
Blyton selbst tätigte die Äußerung, sie nehme keine Kritik von Menschen ab zwölf an, da sich ihre Bücher rein an ein junges Publikum richten – dass verdeutlicht meines Erachtens auch ihre Intention, den jungen Leser*innen nicht nur Lesevergnügen, sondern auch in Teilen Lehren an die Hand zu geben. Viele vermeintlich als „leichte Lektüre“ abgestempelte, ältere Kinderbuchklassiker sollten heute als das, was sie sind, behandelt und Kindern erklärt werden: als Zeugen ihrer Zeit. Dass Bücher ihre Entstehungszeit wiederspiegeln, ist nichts Neues. Es wird jedoch oft nicht explizit wahrgenommen, obgleich dies gerade im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur von hoher Bedeutung ist. In jungem Alter kann man bestimmte sozialhistorische Umstände und heutzutage veraltete Moralvorstellungen aus Mangel an Wissen gar nicht einordnen. Umso wichtiger erscheint mir, dass man bei älteren, literarischen Jugendbuchwerken heutzutage klarer kommuniziert, dass es sich um schöne Geschichten handelt, die aber eben in Teilen auch sehr kritisch verstanden werden müssen.
Fazit: Heute ebenso lesenswert wie damals!
Wir alle kennen das: Manche Bücher fesseln uns. Nein, ich korrigiere: Sie knebeln uns regelrecht. Sie verursachen eine schlaflose Nacht, weil man sich sprichwörtlich nicht vom Buch losreißen kann. Die Geschichten um die Fünf Freunde zählen meines Erachtens nicht zu diesen Büchern. Sie umhüllen einen dagegen an kalten Tagen wie eine warme Decke und schaffen eine gemütliche Atmosphäre. Es geht neben den Abenteuern und spannenden Entdeckungen vor allem um bis heute wichtige Tugenden: Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit und den Mut, für die Anderen einzustehen.
Die Reihe ist ein nostalgisches Relikt aus Kindertagen, an das ich gerne (zurück)denke. Sie bleibt für mich der Prototyp eines guten Kinderbuches, trotz ihrer Inkompatibilität mit manchen heutigen Vorstellungen von Geschlechterrollen: Die Bücher versprechen für Kinder durchaus spannende Stunden und unterhalten auch einen Erwachsenen gut – sie sollten jedoch mit einer anderen Brille betrachtet und kindgerecht historisch eingeordnet werden. Ein friedvolles Ende auf das man beziehungsweise frau an düsteren Tagen hofft, ist schließlich immer abzusehen.
Damit wünsche ich einen frohen Start in die Weihnachtszeit und in ein neues Jahr voller Abenteuer(-bücher) und bediene mich Enid Blytons weisem Lebenszitat: „Der beste Weg, Hindernisse zu überwinden, ist, sie als Trittsteine zu verwenden. Lache über sie, betrete sie und lass dich zu etwas Besserem führen.“
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Sandra Hein
Liebt und lebt ihr Studium der Kunstgeschichte und Klassischen Archäologie samt all seinen Klischees. Dazu gehört selbstverständlich Frida Kahlo und Vincent van Gogh als seine besten Freunde zu betrachten und sich in Pompeji ohne Stadtplan problemlos zurechtzufinden ;) Als kleiner Bücherdrache ernährt sie sich hauptsächlich von Abenteuern aus den Jules-Verne-Romanen oder alten schwarz-Weiß-Krimis und möchte als neue olympischen Sportart einen Besuchs-Marathon durch alle europäischen Museen vorschlagen. Sollte der Traumjob Kuratorin nicht in Erfüllung gehen, sieht sie sich als Geist in einem schottischen Castle. Freund*innen munkeln, dass sie wahrscheinlich mehr schwarzen Ostfriesentee als Blut im Körper besitzt…
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